Platons staatstheoretisch wichtigstes Werk ist der Dialog über den Staat, die „Politeia“. Einige griechische Handschriften des Textes des Platonischen „Staates“ geben als Untertitel „oder über das Gerechte“ (êperi tou dikaiou) an. Er reflektiert Platons Verzweiflung an der attischen Demokratie und am ungerechten Todesurteil, welches das Volksgericht über Sokrates gefällt hatte. Leitmotiv des Dialogs ist die Parallelität von Seele und Polis, denn für beide ist Gerechtigkeit ein maßbestimmtes Proportionenverhältnis, das zu gutem Leben und Glück verhilft. Das ideale Gemeinwesen hat den Zweck, die Idee des Guten zu realisieren und die Bürger dazu zu erziehen. Die Polis ist der Raum, in dem ethisches Leben möglich wird. So wie im Kosmos und in der Seele soll auch im Idealstaat eine harmonische Ganzheit verwirklicht werden. Zwischen dem Individuum und dem Staat besteht eine Strukturanalogie. Die Gerechtigkeit als geordnetes Selbstverhältnis in der Seele des Einzelnen hat seine Entsprechung im geordneten Selbstverhältnis der Polis. Alle Bürger und Stände sorgen für ihr Wohl, indem sie sich in das Ganze harmonisch einfügen und ihm dienen.
Platon ist ein Gegner der Volksherrschaft. Die Grundfehler der Demokratie liegen für ihn in einem Übermaß an individueller Freiheit zu Lasten des Gemeinwesens und in der politischen Teilhabe unvernünftiger, eigennütziger Personen. Seine Staatstheorie verrät deutlich Züge eines bevormundenden Geistes, der das Individuum zu einem Glück zwingen will, dessen Sinn ihm verborgen ist und wohl auch verborgen bleiben wird (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 198). Gegenstand seiner Staatstheorie ist die konsensuale Grundordnung eines Stadtstaats (polis). Dabei spricht sich Platon zumindest teilweise, nämlich beim Stand der Wächter, für die Aufhebung der Privatsphäre, die Auflösung der Familie und die Abschaffung des Privateigentums aus. Seine Befürwortung der Euthanasie, die noble Lüge als legitimes Mittel der Politik (Platon, Politeia 389b) sowie die Lebensweise des Wächterstands wirken autokratisch, ebenso das generelle Verbot der überlieferten Dichtung und das Verbot der verweichlichenden oder enthemmenden Musik. Platon meint, jede Änderung der Musik bringe eine Änderung des ganzen Staatswesens mit sich (Platon, Politeia 424c). Er gehört zu den Vordenkern einer biologistischen Eugenik. Er plädiert ausdrücklich dafür, bestimmte wünschenswerte Eigenschaften von Menschen durch gezielte Kombination elterlicher Merkmale zu züchten (Platon, Politeia 458c-461e). Die Staatstheorie Platons ist deshalb im 20. Jahrhundert massiv kritisiert worden (vgl. Christoph Horn: Politische Philosophie, in: ders., J. Müller, J. Söder (Hrsg.), Platon-Handbuch, 2009, S. 178 f).
Gerechtigkeit als Strukturprinzip
Gerechtigkeit soll das Strukturprinzip des Gemeinwesens sein. Gerechtigkeit steht für die harmonische Ordnung der Arbeitsteilung selbst, die Unterordnung und Einordnung in das Ganze. Jeder tut das Seine und mischt sich nicht in den Zuständigkeitsbereich der anderen ein. Gott ist das Maß aller Dinge. Die Trias des Wahren, Guten und Schönen zeichnet das Göttliche aus. Diesem Gott des Maßes sollen sich die Menschen angleichen, indem sie die Affekte der Seele kontrollieren und die Seelenteile harmonisieren. Wenn analog dazu jeder das Seine tut, bildet das Ganze des Staates eine Einheit, meidet Vielheit und ist gerecht (Michael Erler: Platon, 2007, S. 438). Der Begriff „Gerechtigkeit“ hat bei Platon einen weiten Umfang und entspricht teilweise dem Begriff „Sittlichkeit“. Gerechtigkeit ist eine eigene Angelegenheit, ein innerer Zustand sowohl des Staats als auch des Einzelnen. Sie beruht auf Ausgleich, innerer Harmonie und richtiger Proportionenbestimmung. Als Idee ist die Gerechtigkeit ein Prinzip überweltlicher, kosmisch umgesetzter Bestverhältnisse (vgl. Christian Schäfer: Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 134). Die Konsequenzen, die durch Gerechtigkeit herbeigeführt werden, betreffen etwas, was für den Handelnden selbst gut ist. Eine gerechte Seelenverfassung lohnt sich, weil sie dem Einzelnen zur Eudaimonie und zu einem guten Leben verhilft. Gerecht zu handeln und glücklich zu leben ist letzlich eins. Gerechtigkeit versetzt den Einzelnen und die Polis in die Lage, das Gute zu verwirklichen.
Die Idee der Gerechtigkeit manifestiert sich für Plato als Struktur, und zwar handelt es sich bei dieser Struktur um das Modell einer hierarchischen Beziehung zwischen den drei übrigen Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung. Auf raum-zeitliche Verhältnisse übertragen, heißt dies soviel, wie dass von Gerechtigkeit als Tugend des Staates in Platos Augen genau dann die Rede sein kann, wenn die durch die Tugend der Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit bzw. Mäßigung je spezifisch definierten Stände eine harmonische, und das heißt: im Sinne der natürlichen Unter- bzw. Überordnung charakterisierte Beziehung zueinander aufweisen. Dies wiederum setzt voraus, dass jedes Individuum dem seiner natürlichen Veranlagung entsprechenden Stand zugeordnet ist und seinerseits eine „gerechte Seelenverfassung“ aufweist. Eine in diesem Sinne harmonische Seelenverfassung liegt genau dann vor, wenn die Seelenteile, die ja als Träger der Tugenden Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung vorgestellt werden, ihrerseits im Verhältnis der natürlichen Unter- bzw. Überordnung zueinander stehen (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 186).
Die demokratische arithmetische Gleichheit behandelt Ungleiche gleich, was nicht der Gerechtigkeit entspricht und der Verständigung letztlich abträglich ist. Gerechtigkeit bedeutet im Gemeinwesen für den Einzelnen „das Seinige zu tun“ (Platon, Politeia 433a). Dies setzt voraus, dass man weiß, wozu man nach seinem wahren Wesen am besten geeignet ist. Das Individuum soll die ihm zukommende Aufgabe erfüllen und sich nicht verzetteln (Prinzip der Arbeitsteilung und Spezialisierung). Jeder Mensch muss auf irgendeine Art teilhaben an der Idee der Gerechtigkeit, oder er soll gar nicht unter Menschen leben (Platon, Protagoras 323c). Platon tritt für eine relative Gleichstellung von Mann und Frau ein, der allgemeine Militärdienst und die Teilhabe an der Staatsmacht sollen auch für Frauen gelten. Es gilt der Grundsatz der Arbeitsteilung, weil niemand sich selbst genügen kann.
Proportion begründet Seiendheit
Die Ungerechtigkeit lockert den inneren Zusammenhalt (Kohäsion) und löst zentrifugale Bewegungen aus. Sie setzt den Staat oder den einzelnen Menschen zu sich selbst in Widerspruch und beschädigt damit seine Einheit und Ordnung als harmonisch gegliedertes und gefügtes Gebilde. Die Unordnung bricht ein, weil es an Gleichmaß, Fügung und Einheit mangelt. Die einzelnen Teile passen nicht mehr zueinander und fügen sich nicht mehr ineinander. Verirrung und Aufruhr führen zu einem Aufstand der einzelnen Teile gegen das Ganze. Die Harmonie wird zerstört, wenn ein Teil des Ganzen die Proportion sprengt und seitwärts ausbricht. Damit wird die natürliche Entfaltung der Kräfte gehemmt. Der Mensch wird zum Handeln untüchtig gemacht, wenn er sich selbst entfremdet durch Unordnung, Maßlosigkeit der Begierden und des Trieblebens, Hedonismus und Ungerechtigkeit. Umgekehrt fördert die Gerechtigkeit die Gemeinschaft zwischen Menschen sowie die Betätigung ihrer naturgegebenen Talente. Sie ist die ausgeglichene Proportion der ganzen Ordnung und deshalb beim einzelnen Menschen die Freundschaft zu sich selbst: Im geordneten Seelengefüge wird das Logistikon gestärkt, es kann für die Balance mit den mutartigen und den begehrenden Seelenanteilen sorgen. Die Proportion überwindet den Gegensatz von Vielheit und Einheit. Die Proportion jedes zusammengesetzten Gebildes ist auf das mittlere Maß und die mittlere Lage aller seiner Elemente zurückgeführt (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 224). Die Gerechtigkeit des Einzelnen ist das Fundament der ganzen Staatsordnung. Gerechtigkeit sorgt durch Richtigkeit, Sachgerechtigkeit, Ordnung und Proportion für die Einheit in der Vielheit, die Einigkeit der Glieder, die Eintracht, die innere Übereinstimmung mit sich selbst und den Zusammenhalt (Platon, Politeia 351b -352c; Krämer, a.a.O., S. 52 - 53). Jeder einzelne Teil tut das ihm Zukommende im Ganzen, weil Gerechtigkeit die Ordnung und Proportion einer Vielheit von Teilen und damit Einheit in der Vielheit gewährleistet. Dadurch erhebt sich der einzelne Mensch oder der Staat zu einer höheren Leistungsfähigkeit, sein Wesen kann sich erfüllen. Was in sich selbst widersprüchlich und uneins ist, verliert dagegen seine Leistungsfähigkeit. „Die Seiendheit des Zusammengesetzten liegt in der Proportion seiner Teile, die, wenn sie aufeinander abgestimmt sind, das Ding erst zu einem Ganzen machen. Je besser das Ding gefügt ist, desto mehr ist es es selbst; desto mehr hat es aber dann an der Seiendheit (ousia) teil und ist in eigentlichem Sinne wirklich“ (Krämer, a.a.O., S. 76).
Der gerechte Ständestaat
Platons utopischer Staat ist in Stände gegliedert, die den drei Seelenteilen entsprechen. Die Seelen der Bürger sind von Natur aus mit Gold, Silber oder Eisen ausgestattet, was ihre jeweilige Stellung im dreischichtigen Ständestaat begründet. Dem begehrenden Seelenteil (epithymetikon) entspricht die untere Klasse der Bauern, Handwerker und Kaufleute, dem mutartigen, tatkräftigen Seelenteil (thymoeides) entspricht die Klasse der Wächter (phylakes), und dem vernünftig-lenkenden Seelenteil (logistikon) die Klasse der regierenden Wächter (archontes, Philosophenherrscher, vgl. Platon, Politeia 414d). Als Tugenden werden dem Handwerker- und Bauernstand Maßhalten und Besonnenheit, dem Stand der Wächter Mut und Tapferkeit und dem der Philosophenherrscher Weisheit zugeordnet. Ein einzelner Mensch ist dann gerecht, wenn seine Seelenteile (das Begehrende, das Mutartige und das vernünftig Denkende) im Gleichgewicht und in Harmonie zueinander stehen.
Gerechtigkeit in der Gemeinschaft besteht darin, dass jeder Bürger in Bezug auf den Staat einzig und allein das tut, wozu er seinem Wesen nach am geeignetsten ist. Jeder Bürger soll zu der Aufgabe verwendet werden, zu der er von Natur aus taugt. Dieser Grundsatz der Spezialisierung beruht bei Platon nicht auf der Autonomie des Einzelnen. Dem Individuum steht es nicht frei, neigungsgemäß seine eigene natürliche Begabung zu entfalten oder dies zu unterlassen. Platon weist jedem Bürger eine feste soziale Rolle zu (Christoph Horn, a.a.O., S. 171).
Noch geringer als dies, versetzte ich, ist das Folgende, dessen wir schon im Früheren gedacht haben, indem wir sagten, dass, wenn ein Sohn der Wächter schlecht gerate, man ihn unter die andern versetzen müsse, und ebenso wenn einer der übrigen tüchtig, diesen unter die Wächter. Dies wollte andeuten, dass man auch die übrigen Bürger jeden zu dem Geschäfte, zu dem er geschaffen ist, verwenden müsse, damit jeder, wenn er das eine treibt, was sein ist, nicht zu vielen, sondern einer werde und so das gesamte Gemeinwesen eines sei, aber nicht viele. (Platon, Politeia IV, 423 c-d).
Dieser organische Staatsbegriff wirkt auf den ersten Blick plausibel, aber er verkennt die Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen, der nicht als unmündiger Teil eines ganzheitlichen Staatsorganismus betrachtet werden darf. Die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen wird durch eine staatlich verordnete Rollenzuweisung in ein Zwangskorsett gesteckt und damit gehemmt. „Platon scheint aber bereit zu sein, das Glück eines Gemeinwesens als eine selbständige Größe anzusehen, so als wäre der Staat ein Individuum eigener Art. [...] Eine solche Konzeption liegt immer dann nahe, wenn man das Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern mit dem des Organismus zu seinen Organen und Zellen vergleicht, wie Platon es auch tut (cf. 462c7-d7). Dieser Vergleich ist in manchem berechtigt: Der Einzelne ist ja in seiner Existenz und Lebensweise von der Gesellschaft, in der er lebt, abhängig und geprägt. Der Vergleich ist aber wieder nur in Grenzen anwendbar: Die Grenzen werden sichtbar, wenn man sich klar macht, daß Organe und Zellen keine eigenen Wünsche, Wertvorstellungen und Interessen haben, daß sie nicht wie Individuen frei und verantwortlich handeln können, und daß der Staat seinerseits keinen Willen hat, der nicht die Funktion des Willens wenigstens einiger der Individuen ist, die ihm angehören“ (Günther Patzig: Platons politische Ethik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 3, Aufsätze zur antiken Philosophie, 1996, S. 41 f.).
Philosophenherrschaft
Der Philosophenherrscher wirkt auf eine höhere, göttliche Ordnung hin. Aufgrund der Erkenntnis der höchsten und maßgebenden Norm, nämlich des Guten an sich, ist er dazu in der Lage, die einander widerstrebenden Kräfte der Seele richtig zu verbinden und auszugleichen. Der echte Politiker bindet das Tapfere und das Besonnene in der Polis zusammen durch ein göttliches Band, damit ist das Gute selbst als das Eine oder das allerexakteste Maß gemeint (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 220). Es entsteht eine wohlgefügte Ordnung (kosmos), die sich an der Geometrie orientiert. Das wahrhaft Angemessene ist die richtige Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig (Platon, Politikos 283b ff.; Gaiser, a.a.O., S. 218, 220). Neid, Hass und Eifersucht führen dazu, dass die Welt schlechter wird. Staat und Gesellschaft sind schon stark verdorben. Alles wendet sich zum Schlechten (kakia), wenn der maßlos begehrende Teil der Seele von sich aus über das Ganze verfügt. Die meisten Menschen leben einfältig, dumm und unverständig in den Tag wie Schweine. Die zur Philosophie dank guter Geistesgaben Befähigten werden durch die Umwelt abgehalten und verdorben. Nur wenige kommen noch zu der Einsicht, dass die Idee des Guten der Grund aller Ordnung ist. Es wäre sinnlos, sich allein und ohne Verbündete der allgemeinen Schlechtigkeit zu widersetzen (Platon, Politeia VI 496c-e; Gaiser, a.a.O., S. 249).
Der Heranbildung einer regierenden Philosophenaristokratie gilt deshalb Platons besonderes Interesse. Weil vor der Geburt den Menschen unterschiedliche Fähigkeiten zugeteilt wurden, soll durch ein Aussiebungsverfahren im Bildungsprozess eine Einteilung in die drei Stände vorbereitet werden. Ein Stand ist nicht erblich, sondern wird durch persönliche Leistung im Bildungsprozess erreicht. Deshalb wird das neugeborene Kind den Eltern weggenommen und unter völliger Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen von Erziehern herangezogen. Dadurch soll eine große Gemeinschaft entstehen, da ein Kind sehr viele Mütter und Väter und Geschwister hat. Nichttaugliche Säuglinge, die aus unerlaubten Beziehungen hervorgehen, werden nach dem Vorbild Spartas umgebracht. Besonderen Wert legt Platon auf körperliche Ertüchtigung und musische Ausbildung, welche zur symmetria von Körper und Seele führen. Symmetria bei einem Menschen ist das ausgeglichene Verhältnis von Körper und Seele. Sowohl für die Schönheit als auch für die Gesundheit ist sie entscheidend. Dafür notwendig ist eine gleichgewichtete Sorge für den Leib und die Seele durch eine ausgeglichene körperliche und geistige Betätigung (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 305). Die Seele muss die richtige schöne Stimmung haben, um Gutes zu leisten (kalokagathia). Wer abhängig von seiner Leistungsfähigkeit frühzeitig aus dem Bildungssystem ausscheidet, wird Bauer, Handwerker oder Kaufmann. Für diesen Stand der Erwerbstätigen bleiben Privateigentum und Familie bestehen (Nährstand).
Die Begabten können zu den oberen Klassen aufsteigen. Wer weitergebildet wird, kann „Wächter“ werden und dient damit als Krieger der Landesverteidigung oder hilft im Inneren, die Gesetze zu vollziehen (Militär, Polizei, Verwaltung). Als Freunde sollen die Wächter eine Besitzgemeinschaft bilden, die sich auch auf Frauen und Kinder erstreckt (Platon, Politeia 449a ff.). Eigentum besitzt nach Platon stets eine anti-soziale und individualisierende Tendenz. Es dient daher dem charakterlichen Wohl des Individuums, Eigentum grundsätzlich zu vermeiden und das wirtschaftliche Auskommen durch eine gemeinschaftsbasierte Versorgung sicherzustellen. Man kann also nicht behaupten, dass es sich bei der gegen Eigentum gerichteten Maßnahme nur um eine effizienzorientierte Strategie zu Lasten der Wächter handelt (Christoph Horn, a.a.O., S. 179). Wie die materielle Besitzgemeinschaft ist auch die Frauen- und Kindergemeinschaft ein Mittel zur Herstellung und Stabilisierung der vollkommenen Einheit der Polis.
Nur die Tüchtigsten der Wächter steigen zur Klasse der Herrschenden auf, die meisten bleiben Gehilfen oder Wehrmänner (Wehrstand). Zur Regierung des Staates gelangen die Besten, nachdem sie in Musik und Gymnastik, dann in der Mathematik und anderen Wissenschaften, endlich in der Dialektik unterwiesen worden sind und verschiedene Ämter bekleidet haben. Platon fordert von den Herrschenden die Liebe zur Weisheit (Lehrstand, geistiges Arbeiten). Erst nach fast lebenslangem Üben der Philosophie kann ab dem Alter von 50 Jahren das höchste Staatsamt übernommen werden.
Solange in den Staaten nicht entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen werden, solange nicht die Macht im Staate und die Philosophie verschmolzen sind, solange nicht den derzeitigen Charakteren, die sich meist einem von beiden ausschließlich zuwenden, der Zugang mit Gewalt verschlossen wird, solange gibt es, mein lieber Glaukon, keine Erlösung vom Übel für die Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit, noch auch wird diese Verfassung, wie wir sie eben dargestellt haben, vorher zur Möglichkeit werden und das Sonnenlicht erblicken. (Platon, Politeia V, 473c-e)
Nach dem platonischen Staatsideal sollen also die Weisen die Herrschenden sein, da sie am Wahren orientiert sind. Der weise Staatsmann findet die Mitte zwischen den Extremen, das rechte Maß, das zur staatlichen Einheit notwendige harmonische Proportionengefüge, den bestmöglichen Ausgleich aller Einzelelemente zum Vorteil aller. Er sorgt für eine Ordnung des Staats, die sich an seiner Funktionstauglichkeit zur Herstellung und Ausbalancierung des Gemeinwohls orientiert. Es ist gerade das Wissen um das Gute, das die Philosophenherrscher zur Ausübung der Staatsgewalt befähigt. „Erwägt man, dass die Weisheit dieser Weisen in der Schau der ‚Idee des Guten‘ verankert ist und von ihr her ein innerlich apriorisches Erkennen dessen gewährleisten soll, was im Staate ‚gerecht‘ ist, so kann man nicht zweifeln, dass es sich um eine Form höherer Erleuchtung handelt, die den Einzelnen über sich hinaus auf die Höhe des objektiv Erforderlichen heben soll. Deutlich ist also unter dem Weisewerden das sachlich-inhaltliche Heranwachsen des menschlichen Bewusstseins an seine ideale Aufgabe im Staate verstanden“ (Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl. 1962, S. 331).
Die Webkunst
Der Philosophenherrscher ist der gute Hirte der Menschen, er orientiert sich an dem absoluten Maß des Guten. Er eignet sich ein göttliches Ideenwissen an und überführt das Chaos in die Ordnung. Die Aufgabe der wahren Staatskunst besteht im Zusammenweben grundlegender Antinomien im menschlichen Wesen. Zum Beispiel beruhen Mut und Besonnenheit offenbar auf gegensätzlicher Natur, verursachen Unterschiede bei den Menschen und führen Staaten entweder zu Aggressivität oder allzu großer Nachgiebigkeit. In beiden Fällen droht der Untergang. Aufgabe des wahren Staatsmannes ist es, als Erzieher die Gegensätze der Menschen zusammenzuweben. Die politische Kunst ist Webkunst. So wie die Webkunst aus Einschlag und Faden, die gegensätzliche Eigenschaften haben, ein einheitliches Gewebe hervorbringt, so soll die politische Kunst draufgängerische und ruhige Naturen in der Gesellschaft verbinden (Erler, a.a.O., S. 247; Szlezák, a.a.O., S. 386).
Denn die besonders Sanften sind immer darauf bedacht, ein stilles Leben zu führen, indem sie ganz für sich nur ihre eigenen Angelegenheiten besorgen, und sowohl zu Hause mit allen auf diese Art umgehen, als auch mit anderen Staaten gleichermaßen bemüht sind, immer auf irgendeine Art Frieden zu halten. Und vermöge dieser Neigung, wenn sie unzeitiger ist als sie sollte, werden sie, wenn sie nach ihrem Willen handeln können, unbemerkt selbst unkriegerisch, wie sie auch die Jünglinge gleichfalls zu solchen machen, und fallen daher jedem Angreifenden anheim, wodurch sie dann in wenig Jahren mit ihren Kindern und dem gesamten Staate oft aus Freien unvermerkt Knechte geworden sind. […] Die mehr zur Tapferkeit sich neigenden reizen […] ihren Staat immer wieder zu irgendeinem Kriege an wegen ihrer […] heftigen Begierde nach einem solchen Leben, und verwickeln ihn dadurch mit vielen und Mächtigen in Feindseligkeiten, ja bringen wohl gar ihr Vaterland ins Verderben und in die Knechtschaft und Gewalt seiner Feinde. […] [Das Zusammenweben erfolgt] zuerst, indem sie, wie es der Verwandtschaft gemäß ist, den unsterblichen Teil ihrer Seele durch ein göttliches Band vereinigt, und nach dem göttlichen auch den sterblichen Teil durch menschliche Bande. […] Die wahrhaft wahre Vorstellung von dem Gerechten, Schönen und Guten und dessen Gegenteil, wenn sie wohlbegründet der Seele innewohnt, nenne ich eben das Göttliche in einem dämonischen Geschlecht. Und von dem Staatskundigen und guten Gesetzgeber wissen wir, dass es ihm allein gebührt, mit Hilfe der Muse der Herrscherkunst eben dies denen durch Bildung mitzugeben, welche einer richtigen Erziehung teilhaftig geworden sind […] Wenn eine tapfere Seele von solcher Wahrheit durchdrungen ist, wird sie dann nicht gezähmt und begehrt besonders mit der Gerechtigkeit Gemeinschaft zu haben? […] Und wiederum die sittsame Natur, wenn sie jener Vorstellungen sich bemächtigt, wird sie dann nicht das wahrhaft Besonnene und Sittliche, wie es im Staate sein soll, werden? […] [Das Zusammenweben erfolgt weiter im menschlichen Band] durch die Ehegesetze und Verbindungen der Kinder und auch einzeln durch die Verheiratungen und Ausstattungen. Denn die meisten gehen hierbei nicht die richtigen Verbindungen ein für die Kindererzeugung. (Platon, Politikos 307e-310b)
Der wahre Staatsmann ist demnach darum bemüht, dass der Staat eine Einheit wird, indem er gegensätzliche Komponenten zusammenwebt.
Die Messkunst
Zur Herrscherkunst gehört auch die Messkunst, das Gute selbst ist das Maß. Es ist ein wesentlicher Aspekt der Funktion des Guten, das Maß zu sein. Das Gute ist der letzte Bezugspunkt aller Bestheit (arete). Die Tugend ist die positive Mitte zwischen zwei fehlerhaften Extremen (Szlezák, a.a.O., S. 361 f.). Gott ist das Maß aller Dinge, er ist mit dem Einen selbst oder der Idee des Guten identisch. Die Idee des Guten ist das Prinzip und genaueste Maß von allem. In allen Dingen ist das Vollkommene das Maß. Die Idee des Guten ist als das Vollendete zugleich „das Genaue selbst“. Alles Werdende unterliegt dieser Messkunst (metretike). Die nur relative Messkunst misst das Größere und Kleinere, allgemein das Übertreffen und Zurückbleiben nur im Verhältnis zueinander. Nötig ist demgegenüber eine absolute Messkunst, die Maß nimmt „am Genauen selbst“ im Verhältnis zum Angemessenen, Geziemenden, Passenden und Gesollten (Platon, Politeia 284e) und zu allem, was in der Mitte zwischen den Extremen angesiedelt ist. Arete ist die Mitte zwischen gegensätzlichen Formen des Verfehlten. Arete hat ihr Sein und ihren Wert vom Guten (Platon, Politeia 506a, 517c; Szlezák, a.a.O., S. 604).
Es geht um das Verhältnis von größer und kleiner und den Bezug zum Angemessenen. Ein Teil der quantitativen Messkunst befasst sich mit relativen Größen, dem Verhältnis zueinander; ein anderer Teil behandelt die (axiologische) Messkunst mit Bezug auf das richtige Maß. [Axiologie ist die philosophische Wertlehre; Axiom ist der als absolut richtig erkannte Grundsatz, die gültige Wahrheit, die keines Beweises bedarf.] Letzteres ist wesentlich für die Existenz anderer Künste und auch für das richtige Handeln. Von ihm hängt die Beurteilung des Angemessenen, des rechten Augenblicks und des Gebührenden ab. Zwei Arten des Messens ergeben sich: Eine betrifft nur Relativa (Bereich des relationalen Nichtseins), eine andere misst mit Bezug auf das rechte Maß, die rechte Zeit (kairos), das Angemessene und ist auch von Bedeutung für die Untersuchung des Genauen selbst. […] Die Existenz von Relativa ist an die Existenz eines absoluten Maßes gebunden. (Erler, a.a.O., S. 251)
Wie wahrscheinlich ist das Auftreten eines solchen Philosophenherrschers, der sich am rechten Maß orientiert? Platon geht so weit zu sagen, dass ein so regierter Staat gegenüber anderen Verfassungsformen „wie ein Gott unter den Menschen“ hervorragt (Platon, Politikos 303b). Das Beste sind nicht die Gesetze, sondern die Herrschaft des mit Vernunft regierenden königlichen Mannes. Herrscht aber kein wissender König, so muss man strikt dem geschriebenen Gesetz als zweitbesten Weg folgen (Platon, Politikos 294a, 300c). Strikte Gesetzesherrschaft ist als zweitbeste Lösung vorzuziehen, wenn kein mit perfektem Wissen ausgestatteter Regent verfügbar ist.
Verfallsformen des Staats
Als Abweichungen von der Philosophenherrschaft im gerechten Ständestaat beschreibt Platon Verfallsformen. Die für den Idealstaat vorgesehene Qualitätssicherung durch Eugenik versagt. Dadurch nimmt die Zahl schlechter Nachkommen zu, denen die Voraussetzungen fehlen, um ihre Aufgaben im Staat funktionstüchtig und gerecht auszuüben. Die ethischen Grundsätze des gerechten Staats werden nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben, diese gelangt unter schlechten Einfluss. Die animalischen Triebe und schlechten Begierden gewinnen die Oberhand. Unordnung und Zwietracht führen dazu, dass „die Herrschaft von oben nach unten weitergereicht wird, sich auf immer tiefere soziale Schichten, immer vernunftfernere Interessenlagen und immer defizientere Tugendverfassungen stützen muß und sich damit immer weiter von dem Prinzip des naturbegründeten Spezialistentums entfernt“ (Wolfgang Kersting: Platons Staat, 2. Aufl. 2006, S. 268). Der Staat wird nicht mehr durch die Vernunft beherrscht und durch die Einsicht in das Gemeinwohl gelenkt. Die vier typischen Verfallsformen sind
die Timokratie, in der das Militär herrscht (Sieg der Macht über die Vernunft, Ehrgeiz, Ruhmsucht, Streitlust, Imperialismus,Thymoeides),
die Oligarchie, in der die Reichen regieren (Sieg der Begierde über die Vernunft, Geldgier, Besitzmehrung, Pleonexie, unredliche Bereicherung, Entkoppelung von Geld und Arbeit, Epithymetikon),
die Demokratie, die das Volk an die Macht bringt (Dauerkonflikte privater Einzelinteressen, schrankenlose und fragmentierende Freiheit, Egalitarismus, Individualismus, Beliebigkeit, ungenügende Ordnungsstrukturen, keine Rationalität sowie Verzicht auf Vernunftherrschaft) und
die Tyrannis, in der die Willkür eines einzelnen Despoten wütet (Terror, Lasterhaftigkeit, Greueltaten).
Was nun die Beschaffenheit des Lebens eines solchen Menschen [in der Demokratie] anlangt, so lebt, denke ich, hierauf ein solcher dergestalt, daß er Geld, Mühe und Zeit ebenso auf notwendige wie auf nicht notwendige Vergnügen verwendet. Wenn er glücklich ist und sich noch nicht völlig dem bacchischen Taumel überläßt, sondern wenn er etwas in die Jahre kommt und das große innere Durcheinander sich etwas beruhigt hat, nimmt er die früher vertriebenen Lüste zum Teil wieder auf und gibt sich den heimkehrenden doch nicht ganz hin. So bringt er seine Lüste in ein gewisses Gleichgewicht. Wenn eine Begierde aufkeimt, als ob sie das Los dazu gezogen hätte, händigt er ihr die Herrschaft über sich aus, bis sie gestillt ist, und dann wiederum einer anderen, indem er keine hintansetzt, sondern alle Begierden gleichmäßig pflegt. […] Und einer vernünftigen Ermahnung leiht er bei solchem Leben kein Ohr und schenkt ihr keine Beachtung, wenn ihn jemand etwa belehren wollte: „einige Lüste rühren von heilsamen und guten Begierden her, andere von schlechten, die einen müsse man pflegen und hochhalten, die anderen müsse man in Zucht nehmen und unterdrücken“. Bei allen solchen Belehrungen schüttelt er vielmehr den Kopf und beharrt auf der Behauptung, alle Begierden seien einander gleich, er verachte keine und habe für alle das gleiche Wohlwollen. […] Und so lebt er also sein ganzes Leben lang jeden Tag der ersten besten sich einstellenden Lust zu Gefallen. Bald berauscht er sich mit Wein und läßt sich durch Flötenmusik bezaubern, bald trinkt er Wasser und hungert sich ab, bald wiederum quält er sich mit gymnastischen Übungen. Bald faulenzt er und vernachlässigt alle Geschäfte, bald tut er, als vertiefe er sich in die Philosophie. Oft treibt er Politik und spricht und tut in der Volksversammlung, wenn er aufspringt, was ihm gerade in den Sinn kommt. Wird er einmal eifersüchtig auf den Vorrang von Militärs, so stürzt er sich auch darauf, wird er's auf den Gewinn der Geschäftsleute, so läßt er sich auch damit ein. Kurz, weder eine Ordnung noch eine Notwendigkeit ist in seinem Leben, sondern er nennt ein solches Leben anmutig und frei und selig und hält es überall danach. […] Ich denke, fuhr ich fort, dieser Mensch ist ein so mannigfaltiger, daß er eine Buntscheckigkeit und Fülle von fast allen Sitten darbietet, daß ein solcher Mensch, gerade wie die ihm entsprechende Verfassung, ebenso der Schöne und Buntscheckige ist, den die Mehrheit der Männer- wie der Frauenwelt wegen seines herrlichen Lebens bewundert, ihn, der eine Fülle von Staats- und Herzensverfassungen in reichster Auswahl in sich trägt. […] Und darf demnach gegenüber einer Demokratie ein so beschaffener Mann als richtig beschrieben hingestellt werden, mit der Behauptung, daß er treffend ein der demokratischen Verfassung entsprechender genannt wird? [...] Und es bleibt nicht allein, fuhr ich fort, bei diesen Freiheitserscheinungen, sondern es ereignen sich auch noch andere Kleinigkeiten folgender Art: Die Lehrer haben Angst vor ihren Schülern und umschmeicheln sie, die Schüler haben keine Achtung vor den Lehrern und Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der Älteren und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen begeben, darin von Witzeleien und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht als strenge Gebieter erscheinen. [...] Was nun das Benehmen der unter der Herrschaft der Menschen lebenden Tiere anlangt, so glaubt niemand, der es nicht erfahren hat, um wieviel freier diese [in der Demokratie] sind als sonst. Denn nicht nur sind nach dem Sprichworte „wie die Herrin, so das Hündchen“, sondern auch Pferde und Esel sind da gewohnt, ganz wie freie Leute und gravitätisch einherzuschreiten, und rempeln auf den Straßen jeden ihnen Begegnenden an, wenn er vor ihnen nicht auf die Seite geht, und so ist alles übrige voll von Freiheit. [...] Wenn du alle diese Erscheinungen zusammennimmst, fuhr ich fort, siehst du nun ein, was das Allerschlimmste hierbei ist? Daß sie die Seele der Bürger so empfindlich machen, daß sie, wenn ihnen jemand auch nur den mindesten Zwang antun will, sich alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen, ja endlich, wie du wohl weißt, verachten sie gar alle Gesetze, die geschriebenen wie die ungeschriebenen, um nur keinen Gebieter in irgend einer Beziehung über sich zu haben. [...] Diese so schöne, sagte ich, und jugendlich kecke Wirtschaft, mein Lieber, ist also denn der Anfang, woraus die Staatsform der Tyrannis erwächst, wie ich glaube. [...] Derselbe Krankheitsstoff, antwortete ich, der in der Geldoligarchie sich erzeugte und sie zugrunde richtete, dieser erzeugt sich in diesem Freistaate in einem noch höheren und stärkeren Grade aus der zügellosen Freiheit und bringt die Demokratie in die Knechtschaft; und in der Tat führt überhaupt das Allzuviel gern einen Umschlag in das Gegenteil mit sich... (Platon, Politeia VIII, 561a - 564a)
Die stachelbewehrten Drohnen
Für eine fruchtbare Diskussion im politischen Raum sind einige Qualitäten unerlässlich:
Wissen über den zu erörternden Gegenstand,
Wohlwollen gegenüber dem Partner und
unerschrockene Freiheit und Offenheit der Rede.
Frei ist nur, wer die wesensmäßig freie Vernunft in sich nicht knechtet. Das Volk aber will gerade nicht an die Stimme der Vernunft erinnert werden. Die Volksversammlung ist primär ein Ort der Spaltung und der Unfreiheit. Die politische Bühne wird von bösartigen Existenzen geprägt, die nichts zum Gemeinwohl beitragen. Diese „stachelbewehrten Drohnen“ beherrschen die Rednertribüne, um die sich weniger bösartige parasitäre Mitläufer drängen („stachellose Drohnen“), die keine andere Ansicht zu Wort kommen lassen als die der Bösartigen. Das harmlose Volk wird durch die Enteignung der Reichen für sein kritikloses Mitmachen belohnt. Die unmoralische Rhetorik der Demagogen versucht systematisch, die Entscheidungsfreiheit durch geschickte Psychagogie auszuschalten, ohne dass der Demagoge sich selbst zwingen ließe, über die eigenen Ziele Rechenschaft zu geben. Es geht ihm nur darum, den niedrigen Instinkten der Masse zu schmeicheln und diese zu überreden. Auf Sachkenntnis und Argumente kommt es dabei nicht an. Die Demokratie macht deshalb die Menschen ethisch schlechter. Die wahre Redekunst beruht auf philosophisch fundierter Kenntnis des Wesens der Dinge und wird jeder Zuhörerseele die Art von Rede zukommen lassen, die zu ihr passt (Szlezák, a.a.O., S. 413 - 415).
Gesetzesherrschaft
Platons Ideal einer unlösbaren Einheit von Philosophie und Politik, Theorie und Praxis unterstellt, dass moralisches Versagen wegen der Herrschaft der Vernunft über die anderen Seelenteile auf einem intellektuellen Irrtum beruhen müsse: Tugend ist Wissen. Niemand handelt freiwillig schlecht, es sei denn aus Unwissenheit (moralischer Intellektualismus, vgl. z.B. Platon, Protagoras 352b ff.). Diese Annahme scheint Platon in den späteren Dialogen aber nicht mehr unzweifelhaft zu sein (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 193; Christoph Horn: „Niemand handelt freiwillig schlecht“, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.): Platon verstehen, 2004, S. 180). In dem Spätwerk „Nomoi“ erfolgt zwar keine grundlegende Revision seiner These, doch zumindest eine realistische Einschränkung unter Berücksichtigung vernunftmäßig suboptimaler Verhältnisse. Der Mensch muss durch das Gesetz gebändigt werden, weil er von Lust und Unbehagen umhergetrieben wird. Einsicht und Selbstbeherrschung fehlen ihm. Deshalb verfällt er dem selbstsüchtigen Handeln und der Pleonexie (Krämer, a.a.O., S. 204).
Die Menschen müssen notwendig Gesetze haben und unter Gesetzen leben, oder aber sie werden sich in nichts von den wildesten Tieren unterscheiden. Der Grund hiervon aber ist der, daß kein Mensch unmittelbar von Natur weiß, was der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft von Nutzen ist, noch auch, wenn er es wirklich erkannt hat, dies auszuführen die Kraft und den Willen hat. Denn fürs erste ist es schwer, sich davon zu überzeugen, daß die Staatskunst nicht den Nutzen des Einzelnen, sondern das allgemeine Wohl im Auge haben müsse, weil das Gemeinwohl den Staat zusammenhält, das Sonderinteresse aber ihn zerreißt, und daß es beiden, nicht bloß dem Staate, sondern auch dem Einzelnen, besser zustatten kommt, wenn die Sorge für das Gemeinwohl als wenn das Privatinteresse voransteht. Und fürs zweite, wenn jemand auch hinreichend die Erkenntnis, daß es sich wirklich nach der Natur der Sache so verhalte, in seiner Staatskunst sich zu eigen gemacht hat, so wird er doch, so bald er zu einem unumschränkten Herrscher, welcher niemandem Rechenschaft abzulegen braucht, werden sollte, schwerlich stark genug sein, diesem Grundsatz treu zu bleiben und sein ganzes Leben hindurch vor allem anderen stets das allgemeine Beste des Staates zu fördern und sein eigenes Sonderinteresse hintanzustellen. Sondern die Schwäche der Menschennatur wird ihn stets zur Habsucht und zur Wahrnehmung seines eigenen Vorteils treiben, wird ihn ohne weitere Überlegung alles Unangenehme fliehen und jeder Lust nachjagen lassen. Sie wird ihn diese Eigensucht höher stellen heißen als die Frage, ob das, was er tun will, auch das Gerechtere und Bessere sei. Sie wird so immer größere Finsternis über sein Gemüt verbreiten und zuletzt auf ihn selbst und den ganzen Staat das äußerste Unheil häufen. Sollte allerdings einmal ein Mensch unter besonderer göttlicher Fügung geboren werden, welcher von Natur die Fähigkeit hat, jenen Grundsatz zu erfassen, so würde es für ihn keiner ihn beherrschenden Gesetze bedürfen. Denn kein Gesetz und keine Ordnung steht höher als die Einsicht, und es ist nicht recht, daß die Vernunft die Untertanin oder Sklavin von irgend etwas sei, sondern vielmehr, daß sie über alles herrsche, wenn ihr Wesen doch eben die Wahrheit und Freiheit selbst ist. Nun aber findet sich ja doch nirgends eine solche Fähigkeit, es sei denn in geringem Maße. Darum müssen wir uns an das Zweitbeste halten, nämlich an Ordnung und Gesetz, die zwar die meisten Fälle ins Auge fassen und berücksichtigen, aber natürlich nicht alles überschauen können. (Platon, Nomoi IX, 874e-875e)
In den Nomoi gilt deshalb das Gesetz als „König aller Dinge“. In diesem Dialog entzieht Platon dem Durchschnittsbürger sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung und überträgt diese auf ausgewiesene Experten, die durch eine Wahl bestätigt sein müssen. Damit erfüllt er die demokratiekritische Forderung seines Lehrers Sokrates, dass wichtige Dinge nicht ohne Fachwissen (episteme) entschieden werden sollen (Szlezák, a.a.O., S. 402).
Die Gesetzesherrschaft klingt aber schon in früheren Dialogen an. Im Dialog Kriton erklärt der zum Tode verurteilte Sokrates, man müsse den staatlichen Gesetzen unter allen Umständen Gehorsam leisten. Er verdanke der staatlichen Gesetzesordnung seine Existenz und alle lebenslang gewährten Wohltaten. Außerdem hätte er fortgehen können, was er aber nicht getan habe.
Wenn indem wir von hier davon laufen wollten, oder wie man dies sonst nennen soll, die Gesetze kämen und das Gemeinwesen dieser Stadt, und uns in den Weg tretend fragten: Sage nur, Sokrates, was hast du im Sinne zu tun? Ist es nicht so, daß du durch diese Tat, welche du unternimmst, uns den Gesetzen und also dem ganzen Staat den Untergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist? Oder dünkt es dich möglich, daß jener Staat noch bestehe und nicht in gänzliche Zerrüttung gerate, in welchem die zustandegekommenen Urteile keine Kraft haben, sondern von einzelnen Männern ungültig gemacht und umgestoßen werden können? (Platon, Kriton 50a-b)
Im Dialog Politikos gelten Gesetze zwar als mangelhaft, weil sie unmöglich das im Einzelfall Gerechteste und Angemessenste zugleich für alle Bürger bestimmen können. Denn gegenüber der Verschiedenheit der Personen und Sachverhalte sind die Gesetze zu grobregelnd und unflexibel (Platon, Politikos 294a-c). Die Gesetze verfügen aber über zwei Vorzüge. Zum einen kann ein Regent schon aus zeitlichen Gründen nicht jedem einzelnen Bürger exakt das für ihn Angemessene individuell vorschreiben. Die generalisierende Regelung durch die Gesetze bewirkt daher eine willkommene Vereinfachung. Zum anderen sind Gesetze notwendig, wenn ein weiser Herrscher vorübergehend abwesend ist. Gesetze sind als schriftlich fixierte Erinnerungen (hypomnemata) wünschenswert (Platon, Politikos 295a-c).
In den Nomoi wird die Einheit des staatlichen Ganzen durch einen umfangreichen Gesetzeskorpus und die Einrichtung maßgeschneideter Institutionen gesichert. Es handelt sich um einen Gesetzesentwurf für den Stadtstaat Magnesia, der auf der Insel Kreta gegründet werden soll. Platon entwickelt eine ins Einzelne gehende Mustergesetzgebung mit konkreten Vorschriften für das Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Strafrecht und Zivilrecht. Die Gesetze gelten als Verkörperung der Vernunft und wirken durch freiwillige Akzeptanz. Traditionsbildend ist die Einführung von Präambeln für die einzelnen Gesetze. Gott wird in ihnen als Maß für das Gesetz gepriesen, damit wird das Gesetz selbst göttlich. Die Präambeln halten die moralischen Vorgaben für das Gesetz fest (Michael Erler: Platon, 2006, S. 189). Zahlreiche Staatsorgane, Behörden und Beamte sollen die Gesetzesordnung erhalten und verwalten: Volksversammlung, Rat (boule), Archonten (hohe Beamte), Gesetzeswächter, nächtliche Versammlung, Richter sowie diverse Fachbeamte für Militär, Ordnung, Kultus, Erziehung und Kontrollaufgaben (vgl. Matthias Perkams: Ämter und Gesetze in Magnesia, in: Christoph Horn (Hrsg.): Platon. Gesetze - Nomoi, 2013, S. 227 f.).
Platon skizziert einen Staat, in dem jeder vor jedem geschützt ist, weil weder ein Einzelner, noch eine Gruppe von Personen, sondern nur das Gesetz absolut herrscht. Die Tatsache, dass das Gute bekannt ist, bietet in den Nomoi noch keine Gewähr dafür, dass es auch verwirklicht wird. Warum sollte ein Philosoph mit der Aufgabe absoluter politischer Herrschaft betraut werden, wenn womöglich auch seine Natur moralisch korrumpierbar ist? In den Nomoi gibt Platon zu verstehen, dass er sich einen unkorrumpierbaren Charakter nicht vorstellen könne (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 194). An die Stelle der Philosophenherrschaft tritt deshalb die Gesetzesherrschaft. Zum eigenen Besten stimmt der Einzelne aus innerer Überzeugung der Herrschaft der Gesetze zu und schwenkt auf den vernünftigen Weg ein.
Diener der Gesetze habe ich jetzt die genannt, welche sonst Herrscher und Obrigkeiten heißen, nicht um einer Neuerung im Namen willen, sondern weil ich die Ansicht hege, dass vor allem darin, dass sie dies sind, das Heil oder Verderben des Staates beruhe. Denn einem Staat, in welchem das Gesetz unter der Willkür der Herrscher steht und ohne Macht [Durchsetzung/Geltung] ist, sehe ich den Untergang bevorstehen, wo es dagegen Herr ist über die Herrscher und sie Sklaven des Gesetzes sind, da sehe ich Wohlstand und alle die Güter erblühen, welche die Götter Staaten verleihen. (Platon, Nomoi IV, 715c-e).
Veredlung des Menschen
Die Gesetze sollen alle Bürger, die sie befolgen, glücklich machen. Sie verschaffen ihnen menschliche und göttliche Güter, wobei die menschlichen Güter von den göttlichen Gütern abhängen. Wenn einem Menschen die größeren Güter zuteil geworden sind, so besitzt er damit auch die kleineren. Bei den menschlichen Gütern steht die Gesundheit an erster Stelle, den zweiten Rang nimmt die Schönheit, den dritten die körperliche Stärke, den vierten der von der Weisheit geleitete Reichtum ein. Bei den göttlichen Gütern steht die Weisheit an erster Stelle, das Zweite nach der Vernunft ist die Sophrosyne als besonnene und maßhaltende Beschaffenheit der harmonisch geordneten Seele. Aus beiden gemeinsam mit der Tapferkeit geht als Drittes die Gerechtigkeit hervor, und das Vierte ist die Tapferkeit. Diese vier göttlichen Güter sind von Natur aus den menschlichen Gütern vorangestellt, was der Gesetzgeber bei seinen Anordnungen zu berücksichtigen hat (Platon, Nomoi I, 631c f.).
Eine besondere Bedeutung kommt dem Erziehungswesen zu, das der Gesetzgeber unter keinen Umständen vernachlässigen darf. Die Erziehung dient der Veredlung und Kultivierung eines problematischen Naturzustands. Denn im kindlichen Naturzustand ist der Mensch keineswegs ein zahmes Wesen, sondern das am schwierigsten zu behandelnde Tier. Er bedarf erst noch der Zähmung durch die Erziehung. Mit dieser ist schon früh zu beginnen, da der rechte Anfang für das Gelingen des Ganzen von höchster Bedeutung ist (vgl. Klaus Schöpsdau: Platon, Nomoi. Buch IV-VII, 2003, S. 423).
Denn es kommt ja bei allem, was wächst, vor allem darauf an, daß der erste Keim sich schön entwickle, um die in seinem eigenen Wesen ursprünglich angelegte Arete [Bestform, Tauglichkeit] zur vollkommenen Vollendung zu führen, und zwar nicht bloß bei Pflanzen und bei zahmen und wilden Tieren, sondern auch bei den Menschen. Denn der Mensch, den wir unter die zahmen Wesen zählen, pflegt doch nur dann, wenn eine glückliche Natur bei ihm durch gute Erziehung ausgebildet ist, das gezähmteste und gottähnlichste zu werden, wenn er dagegen nicht hinreichend oder nicht gut erzogen ist, gerade das wildeste von allen, welche die Erde hervorbringt. (Platon, Nomoi VI, 765e).