Die Ideenlehre ist ein Kernstück der Philosophie Platons. Die Idee ist das wahrhafte Sein des einzelnen Seienden, sein wahres Wesen und seine seinsbegründende urbildhafte Form. Die platonische Idee bezeichnet im Unterschied zum modernen Begriff nicht etwa einen Einfall oder Gedanken. Die Idee/Form (gr. idea, eidos) ist ein wesenhaft eingestaltiges, immer bestehendes urbildhaftes Prinzip, das in den vielen Einzelnen zur Darstellung kommt. Demnach sind bestimmte nur durch die Vernunft zugängliche Entitäten dem Sein und der Erkenntnis nach gegenüber konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenständen vorrangig und stehen als seinsbegründende Urbilder in einer bestimmten Beziehung zu diesen. Die Dinge der Sinnenwelt verdanken ihr Was-Sein (ti estin) den Ideen. Die Ideen sind wahrhaft seiende, undingliche bloß denkbare reine Einheiten von Bestimmungen, Prinzipien oder Gegenstandsklassen, die allem Einzelnen, das unter sie fällt, das vermitteln, was es als es selbst sein lässt und wodurch es als bestimmt erkennbar ist (Dirk Cürsgen: Eine, das (hen); Eines/Vieles, in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 102). Die Ideen sind deshalb eine Einheit über der Vielheit. Obwohl die später sogenannten platonischen Ideen in der Tradition zur zentralen Lehre Platons gerechnet werden, ist die Rede von einer einheitlichen Lehre oder Theorie problematisch, da es in seinen Dialogen keine Stelle mit einer systematischen Erläuterung der Ideenlehre gibt, sondern Platons Ansichten über die Ideen aus vielen verstreuten Bemerkungen rekonstruiert werden müssen. Gleichwohl gelten die Ideen/Formen als Grundstein seines Denkens. Als metaphysische Instanzen handelt es sich bei den Ideen um das „wahrhaft seiende Wesen“ (Platon, Phaidros 247c), nämlich „das reine, immer seiende unsterbliche und in sich stets Gleiche“ (Platon, Phaidon 79d), das selbstidentische Sein des Seienden. Die Glückseligkeit (eudaimonia), die der Mensch als Mensch anstrebt, liegt im Aufstieg zur Ideenwelt und in der Schau der höchsten Idee des Guten/Einen (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 269).
Begriff der Idee
Platon lässt sich kaum auf eine einheitliche Terminologie festlegen. So verwendet er zahlreiche Ausdrücke für das, was in der Tradition Idee genannt wird. Hierzu gehören idéa, morphē (Gestalt), eîdos, parádeigma, auch génos (Gattung), phýsis und ousía, oft auch Ausdrücke wie to x auto, „das x selbst“, oder kath' auto, „an sich“ (Christian Schäfer: Idee/Form/Gestalt/Wesen, in: ders. (Hrsg.): Platon-Lexikon, 2007, S. 157). Ausdrücke wie eîdos und das aus derselben indogermanischen Wurzel stammende idéa verwendet Platon als Erster, um das Wesen einer Sache zu bezeichnen. Dass der Ausdruck Idee in der Tradition den Vorzug erhält, geht vermutlich auf Cicero zurück. Die sinnlich wahrnehmbare Welt ist einem unsichtbaren Reich der Ideen/Formen nachgeordnet, die nur durch die Vernunft erkannt werden können. Diese noetische Welt besteht aus den die Eigenschaftswelt konstituierenden Wesenheiten, den sogenannten Ideen. Platon bestimmt die Idee als wahres Sein oder als Sein im eigentlichen Sinne (Werner Beierwaltes: Identität und Differenz, 1980, S. 142). Platon spricht den Ideen eine reale Existenz zu. Die Ideen sind in höherem Maße seiend als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, sie sind die einzig wahrhaft seienden Wesenheiten. Darüber hinaus versteht er die konkreten Dinge lediglich als Ausformungen dieser a priori existierenden Ideen. Die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände besitzen für Platon aufgrund ihrer Vergänglichkeit und Veränderlichkeit aber nur ein bedingtes und damit defizitäres Sein. Die Ideen sind in den Dingen anwesend. Dabei ist diese Anwesenheit aber keine im Grunde dauernde Gegenwart. Die Idee als das ruhende Sein hebt sich von dem Seienden als dem Vergänglichen ab. Nur der Idee kommt wahres Sein zu. In diesem Sinne formulierte Ernst Cassirer: „Wahres Sein hat nur das, was wahrhafte Dauer hat. Wahre Dauer aber besitzt nichts Dingliches, sondern nur das geistige Prinzip“ (Ernst Cassirer: Aufsätze und Kleine Schriften (1902-1921), 2001, S. 507). Platon unterschied streng zwischen der vergänglichen, sinnlich erfahrbaren Welt und dem unveränderlichen, ewigen Reich der Ideen. Alles Denken und Sein wird bestimmt durch die Einheit der Idee. Stets gilt das Primat der Einheit über die Vielheit. Dies darf aber nicht als ein Dualismus von zwei strikt getrennten Welten missverstanden werden. Platons Metaphysik bemüht sich darum, den Menschen, die Gemeinschaft und den Kosmos in einem zu erklären. Die Idee ist deshalb immer das ursprüngliche Eine. Dem steht die Vielheit der Sinnenwelt gegenüber. Ideenwelt und Sinnenwelt verhalten sich dabei wie Muster und Nachbildung. Jede noch so gute Nachbildung ist nur ein schwacher Abklatsch der ursprünglichen Idee. Jede Idee ist einzigartig, und da sie Sein hat, ist sie auch immer mit sich selbst identisch. Die Idee verdankt ihr Was-Sein (ti estin) dem Einen.
Merkmale der Ideen
Die Ideenlehre Platons bleibt immer ein Rekonstruktionsversuch, da es im Werk Platons keine Hauptstelle gibt, in der er die Ideen/Formen behandelt. In den Dialogen werden sie meistens wie alte Bekannte begrüßt, die man weder einführen muss noch abweisen kann (Dorothea Frede: Platons Phaidon, 1999, S. 22). Die Sinneswahrnehmung kann nach Platon nicht zu Wissen führen. Die Sinne können täuschen (Platon, Politeia 602c–603a) und die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, die konkreten Einzelgegenstände, verändern sich fortwährend. Von ihnen ist demnach kein Wissen, sondern nur Meinung (dóxa) möglich. Entsprechend nimmt Platon Entitäten an, die Wissen ermöglichen. Diese Entitäten, die in der Tradition platonische Ideen genannt werden, weisen folgende Merkmale auf:
Die Idee/Form (idea, eidos) ist das reine, mit anderem unvermischte Wesen. Sie ist eine Einheitsform und lässt als solche das Wassein oder die Wesenheit des einzelnen Sinnendings sehen (idein). Jede Idee ist Einheit von Einem und Vielem. Der Idee kommt damit der Charakter des Unveränderlichen, Unvergänglichen und Selbstidentischen zu (Platon, Phaidon 78 c–d).
Eine Idee in diesem Sinne ist ein real existierendes, unveränderliches und sinnlich nicht wahrnehmbares urbildhaftes Prinzip, das in einem bestimmten Verhältnis zu den konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen steht, obwohl es von diesen getrennt ist: Das Einzelding hat teil an der Idee (methexis), die Idee ist im Einzelding gegenwärtig (parousia).
Ideen sind existenziell unabhängig von diesen konkreten Einzeldingen. So existiert beispielsweise die Idee des Schönen unabhängig von der Existenz einzelner schöner Dinge. Die Idee ist auch unabhängig von der Verwirklichung in Raum und Zeit. Die Idee des Dinosauriers besteht fort, obwohl er ausgestorben ist. Die Idee ist auch unabhängig vom Denken des Menschen, denn es handelt sich nicht um bloße Gedanken (noemata).
Die Idee F ist Ursache oder formaler Grund dafür, dass die vielen konkreten Einzeldinge X1, X2, X3 etc., die in einer Beziehung zu ihr stehen, als unvollkommene Realisierungen der Idee die jeweiligen Eigenschaften f1, f2, f3 etc. aufweisen. Die Idee des Gerechten ist beispielsweise Ursache oder formaler Grund dafür, dass einzelne Objekte gerecht sind. In Platons Dialog Parmenides, 131b f., argumentiert der ansonsten hoffnungslos unterlegene junge Sokrates gegenüber Parmenides mit der Lichtsymbolik: Wenn die Idee von einer Qualität wie das Tageslicht ist, wird sie sich in mehrere Dinge gleichzeitig versenken können, ohne zersplittert zu werden oder sich selbst zu verlassen. Dem jungen Sokrates fehlt es aber noch an Verständnis für die volle Tragweite seiner Aussage. Parmenides vermag deshalb im Bild vom Segeltuch das Ganze umzudrehen und zu vergegenständlichen, ohne auf Widerstand zu stoßen (Egil A. Wyller: Platons Parmenides, 2 Aufl. 2006, S. 70).
Ob man Platon Selbstprädikationen (die Idee F hat selbst die vollkommene Eigenschaft f, also zum Beispiel die Idee des Gerechten ist selbst gerecht) zuschreiben kann, ist umstritten (vgl. dazu zum Beispiel Franz von Kutschera: Platons Parmenides, 1995, S. 30; Andreas Graeser: Platons Parmenides, 2003, S. 70). Das Problem der Selbstprädikation ist Teil einer Vergegenständlichungstendenz, die Platon wohl für unangemessen hält. Werden Ideen als Attribute aufgefasst, ist dieses Prinzip absurd. Ein Prädikat ist immer von höherer Stufe als seine Argumente, so dass eine Selbstprädikation schon kategorial ausgeschlossen ist. Außerdem wäre es sinnlos, die Eigenschaft der Gerechtigkeit selbst als gerecht und die Eigenschaft der Schönheit selbst als schön zu bezeichnen. Ideen sind für Platon aber nicht Attribute, sondern unveränderliche, ewige Vollkommenheiten. Es lassen sich deshalb viele Beispiele dafür nachweisen, dass er seine Protagonisten das Schöne schön (Platon, Symposion 210e), das Gleiche gleich (Platon, Phaidon 74d) oder die Frömmigkeit fromm (Platon, Protagoras 330c f.) nennen lässt.
Im Vorbildcharakter der Idee gegenüber dem Einzelding liegt zugleich ein normativer Aspekt. Das Einzelding ist gemessen an der Idee, deren Darstellung es ist, nur mehr oder weniger gut. Was man eigentlich erkennen muss, um eine Idee zu erkennen, ist ihr Gutsein (arete). Deshalb ist das, was das Einzelding eigentlich ist, dasselbe wie sein Gutsein. Die Idee hat die Funktion einer Orientierung darauf, wie das Einzelding eigentlich sein sollte. Das, was die Idee des Guten den Ideen mitteilt, ist ihr Gutsein. Erst dadurch macht sie diese eigentlich zu Ideen. Deshalb ist die Idee des Guten die Idee der Ideen (Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie, 2000, S. 355).
Ideen stehen in einem Zusammenhang. Dabei handelt es sich häufig um einen komplexen und in sich gegliederten Gegenstandsbereich. Wer Erkenntnis über eine Idee gewonnen hat, der kennt auch die Beziehungen, die zwischen den Elementen des Bereichs bestehen, zu dem die Idee gehört. Eine Idee zu kennen bedeutet damit auch, Kenntnis von den Relationen zu anderen Ideen zu haben (Platon, Sophistes 254 b f.). Der Kosmos wurde geschaffen im Blick auf die Gesamtheit der Ideen. Diese Gesamtheit der Ideen ist das allvollkommene Lebewesen (panteles zoion), das alle intelligiblen Lebewesen in sich umfasst. Die Ideenwelt ist göttlich, unsterblich und vernünftig.
Ob es für Platon Ideen von allen beliebigen Dingen gibt, erscheint zweifelhaft. So bestreitet er beispielsweise, dass es die Idee des Nichtgriechen (barbaros) gebe, weil dies nur eine negative Abgrenzung sei und in Wirklichkeit unzählige Geschlechter bestünden (Platon, Politikos 262d). Nicht allen Allgemeinbegriffen sind Ideen zugeordnet. Dies gilt insbesondere für die relativen oder in sich abgestuften Gegenstände, beispielsweise gibt es keine dem Begriff „Zahl“ entsprechende Idee (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 369).
In den frühen Dialogen nimmt Platon zunächst Ideen von den verschiedenen Aretai wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Frömmigkeit oder Tapferkeit an. In den mittleren Dialogen wird dieser Bereich wesentlich ausgeweitet. Hinzu kommen Ideen der Gleichheit, des Geraden und Ungeraden sowie von Feuer, Schnee, Wärme, Kälte, Gesundheit, Stärke und Leben. Ob Platon auch Ideen von Artefakten annimmt, ist umstritten. Sein Schüler Aristoteles leugnet dies (Aristoteles, Metaphysik 1070a 18). Platon spricht aber von den Ideen der Bettgestelle und Tische (Platon, Politeia 596a ff.). Auch bei den Artefakten gibt es also ein Urbild, das in der technischen Produktion nachgebildet wird. Dies gilt zum Beispiel für den Tisch oder das Bett, welche vom Schreiner nach seinem Plan hergestellt werden. Während die Ideen der Aretai und der Lebewesen als eigentliche Ideen in der rein noetischen Welt zu denken sind, sind die technischen Ideen dagegen „als mathematische Strukturformen im Bereich der Seele zu denken“ (Gaiser, a.a.O., S. 105). Vermutlich gibt es für den späten Platon von jedem Attribut eine Idee (Franz von Kutschera: Platon III. Die späten Dialoge, 2002, S. 184 f.)
Metaphysik des Absoluten
Die Idee des Guten
In der Politeia ist das Gute das Prinzip von Ordnung und Einheit im Staat und in der Seele. Das Gute begründet sowohl Ordnung als auch Güte. Es ist die formgebende Einheit und die Formursache der Ideen. Nach der indirekten Überlieferung wird es von Platon in der nicht erhaltenen Vorlesung „Über das Gute“ mit dem Einen gleichgesetzt (Michael Erler: Platon, 2007, S. 401, 419). Die Idee des Guten sichert die Einheit in der Vielfalt. Sie ist das Erkenntnisziel der Dialektik, das eschatologische Ziel der Seele sowie der Orientierungspunkt für die Leitung des Staates und die Erziehung (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 124).
Die Ideen untereinander haben insofern teil aneinander, als eine bestimmte Idee allen anderen Ideen übergeordnet ist. Das Gute (agathón) ist die höchste Instanz und der voraussetzungslose Anfang von allem. Es bringt Erkenntnis und Wahrheit hervor, ist aber höher als diese beiden zu schätzen und noch schöner (Platon, Politeia 509a). Es ist ein Überseiendes, jenseits des Seins und der Erkennbarkeit, und transzendiert das Sein. Es ist die höchste Idee, da die „gewöhnlichen“ Ideen aus ihr hervorgehen. Die Idee des Guten verleiht den Ideen ihr Sein und Wesen. Da alle Ideen auf die eine Idee des Guten zurückgeführt werden, besteht also eine Beziehung zwischen dem Einen und dem Vielen. Gutsein bedeutet Geordnetsein als Bestimmtsein durch Einheit. Das Gute an sich ist eins mit der göttlichen Vernunft (Platon, Philebos 22c) und damit eins mit dem Demiurgen, welcher gemäß den Ideen alles aufs Beste gestaltet hat (Platon, Timaios 29a). Die Idee des Guten gewährt den Dingen ihre Erkennbarkeit, dem Erkennenden seine Erkenntnisfähigkeit, allem Seienden sein Sein, und überhaupt allem den Nutzen, sogar der Gerechtigkeit, indem sie Ziel und Sinn von allem ist. Die Idee des Guten ist der Grund der Wahrheit und des Erkennens. Das Gute ist im Reich der Vernunft wie die Sonne im Reich des Sichtbaren. Wie die Sonne den Dingen nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, verleiht, sondern auch ihnen selbst Werden, Wachstum und Nahrung gibt, ohne selbst ein Werden zu sein, so verleiht das Gute dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden, sondern auch sein Sein und Wesen, ohne selbst ein Sein zu sein.
Du wirst wohl einräumen, glaube ich, daß die Sonne den sinnlich sichtbaren Gegenständen nicht nur das Vermögen des Gesehenwerdens verleiht, sondern auch Werden, Wachsen und Nahrung, ohne daß sie selbst ein Werden ist? [...] Und so räume denn auch nun ein, daß den durch die Vernunft erkennbaren Dingen von dem eigentlichen Guten nicht nur das Erkanntwerden zuteil wird, sondern daß ihnen dazu noch von jenem das Sein und die Wirklichkeit zukommt, ohne daß das höchste Gut Wirklichkeit ist, es ragt vielmehr über die Wirklichkeit an Hoheit und Macht hinaus. (Platon, Politeia 509b)
Als höchste, absolute Idee hat das Gute sein Sein und Wesen aus sich heraus (Aseität), nicht erst durch Teilhabe. Aufgrund der ursächlichen Funktion der Idee des Guten ist es das höchste Ziel des Philosophen, die Idee des Guten zu erkennen, und Voraussetzung dafür, Philosophenherrscher zu werden. Wer einmal die Einsicht in das Gute gewonnen hat, kann nicht mehr wider besseres Wissen handeln. Das Gute wird damit zu einem absoluten Orientierungspunkt für das praktische Handeln. Das überseiende Gute stiftet als absoluter Urgrund (Platon, Politeia 510b) das Reich der Ideen und ist dabei selbst jenseits des Seins, jenseits aller Bestimmungen (Platon, Parmenides 137c -142a) und schlechthin unbedingt (Platon, Politeia 511b). In Platons ungeschriebener Lehre wird das Wesen dieses Urprinzips auch als das Eine bezeichnet (vgl. den Bericht bei Aristoteles, Metaphysik 1091b 13-15). Aus der Idee des Guten als des hén, des Einen, leitete Platon zunächst die Zweiheit (dyás) des Einheitlichen und des Mannigfaltigen (tautón und tháteron) oder des Maßes und des Unendlichen (péras und ápeiron, das heißt Grenze und das Unbegrenzte) ab, um dann weiter das System der übrigen Ideen und Zahlen so anzufügen, dass sie eine Stufenfolge des Bedingenden und des Bedingten bilden. Die Erfassung der Idee des Guten ist deshalb als Ausgangspunkt von allem die höchste Erkenntnis (mégiston máthēma, vgl. Platon, Politeia 505a ff.). Als solche ist sie aber auch nur mit Mühe zu schauen (mógis ophtheisa), denn die Idee des Guten ist das Hellste des Seins: „Aber die gegenwärtige Untersuchung, sprach ich weiter, deutet offenbar darauf hin, dass das Vermögen jener Erkenntnis ursprünglich in der Seele gelegen sei, das Organ, mit dem ein jeder erkennt, muss nur ebenso, wie wenn ein Auge nicht anders als mit dem ganzen Körper sich nach dem Hellen aus dem Dunklen umwenden kann, mit der ganzen Seele aus dem Bereiche des wandelbaren Werdens umgelenkt werden, bis diese die Anschauung des Seins und des hellsten desselben ertragen kann, dieses hellste ist aber nach unserer Erklärung das Gute, nicht wahr?“ (Platon, Politeia 518c-d).
Das Gute als das Eine ist das letzte Ziel allen ethischen Strebens. Wer gänzlich einer geworden ist aus vielen (Platon, Politeia 443e) hat es erreicht. Das Gute „gewährt die gesuchte Einheit, weil das Eine sein Wesen ist; wenn als erstes ontologisches Merkmal der Idee stets genannt wird, daß sie je eine ist, so ist klar, inwiefern das Gute der Seinsgrund der Ideen heißen kann (509 b7-8): sie haben ihr grundlegendes Charakteristikum in ihrer gemeinsamen [arche], dem Guten als dem Einen; und wenn das Denken des [nous] durch die Kreisbewegung zu symbolisieren ist, die durch Einheit und Selbigkeit charakterisiert ist (Nomoi 898 a8-b3), so ist klar, inwiefern das Gute als Ursache von [episteme] bzw. [nous] fungieren kann (508 e3): das für noetische Erkenntnis konstitutive Einheitsmoment kommt vom Guten als dem Einen“ (Thomas A. Szlezák: Die Idee des Guten in Platons Politea, 2003, S. 70 f.).
Das Reich der Ideen
Das Gute stiftet Einheit, Bestimmtheit, Identität und Proportion. Es ermächtigt das Seiende dazu, das zu sein, was es ist. Die Ideen sind die Ur- und Musterbilder (parádeigma), deren Abbilder (eídola, homoiómata) die vergänglichen Dinge sind, in denen die Ideen gegenwärtig sind. Insoweit besteht zwischen diesen eine Gemeinschaft (koinōnía). Die platonische Dialektik ist das Mittel, zur Ideenerkenntnis zu gelangen. Das Ziel besteht darin, das Wesen von etwas zum einen zusammenschauend zu erfassen und begrifflich zu bestimmen und zum anderen es auch wieder nach Begriffen, aus denen es zusammengesetzt ist, zerteilen zu können (Platon, Phaidros 265d–e). Im Licht des überseienden Guten erkennt die Vernunft das Reich der Ideen/Formen, die werdelos über allem Werden stehen. Es ist der ewige Bestand eines Reiches der Wesenheiten: die Gerechtigkeit an sich, die Schönheit an sich, das Pferd an sich. Diese reinen Wesensbestimmtheiten sind als solche an sich selbst und bestehen für sich selbst jenseits der Welt der Erscheinungen (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 222).
Die Ideen transzendieren Raum und Zeit. Sie bilden in einer vollkommenen Ordnung untereinander ein einiges und in sich selbst gegliedertes Ganzes, das frei ist von Zufall und Veränderung. Das Reich der Ideen setzt deshalb die Einheit der intelligiblen Welt voraus, es ist von seiner Struktur her eine Einheit in Vielheit. Jede Idee hat ihr dialektisch bestimmbares Wesen nur aus dem Ganzen des Ideenkosmos. Die Ideen haben erst in diesem Ganzen ihre wechselseitige Bestimmtheit. Die Totalität aller Ideen ist in jeder einzelnen Idee als einer eigenen Totalität mit anwesend. Denn jede Idee hat ihr bestimmtes Wesen aufgrund ihrer Inklusions- und Exklusionsbeziehungen zu den anderen Ideen. Jede vollständige Definition impliziert damit das Wissen des Seinsganzen. In jeder einzelnen Idee ist damit gleichsam der ganze Ideenkosmos gegenwärtig, da sich in ihr alle Bezüge und Verhältnisse des Systems widerspiegeln (Hans Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959 (2. Aufl. 1967), S. 139 f.). In der intelligiblen Ordnung des Seins zeigt sich so die einheitstiftende Macht des Guten als das Schöne in der Dreiheit seiner Wesenscharaktere Maßbestimmtheit, Vollkommenheit und Intelligibilität. Diese bestimmen den Ideenkosmos durchgängig in allen seinen Bezügen (Platon, Philebos 64 c ff.). „Die einheitstiftende Mächtigkeit des Einen [d.h. des Guten] zeigt sich im Seienden durch Maßhaftigkeit und Maßbestimmtheit, durch die das Viele, das an sich selbst unbegrenzt und unbestimmt ist und so ins Nichts zergehen müßte, ins Sein geeint wird und Grenze und Bestimmtheit erhält. Die Maßbestimmtheit seiner Teile, dergemäß jeder Teil jeden anderen zum Vorschein kommen läßt, erhält das Viele im Sein, indem sie Einheit in der Vielheit verbürgt, in welcher Einheit die Teile sich auf das Ganze und das Ganze sich in seinen Teilen auf sich selbst bezieht (vgl. Parm. 157C-158D, spez. 157C7-E3 und 158C7-D2). Das aber ist das Wesen der Schönheit, der Vollkommenheit des kosmos noetos, der sein Wesen in vollständiger Ausgeprägtheit und Artikuliertheit besitzt, indem das Ganze und die Teile sich wechselseitig durchdringen und ineinander sind; und dies ist als die Durchlichtetheit, durch die alles Seiende intelligibel ist, zugleich die Wahrheit. Die reinen, harmonischen Verhältnisse zwischen den Ideen selbst aber begründen die Ordnung unserer Welt und die je besondere Arete der einzelnen Seienden in ihr“ (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 241).
So wie der wirkliche Kunstliebhaber vorzugsweise Originale und nicht etwa Kopien auf sich wirken lässt, so erfüllt sich das philosophische Leben im Umgang mit den reinen Ideen/Formen. Und so wie Platon diese Urbilder als göttlich bezeichnete, so betrachtete er die Abwendung der Seele vom abbildhaften Bereich des Leiblichen und ihre Hinwendung zum Bereich der urbildhaften Ideen sogar als Versuch einer „Angleichung an Gott“ (Platon, Theaitetos 176b). Der religiöse Kern dieser Vorstellung ist an die Gewissheit gebunden, dass der Bereich der Ideen zugleich die Heimat der unsterblichen Seele ist (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 162).
Ousia als das wesenhafte Sein
Ousia als das wesenhafte Sein, als der Gesamtbestand der Ideen, als die wahrhafte Seiendheit schlechthin, ist nach Platon nur der Vernunft, nicht aber der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich. Es meint das in sich selbst vollkommen Bestimmte, mit dem die Vollkommenheiten der Unvergänglichkeit, Unveränderlichkeit, Unteilbarkeit und Allumfassendheit verbunden werden. Der Begriff ist in sich festgefügt und zugleich in mannigfache Beziehungen eingelassen (Stephan Grotz: Sein/Seiendes (usia, on), in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 258). Platon lässt sich kaum auf eine einheitliche Terminologie festlegen. Ousia ist für ihn etwas ontologisch und erkenntnistheoretisch Stabiles: „Über alles also, was viel ist, ist das Sein (he ousia) verteilt, und es verläßt nichts von dem Seienden (ton onton), weder das kleinste noch das größte“ (Platon, Parmenides 144a f.). Ousia entsteht, wo das apeiron (Unbegrenzte) als das Nichtseiende (mê on) aus dem Einen (hen) als der Grenze (peras) Form, Bestimmtheit und Ordnung erhält (Aristoteles, Met. I, 6; XIV, 1; Platon, Phileb. 16d, 24). Peras steht dabei nicht für eine beliebige Begrenzung, sondern konkret für das richtige Maß, auf dem die Mischung beruht (Michael Erler: Platon, 2007, S. 258). Das Konzept der Mischung aus Grenze und Unbegrenztem soll Bestimmtheit und damit Erkennbarkeit und Mitteilbarkeit der Phänomene erklären. Das Begriffspaar Peras und Apeiron kann als Entsprechung zum Prinzipiendualismus von Einheit und unbestimmter Zweiheit verstanden werden (Erler, a.a.O., S. 259).
Unterscheiden lassen sich ein washeitlich-begrifflicher und ein aitiologisch-seinsstiftender Aspekt von ousia (Stephan Grotz, a.a.O., S. 259). Beide Aspekte hängen sehr eng miteinander zusammen: Das dauerhafte Wesen eines konkreten Einzeldings ist das für das viele Einzelne einheitlich Eine, was das Einzelne selbst ist (Platon, Phaedo 75d) im Gegensatz zur Erscheinung und den wechselnden Eigenschaften. Das Sein an sich ist das Ewige, Unveränderliche und die Totalität aller Wesenheiten im Unterschied nicht bloß zum Nichtsein, sondern auch zum Werden (Jens Halfwassen: Substanz; Substanz/Akzidens, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, S. 496). Ousia ist damit als Totalität das seiende Eine, das als Einheit und Ganzheit alle Ideen umfasst.
Die richtige Übersetzung des Begriffs „ousia“ ist umstritten und hat in der Philosophiegeschichte für einige Verwirrung gesorgt. In der altgriechischen Sprache ist „ousia“ ein Substantiv, das vom Partizip „seiend“ abgeleitet ist. Am genauesten wird es ins Deutsche deshalb mit „Seiendheit“ übersetzt, worauf bereits Martin Heidegger hingewiesen hat: „Schon der seit dem Beginn der Metaphysik bei Platon geläufige Name für das Sein: ousia (οὐσία), verrät uns, wie das Sein gedacht, d.h. in welcher Weise es gegen das Seiende unterschieden wird. [...] ousia heißt Seiendheit und bedeutet so das Allgemeine zum Seienden“ (Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. II, 5. Aufl. 1989, S. 211). Die übliche Übersetzung von „ousia“ ist aber „Substanz“. Das zu diesem Substantiv gehörende lateinische Verb „substare“ bedeutet darunter-, dabei-, darin vorhanden sein. „Substanz“ orientiert sich am griechischen „hypokeimenon“, dem Zugrundeliegenden. Der Begriff „Substanz“ hat sich durch die weite Verbreitung der Kategorienschrift des Aristoteles als philosophischer Fachausdruck fest etabliert. Das Unbehagen gegenüber diesem Begriff findet sich aber schon bei Cicero, Quintilian, Thomas von Aquin und anderen Philosophen, die „ousia“ ins Lateinische unter Bezugnahme auf die Wortbedeutung Seiendheit mit „essentia“ übersetzt haben. Das zu diesem Substantiv gehörende lateinische Verb „esse“ bedeutet sein, vorhanden sein, existieren, dasein, am Leben sein. Dadurch entfiel dann im Lateinischen allerdings wieder die umgangssprachliche Konnotation von Vermögen und Besitzstand, die bei dem altgriechischen Begriff „ousia“ gegeben ist: „Da macht es gegenüber dem scholastischen Begriff der essentia einen gewaltigen Unterschied, daß Ousia ein Wort der lebendigen Sprache ist und dort so etwas wie einen Besitzstand meint, also alles das, was zu einem Hof gehört, Haus und Scheune, Kühe und Geräte und die arbeitenden Menschen, die zur Familie gehören. Das alles ist Ousia, und nur wenn man das lebendig vollzieht - und für den Griechen war das selbstverständlich -, kann man begreifen, was Ousia als ein philosophischer Ausdruck für die Frage des Seins ist: etwas, was so selbstverständlich und zuverlässig da ist, wie der eigene Besitzstand da ist“ (Hans-Georg Gadamer: Die Gegenwartsbedeutung der Griechischen Philosophie, in: Hermeneutische Entwürfe, 2000, S. 101).
Die Welt der Erscheinungen
Es kann viele verschiedene Darstellungen einer Idee in der Welt der Erscheinungen geben, denn das Hervortreten der einzelnen Idee in einem Medium ist zugleich ein Auseinandertreten in die Vielheit. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge nehmen eine ontologische Mittelstellung zwischen dem wahrhaft Seienden und dem Nichtseienden ein (Platon, Politeia 478e). Sie sind nur, insofern sie etwas nicht sind, noch nicht sind oder nicht mehr sind (Stephan Grotz, a.a.O., S. 258). Sie sind als solche zusammengesetzt und der ständigen Veränderung unterworfen:
Man muss nun nach meiner Meinung zuerst Folgendes unterscheiden und feststellen: Wie haben wir uns das immer Seiende (to on aei), das kein Entstehen an sich hat, und wie das stets Werdende zu denken, welches niemals zum Sein gelangt? Das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft mit Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend (ontós de oudepote on). (Platon, Timaios 27d - 28a)
Zwischen der höheren Ideenwelt der unveränderlichen Dinge und der niederen Sinnenwelt der veränderlichen Dinge fand Platon ein Verhältnis, wie es zwischen Urbildern und ihren Nachbildungen besteht. Hier stehen aber nicht zwei Welten unverbunden oder gar verdoppelt auf derselben ontologischen Ebene nebeneinander, sondern die untere bezieht ihr eigentliches Sein aus der oberen. Die vergänglichen Dinge haben ihr wahres Sein durch die Teilhabe (méthexis) an der jeweiligen Idee. Der Demiurg als der Vater der Welt (Platon, Timaios 28c f.) hat aus der Materie die dingliche Welt gemäß der ewig seienden Idealwelt gestaltet. Die jeweilige vorgelagerte Idee ist in den durch sie ausgeformten real existierenden Dingen gegenwärtig (parousía). Die transzendenten Ideen sind also zugleich den Dingen immanent und der Grund dafür, dass das Einzelding den gleichen Namen trägt wie die Idee. Die Materie für sich allein existiert nicht. Zur Wirklichkeit wird sie erst durch die Ideen erweckt, die in ihr anwesend sind. Nur eine Prägemasse, die vollkommen gestaltlos ist, kann eingeprägte Gestalten gut aufnehmen (Platon, Timaios 50c ff.). Die Ideen wirken demnach formend wie urprägende Siegel auf die Materie. Der Bestand und der Wesensgehalt der erscheinenden Wirklichkeit wird durch das Reich der Ideen bestimmt. Die Erscheinungen bleiben dabei aber hinter der vollen Bestimmung ihres Wesens zurück. „In schroffem, unausgeglichenem Gegensatz stehen sich gegenüber das ‚reine‘, schlechthin unwandelbare Sein der Idee, und das fortwährend wechselnde, ‚auf alle Weise sich verhaltende‘ Pseudo-Sein der Erscheinung: jenes das ‚Sein, welches immer ist‘, dieses ‚umhergetrieben vom Werden und Vergehen‘“ (Paul Natorp: Platos Ideenlehre, 1921, S. 18).
Das defizitäre Sein der Erscheinungen steht dem wahren Sein der Ideen trotz ihrer Teilhabe gegenüber. Die Abweichung des Sinnendings von seiner Idee folgt auch aus der Unschärfe, die mit jeder Darstellung in einem Medium verknüpft ist (Gernot Böhme, a.a.O., S. 162). Die ontologische Aufgabe des Sinnendings ist es, sich seiner Idee anzunähern und so seine Bestform (arete) zu gewinnen. Es handelt sich bei den Ideen nicht um bloße gedankliche Abstrahierungen bzw. Generalisierungen aus dem vergänglichen Vielerlei der diesseitigen Realität. Vielmehr geht das Ideal der vergänglichen Weltwirklichkeit voraus. Die beiden Seinsbereiche stehen in einem dialektischen Zusammenhang und ergänzen sich: Das bleibende, ideale wesenhafte Sein erfüllt seine Begründungsfunktion gegenüber dem defizienten Sein des Vergänglichen, weil es ihm ontologisch überlegen ist. Zugleich ist aber das vergängliche Sein ein Werden auf das wesenhaft wahre Sein hin (genesis eis ousian, vgl. Martin Thurner: Trennung (chôrismos), in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 284 f.).
Ideenschau als Wiedererinnerung: Anamnesis
Ideen/Formen sind nicht über die sinnliche Wahrnehmung, sondern allein über die Vernunft zugänglich. Aus dem Begriff eidos(Form) wird deutlich, dass der Zugang zu ihnen über eine geistige Schau, die intuitive und unmittelbare Ideenschau, erfolgt. Es handelt sich bei den Ideen nicht um Gedankendinge (noêmata), sondern um in Gedanken Erkennbares (noêta). Die Ideen dürfen deshalb nicht als nur formale Allgemeinbegriffe missgedeutet werden. Aus der Seins- und Erkenntnisordnung des Liniengleichnisses wird deutlich, dass Platon dem Bereich der Ideen die noch über dem Verstand (dianoia) angesiedelte Vernunft (noesis, gelegentlich auch Wissenschaft, episteme) zugewiesen hat. Zu der Ideenlehre gehört auch die Lehre, dass die Seele eines Menschen bereits vor der Geburt die Ideen geschaut hat. Wissen von den Ideen zu erlangen besteht demnach in einer Wiedererinnerung (anámnesis, vgl. Platon, Menon 81d). Wissen ist für Platon also nicht Abstraktion, gewonnen aus Erfahrung und Überlegung, wie es sein Schüler Aristoteles annahm. Vielmehr ist für Platon etwa die Erkenntnis, dass zwei Gegenstände oder zwei Zahlensummen gleich groß sind, nur dadurch möglich, dass sowohl die Erkennenden als auch die wahrgenommenen Gegenstände an der Idee des Gleichen teilhaben. Die Erkenntnis kommt nach Platon dadurch zustande, dass wir ein vorgeburtliches Wissen apriorisch in unserer Seele besitzen, an das wir uns erinnern.
Wie nun die Seele unsterblich ist und oftmals geboren, und, was hier ist und in der Unterwelt, alles erblickt hat, so ist auch nichts, was sie nicht hätte in Erfahrung gebracht, so daß nicht zu verwundern ist, wenn sie auch von der Tugend und allem andern vermag sich dessen zu erinnern was sie ja früher gewußt hat. Denn da die ganze Natur unter sich verwandt ist, und die Seele alles inne gehabt hat: so hindert nichts, daß wer nur an ein einziges erinnert wird, was bei den Menschen lernen heißt, alles übrige selbst auffinde, wenn er nur tapfer ist und nicht ermüdet im Suchen. Denn das Suchen und Lernen ist demnach ganz und gar Erinnerung. (Platon, Menon 81c f.)
Der Nichtwissende hat selbst von dem, was er nicht weiß, demnach richtige unbewusste Vorstellungen, die angeregt durch Fragen zu Erkenntnissen werden können. Wenn Platon davon spricht, dass die Seele bereits vor ihrer Geburt an einem anderen Ort das geschaut hat, was aktuell in einem Prozess der Erkenntnis geboren wird, so verweist er damit auf das Reich der Ideen. Letztlich handelt es sich um eine Metapher, um das Wesen der theoretischen Leistung zu erklären. Gadamer weist darauf hin, dass Anamnesis nicht zu etwas Identischem zurückführt, sondern enthüllt, wie die Dinge wirklich sind: „Die Freude des Wiedererkennens ist vielmehr die, dass mehr erkannt wird als nur das Bekannte. In der Wiedererkenntnis tritt das, was wir kennen, gleichsam wie durch eine Erleuchtung aus aller Zufälligkeit und Variabilität“ (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, S. 119). Gedankliches Erfassen wird so zu einer unmittelbaren Schau im Sinne eines nicht-diskursiven Ergreifens wie mit den Augen Gottes (Christian Schäfer, a.a.O., S. 159). Die Erkenntnis des Seienden ist im Letzten nicht sprachlich, sondern ereignet sich dort, wo es jemandem gelingt, die Natur des einzelnen Seienden in dem, was es ist, mit der Seele zu berühren (Gernot Böhme, a.a.O., S. 362).
Dialektik als Methode: Dihairesis und Synagoge
Dialektische Grundbegriffe
Die Aufgabe der Dialektik ist es, das Seiende durch den Begriff oder durch das Argument offenzulegen. Erst der Durchgang durch alles verschafft wirkliche Einsicht. Man geht von Hypothesen aus und bespricht dann durch Fragen und Antworten entgegengesetzte Argumente und Positionen. Zu den dialektischen Grundbegriffen gehören:
Eines und Vielheit,
Grenze und Unbegrenztes,
Gutes und Schlechtes,
Teil und Ganzes,
Anfang, Mitte und Ende,
Ort und Zeit,
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit,
Gleichheit und Ungleichheit,
Identität und Verschiedenheit,
Bewegung und Ruhe.
Die dialektischen Grundbegriffe oder „Seinskategorien“ werden im Dialog Sophistes als „oberste Gattungen“ bezeichnet (Platon, Sophistes 254c). Tatsächlich handelt es sich dabei aber letztlich nur um Aspekte und Umformulierungen der Prinzipien, die nach dem Zeugnis von Aristoteles (Metaphysik 1084a 33-36) diesen selbst zugeordnet werden und insofern höheren Rang als selbst die Zahlen haben, weil sie alles Seiende, die Zahlen eingeschlossen, übergreifen. Es soll die normativ maßgebende Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig festgestellt werden (Mesotes). Die Entsprechungen zwischen einem maßgeblichen Urbild und den vielfältigen Nachbildungen sind zu erforschen (Mimesis) (vgl. Szlezák, a.a.O., S. 281-283).
Untersuchung des Ideengefüges
Bei der Dialektik geht es um das Gute selbst, die oberste Einheit, als Ziel menschlicher Erkenntnis. Der Philosoph darf sich von der Vielheit in der Welt des Werdens und Vergehens nicht verwirren lassen. Er erkennt die Ideen als Einheit in der Zusammenschau der Vielfalt. Mit Frage und Antwort, Begründung und Rechenschaft wird ein Thema behandelt. Es geht um Deduktionen, Analysen, Zusammenschau und Wesensbestimmung, wobei alle wesensbestimmenden Merkmale zu berücksichtigen sind. Der Philosoph gibt Rechenschaft und Gründe, wenn er den Logos einer Sache formuliert. Die Dialektik umfasst zwei Verfahrensweisen, die sich als Grundlage für die Wesenserkenntnis ergänzen: die vom Einzelnen aufsteigende Zusammenführung bis zur obersten Gattung (synagoge) und das vom Allgemeinen zum Einzelnen absteigende Trennen in Untergattungen und Arten bis zu einer nicht mehr weiter unterteilbaren Unterart (dihairesis). Das Ziel ist das Erfassen eines wirklichen Eidos. Grundlage für dieses Verfahren „ist die allem zugrunde liegende Verwandtschaft der Dinge mit stufenartig angeordneten Ebenen von Einheit und Vielheit“ (Michael Erler: Platon, 2007, S. 369).
Die Kunst der Dialektik will Erkenntnisse über die Ideen erlangen. Sie untersucht die Gemeinschaft der Ideen, deren Einheit und Vielheit und deren Relationen. Die Beziehungen der Begriffe untereinander, insbesondere Trennungs- und Verbindungsverhältnisse werden analysiert (Michael Erler: Platon, 2007, S. 244). Dialektik ist dabei eine Messmethode und das Gute/das Eine dient als das Maß. Bei den dialektischen Gesprächen wird ein freundschaftlicher Umgang gepflegt und man lässt sich von dem leiten, worüber bei den Gesprächspartnern Übereinstimmung besteht (Platon, Menon 75c-d; Michael Erler: Platon, 2007, S. 171). Dabei wird der Beifall der unkritischen Menge verschmäht (Platon, Gorgias 474a). Nur mittels des Wortes und Gedankens soll ohne alle Wahrnehmung zu dem vorgedrungen werden, was jedes wahrhaft ist. Von der Untersuchung soll nicht eher abgelassen werden, bis das Gute selbst in der höchsten Einsicht erfasst wird. Die Idee des Guten wird ausdrücklich als erkennbares Gebilde charakterisiert und ihrerseits im und nicht neben dem Bereich des Intelligiblen angesiedelt: „Nicht wahr, mein Glaukon, sprach ich, das ist erst die wahre Hauptmelodie, die von der Kunst der Dialektik durchgeführt wird? Von ihr, die nur durch die Vernunft ausgeführt wird, dient uns das Vermögen des Gesichtes als Bild, das nach unserer obigen Darstellung die Tiere selbst, die Gestirne selbst und die Sonne selbst anzuschauen strebt. Ähnlich geht es auch, wenn jemand ohne alle Beihilfe der Sinne nur mittels der begrifflichen Tätigkeit des Verstandes zum wesenhaften Sein eines jeden Dinges dringt, und wenn er nicht ablässt, bis er das Wesen des Guten erfasst hat, dann ist er an dem Ziele des Denkbaren, gerade wie einer in jenem Bilde, bei der Sonne selbst, am Ziele des Sichtbaren.“ (Platon, Politeia 532a)
Die Dialektik gebietet es, das Einzelne im Kontext des Ganzen zu betrachten. Die Seinsebenen sind nicht voneinander trennbar, die höheren durchdringen die niedrigeren und bestimmen sie in ihrem Seinssinn (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 12). Zwischen dem Einen und dem Unendlichen ist durch eine Zahl zu vermitteln, nämlich durch eine endliche Anzahl von Differenzierungen (Gernot Böhme, a.a.O., S. 144 f.). Es gilt, Identität und Diversität in der Ideenstruktur zu erkennen. Das Ziel besteht darin, das Wesen von etwas zum einen zusammenschauend zu erfassen und begrifflich zu bestimmen (synagoge) und zum anderen es auch wieder nach Begriffen, aus denen es zusammengesetzt ist, zerteilen zu können (dihairesis) (Platon, Phaidros 265d–e). Was ist die durch viele Einzelideen überallhin ausgespannte Idee, wie kann eine Gattung identifiziert werden? Wie werden viele voneinander verschiedene Ideen von einer Idee von außen umfasst, wie zergliedert sich die Gattung? Wie wird eine Idee durch viele Einzelideen hindurch in einer Einheit zusammengeführt, so dass eine Mannigfaltigkeit vollständig bestimmter abgegrenzter Einheiten entsteht? Wenn Platon die Verfahrensweisen der Dialektik als Zusammenführung (synagoge) bzw. Trennung (dihairesis) versteht (Platon, Phaidros 266b-c), so meint er der Sache nach, dass sich im einen Fall aus einer Vielheit von je distinkten Ideen so etwas wie die allgemeinste Idee, im anderen Fall aber aus dem fortschreitenden Prozess der Teilung einer allgemeinsten Idee so etwas wie nicht mehr weiter sezierbare begriffliche Einheiten gewinnen lassen (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 171).
Austaxierung des Begriffsfelds
Durch die Dihairesis sollen die Unterschiede im Ideengefüge ausgedrückt werden, durch die sich eine Gattung (genos) in ihre Arten (eide) sowie Unterarten und ein allgemeinerer Begriff in jeweils speziellere Begriffe in eine Baumstruktur zergliedert. Mithilfe der dihairetischen Methode sollen die Vielheit der Erscheinungsformen und die Einheit des Wesens gefunden werden. Die Dihairese offenbart die organische Struktur der Ideenwelt. Dihairesis bedeutet Zergliederung, Einteilung, Trennung und bezeichnet damit bei Platon die methodisch durchgeführte Einteilung von Ideen (Michael Schramm: Dihärese/Dihairesis (dihairesis), in: Christian Schäfer, Platon-Lexikon, 2007, S. 92; Margot Fleischer: Hermeneutische Anthropologie. Platon, Aristoteles, 1976, S. 138). Für die Eigenart des einzelnen Glieds (eidos) und seine Stellung im Ganzen ist der Logos charakteristisch, der die Beziehung der Teile untereinander angibt und so auch ihr Verhältnis zum Genos bestimmt. Bei der Ausgliederung der einzelnen Ideen aus den höheren Einheiten handelt es sich in der Regel um eine Dichotomie. Bei jeder neuen Aufteilung wird die Anzahl der Glieder verdoppelt. Dabei dürfen keine willkürlichen Unterscheidungen in die Dinge hineingetragen werden. Es sind nur Unterschiede zulässig, die die Gattung oder eine davon gebildete Unterart sachgerecht nach ihren natürlichen Gelenken (kat' arthra) oder Gliedern (kata mele) zerlegen, ohne nach der Art eines schlechten Kochs einen Teil zu zerbrechen (Platon, Phaidros 265e). Bei der fortschreitenden organischen Differenzierung dürfen die Mittelglieder nicht übersprungen werden.
Die richtige Bestimmung soll durch einen stetigen Fortgang vom Allgemeinen zum Besonderen gefunden werden. Durch eine vollständige und methodische Aufzählung der Arten und Unterarten soll der ganze von einem obersten Gattungsbegriff umfasste Bereich begrifflich ausgemessen werden (F. P. Hager: Dihairesis, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 242 f.). Neben der vertikalen Ableitung vom Genos zum Eidos und von diesem in weitere Unterideen ist deshalb für das Verfahren der Dihairesis auch die jeweils horizontale Gliederung von Bedeutung. Die in der Oberidee angelegten Differenzierungsmöglichkeiten und charakteristischen Ausprägungen sollen durch die Zahl der Unterideen systematisch entfaltet werden (Gernot Böhme, a.a.O., S. 115). Die Unterteilungen der Begriffe sind in der vertikalen Ableitung bis zu dem Punkt hin aufzusuchen, wo die regelmäßige Gliederung des Begriffs aufhört und die unbestimmte Mannigfaltigkeit der Erscheinung beginnt. Das nicht mehr weiter teilbare Eidos (atomon eidos) markiert die Grenze zwischen der Ideenwelt und der Welt der Erscheinungen. Durch diese dialektische Methode kann das gegenseitige Verhältnis der Begriffe untereinander erst richtig festgestellt werden (Hager, a.a.O., Sp. 242 f.; instruktiv die mathematische Betrachtung von Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 3. Aufl. 1998, dort zur Dihairesis insbes. S. 125 ff.; Platon, Phaidros 265e; Politikos 285a; Philebos 16c ff.). Die Dihairesis ermöglicht die Klassifizierung und Subsumierung der Ideen in den Verhältnissen einer Gattung-Art-Logik. Dies setzt aber die inhaltliche Bestimmung und wesenhafte Erkenntnis der beteiligten Ideen und damit das intuitive Erfassen des Ganzen durch eine lange und intensive Beschäftigung damit bereits voraus. Dihairesis ist Explikation der eigentlichen, bereits gewonnenen Erkenntnis (Peter Kolb: Platons Sophistes. Theorie des Logos und Dialektik, 2001, S. 42 ff.). Sie dient der Klarheit und Deutlichkeit.
Da wir nun zugestanden haben, daß auch die Begriffe sich gegeneinander auf gleiche Weise in Absicht auf Mischung verhalten: muß nicht auch mit einer Wissenschaft seine Reden durchführen, wer richtig zeigen will, welche Begriffe mit welchen zusammenstimmen, und welche einander nicht aufnehmen? Und wiederum ob es solche sie allgemein zusammenhaltende gibt, daß sie imstande sind sich zu vermischen? Und wiederum in den Trennungen, ob andere durchgängig der Trennung Ursache sind? [...] Das Trennen nach Gattungen, daß man weder denselben Begriff für einen andern, noch einen andern für denselben halte, wollen wir nicht sagen, dies gehöre für die dialektische Wissenschaft? [...] Wer also dieses gehörig zu tun versteht, der wird eine Idee durch viele einzeln voneinander gesonderte nach allen Seiten auseinandergebreitet genau bemerken, und viele voneinander verschiedene von Einer äußerlich umfaßte, und wiederum Eine durch viele Ganze hindurch in einem zusammengeknüpfte, und endlich viele gänzlich voneinander abgesonderte. Dies heißt dann, inwiefern jedes in Gemeinschaft treten kann und inwiefern nicht, der Art nach zu unterscheiden wissen (Platon, Sophistes 253b ff.).
Die dialektische Entfaltung jeder einzelnen Wissenschaft hat so zu erfolgen. Die Vernunft soll bis zum voraussetzungslosen letzten Prinzip, dem Anfang von allem, gelangen. Es handelt sich um die ursprüngliche Idee. Für jede einzelne Wissenschaft ist dies die Idee ihres Gegenstands (Gernot Böhme, a.a.O., S. 130). Dieses letzte Prinzip hat die Vernunft zu ergreifen und sich dann an alles zu halten, was mit ihm zusammenhängt. Dann ist von diesem voraussetzungslosen Anfang her schrittweise durch eine vollständige Zerlegung der Ideen bis zum Ende hinabzusteigen, ohne sich eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstands zu bedienen.
Das Potential der voraussetzungslosen, ursprünglichen Idee ist vollständig auszuschöpfen. Durch die systematische Entfaltung der Differenzierungsmöglichkeiten erhält man eine endliche Anzahl von Unterideen. Der Abstieg darf nur mittels Ideen erfolgen, um so am Ende zu den Ideen zu gelangen (Platon, Politeia 511b f.). Er ist eine Explikation des für die jeweilige Wissenschaft maßgeblichen Einen und erfolgt in einer schrittweisen Differenzierung der grundlegenden Idee bis hin zur vollständigen Aufzählung aller zu dieser Wissenschaft gehörenden Gegenstandstypen und ihrer Darstellung als eines Systems (Gernot Böhme, a.a.O., S. 130).
Bestimmung, wasetwas ist
Neben der klassifizierenden Aufgabe, eine Ideen-Gattung vollständig in ihre Arten zu zergliedern und zu beschreiben, welche Arten die Gattung umfasst, dient das Verfahren der Dihairesis der definitorischen Wesensbestimmung, was etwas ist (Margot Fleischer, a.a.O., S. 138 f.). Im Gegensatz zu einer Dihairesis, mit der eine vollständige Austaxierung eines Begriffsfeldes angestrebt wird (Platon, Philebos 16c ff.), geht die definitorische Anwendung nur denjenigen Unterbegriffen weiter nach, unter welche der Untersuchungsgegenstand jeweils fällt. Der Begriff wird ausgehend von der Gattung (genos) über die Arten und Unterarten von allen kontextnahen Begriffen deutlich unterschieden. Es ist so lange eine möglichst dichotomische Zergliederung in immer speziellere Begriffe vorzunehmen, bis man zu einem nicht mehr weiter teilbaren Begriff (atomon eidos) als unterster Grenze der Dihairesis gelangt. Die Merkmale, durch die der Begriff in seiner logischen Bestimmtheit gedacht wird, werden möglichst vollständig aufgelistet. Durch die Zusammenführung (synagoge) aller Unterscheidungsmerkmale, die sich bei den einzelnen Gliederungsschritten als auf den Untersuchungsgegenstand zutreffend erwiesen haben, ergibt sich die definitorische Wesensbestimmung (Hartmut Westermann: dihairesis, in: Christoph Horn, Christof Rapp (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, 2. Aufl. 2008, S. 111). Platon zeigt dies an dem Übungsbeispiel der Angelfischerei. Das Ergebnis ist einfach, weil die Dihairesis hier kein eigentliches Erkenntnisproblem betrifft.
Nun also sind wir, du und ich, von der Angelfischerei nicht nur über den Namen einig, sondern haben auch die Erklärung über die Sache selbst zur Genüge erlangt. Denn von der gesamten [Handwerks-] Kunst war die eine Hälfte die erwerbende [im Gegensatz zur hervorbringenden], von der erwerbenden die bezwingende [im Gegensatz zur gutwillig umsetzenden], von der bezwingenden die nachstellende [im Gegensatz zur offen kämpfenden], von der nachstellenden die jagende [im Gegensatz zur dem Leblosen nachstellenden], von der jagenden die im Flüssigen jagende [im Gegensatz zu der auf dem Land jagenden], von der im Flüssigen jagenden war der ganze untere Abschnitt die Fischerei [im Gegensatz zur (Wasser-) Vogeljagd], von dieser ein Teil die verwundende [im Gegensatz zum Netzfang], von der verwundenden die [bei Tage stattfindende] Hakenfischerei [im Gegensatz zum nächtlichen Fackelfang], und von dieser hat uns die Art vermittelst einer von unten nach oben gezogenen und den Fisch daran hängenden Wunde den der Tat selbst nachgebildeten Namen der Angelfischerei erhalten [im Gegensatz zur Harpunenfischerei] (Platon, Sophistes 221 a f.).
Das Atomon Eidos
Die Teilung kommt bei der Dihairesis zu einem Ende, wenn das Atomon Eidos erreicht wird. Hier findet der Übergang von der Idee zu den einzelnen Erscheinungen statt (Gaiser, a.a.O., S. 133). Dieses reich gegliederte Ganze schließt alle Stufen der vorausgehenden Zerteilung in neuer Weise in sich ein. „Das Atomon Eidos ist also ebenso gegliederte Einheit wie das erste Genos, in dem die Vielheit der einzelnen Arten (Eide) von Anfang an aufgespeichert ist. Zum Unterschied von den Zwischengliedern der Dihairesis ist das Atomon Eidos dadurch ausgezeichnet, dass sich in ihm die inhaltliche Fülle des Genos erschöpft: der Prozess der Ausgliederung kann nicht mehr weitergehen, weil das Genos zur weiteren differenzierenden Bestimmung des Eidos nichts mehr hergeben kann. Im letzten Eidos schmelzen die Prädikationen, die im Genos ursprünglich angelegt sind und die die Definition (den Logos) des Eidos ausmachen, zu einer neuen Einheit zusammen. […] Die Gleichheit des Atomon Eidos und des ersten Genos […] zeigt sich also daran, dass man den Weg der Dihairesis mathematisch auch umgekehrt – als Zusammenfassung des Einzelnen zum Ganzen, Zurückführung vom Abhängigen zum Ursprünglichen – gehen kann, ohne dass sich die mathematischen Ordnungen und Verhältnisse ändern“ (Gaiser, a.a.O., S. 140). Die Zerteilung des Ganzen (Dihairesis) und die Zusammensetzung des Einzelnen aus Teilen sind mathematisch gesehen der gleiche Vorgang (Gaiser, a.a.O., S. 165). Dialektische Bewegung ist zugleich Aufstieg und Abstieg, das oberste und das unterste Glied der Dihairesis sind letztlich „dasselbe“. In der letzten Bestimmtheit des Atomon Eidos spiegelt sich die gesamte Gliederung seiner Bedeutungsumwelt, d.h. die Summe dessen, was von ihm gültig ausgesagt werden kann. „Was in den einzelnen Besonderungen entfaltet erscheint, liegt in den oberen, höheren, zusammenfassenden Ideen bereits darin; denn es wird ja durch die bloße Anwendung der Zweiheit, Teilung und Verdoppelung zugleich, abgeleitet“ (Julius Stenzel: Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 115).
Herleitung der Ideenlehre
Platon entwickelte Überlegungen zu einer Existenz von Ideen vermutlich ausgehend von der sokratischen „Was ist X?“– Frage (Was ist das Schöne? Was ist das Gerechte? Was ist das Gute), die im Zusammenhang der Entwicklung des Konzepts der Definition steht. Bereits Platons Lehrer Sokrates hatte sich intensiv darum bemüht, das absolut und für jedermann Geltende auf dem Gebiet der Ethik zu finden. Er wollte die Unhintergehbarkeit moralischer Normen aufzeigen. Wenn ein einzelner Mensch gerecht ist, so kann dies erfahren und erkannt werden. Was ist aber das allgemein Gerechte? Die Gestalt oder Idee hinter den vielen Einzelerscheinungen kann nur durch eine Erkenntnis a priori gefasst werden. Schon Sokrates suchte nach dem Allgemeinen und nach dessen Definitionen. Damit hat er für Platon einen wesentlichen Anstoß zur Entwicklung der Ideenlehre gegeben.
Es wäre aber zu einfach gedacht, die Wurzeln der Ideenlehre ausschließlich bei Sokrates zu suchen. Ihre Entstehung verdankt sich vielmehr einem weit umfassenderen philosophischen Kontext. Beeinflusst wurde die Ideenlehre Platons auch durch die orphischen Mysterien, die pythagoreische Philosophie, die Lehre Heraklits vom Wechsel der Dinge und die Lehre der Eleaten vom unveränderlichen Sein. Platon integrierte diese Gedanken auf einem höheren Niveau und bildete eine neuartige Synthese: Die Gegenstände der Erfahrung sind durch stetige Veränderung und Wandel geprägt. Noch während von einer Erfahrungsvorstellung gesprochen wird, verschwindet sie und weicht einer anderen. Die in der Wahrnehmung erscheinenden veränderlichen Dinge besitzen also keine wahre, dauerhafte Realität. Die Gattungsbegriffe, Formen und Ideen, durch die wir das wahrgenommene Einzelseiende überhaupt erst denken können, sind dagegen nicht der Veränderung unterworfen. Diese sind also das wahrhaft Seiende.
Einfluss auf die Entwicklung der Ideenlehre hatten zudem die Gegenstände der Mathematik, insbesondere der Geometrie. In der sinnlich wahrnehmbaren, diesseitigen Realität gibt es nur mehr oder weniger unvollkommene einzelne kreisförmige Dinge, die definierende Beschreibung des Kreises ist ein Akt des mathematischen Verstandes, die Erkenntnis des Kreises an sich geht über die sinnliche Wahrnehmung hinaus. Die Vollkommenheit der Kreisform beruht demnach nicht auf einem tatsächlichen, sondern auf einem geistigen Prinzip. Diesem kommt eine höhere Wahrheit zu als dem in der Natur gefundenen Abbild eines Kreises (Platon, Politeia 510d). Dieses Verhältnis von Idee zu Abbild wird dann von Platon zunächst herangezogen, wenn es um das Sein an sich geht: das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte und das Fromme (Platon, Phaidon 75c f.). Schließlich wird dieses Verhältnis von Platon so weit verallgemeinert, dass hinter zahlreichen einzelnen empirischen Erscheinungen als Urbild eine Idee angenommen wird. Und in umgekehrter Richtung zeigt die Zahlenreihe die sukzessive Entfaltung der Einheit in die Vielheit. Die Ordnung zeigt sich als durch Einheit strukturierte Vielheit (vgl. dazu ausführlich Konrad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften, in: Antike und Abendland 32 (1986), S. 89 ff.). Die Mathematik gewinnt so gegenüber der Philosophie eine propädeutische Funktion (Christian Schäfer, a.a.O., S. 159). Sie vermag aber über die Zahlen hinaus nichts von der Seinsfülle und Qualität der Wirklichkeit zu erfassen. Die Ideenlehre wird damit zu einer Überwissenschaft, die sich hinter den mathematischen Disziplinen auftut (Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, 1978, S. 25).