Humanismus ist eine Weltanschauung, die sich an der Würde des Menschen orientiert und nach Menschlichkeit strebt. Er ist das Bemühen um eine der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung entsprechende Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft durch Bildung und Schaffung der dafür notwendigen Lebensbedingungen (Humanismus, in: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Bd. 12, Mannheim 2006, S. 777 f.; vgl. auch Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 2007, S. 854 und Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 2006, S. 747, bei deren Definition des Begriffs Humanismus Menschenwürde und Menschlichkeit ebenfalls begriffsprägend verwendet werden). Der klassische Humanismus wurde in seiner verzweigten geschichtlichen Entwicklung insbesondere durch Platon und Cicero inspiriert. Sein Menschenbild greift auf das griechisch-römische Bildungsideal zurück (Duden a.a.O., S. 854; Alfred Noe: Humanismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, 1998, Sp. 1: an der Antike ausgerichtetes Bildungsprogramm). Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen nichtbürgerliche Humanismuskonzepte, die sich von dem Rückgriff auf die Antike entfernen (Arnold Ruge, Karl Marx, Jean-Paul Sartre, Erich Fromm). Sie treten konkurrierend neben den klassischen Humanismus.
Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit gelten heute als wichtige humanistische Prinzipien menschlichen Zusammenlebens. Die eigentlichen Fragen des Humanismus sind aber: „Was ist der Mensch? Was ist sein wahres Wesen? Wie kann der Mensch dem Menschen ein Mensch sein?“ Humanismus bezeichnet die Gesamtheit der Ideen von Menschlichkeit und des Strebens danach, das menschliche Dasein zu verbessern. Der Begriff leitet sich ab von den lateinischen Begriffen humanus (menschlich) und humanitas (Menschlichkeit). Der Humanismus beruht auf folgenden Grundüberzeugungen (vgl. auch Wolfgang Förster: Humanismus, in: Hans J. Sandkühler u.a. (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, 1990, S. 560 ff.):
Das Glück und Wohlergehen des einzelnen Menschen und der Gesellschaft bilden den höchsten Wert, an dem sich jedes Handeln orientieren soll.
Die Würde des Menschen, seine Persönlichkeit und sein Leben müssen respektiert werden.
Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst formt. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich zu bilden und weiterzuentwickeln. „Werde, der du bist!“ (Pindar, zweite pythische Ode)
Die schöpferischen Kräfte des Menschen sollen sich entfalten können.
Es ist ständig zu prüfen, wie es gelingen kann, das Beste in anderen und in uns selbst hervorzubringen.
Die menschliche Gesellschaft soll in einer fortschreitenden Höherentwicklung die Würde und Freiheit des einzelnen Menschen gewährleisten.
Die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens im Angesicht von Hunger, Krieg, Krankheit und Gewalt erfordert humanitäre Solidarität.
Humanität ist die praktische Umsetzung der Ideen des Humanismus (Förster, a. a. O., S. 560). Humanität huldigt dem Ideal des edlen Menschentums und der Menschenliebe. Das Individuum wird geachtet. Es herrscht Toleranz unabhängig von Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität. Es besteht die Bereitschaft zur Hilfe in körperlicher und geistiger Not. „Die biologischen Wurzeln der Humanitas sind bei frühen Säugetiervorfahren: Brutpflege; später bei unseren Primatenvorfahren: Sozialverhalten, reziproker Altruismus, attraktives Verhalten, Internalisation, das Gefühl der Verpflichtung, wenn einem eine altruistische Handlung zugutegekommen ist; bei frühen Hominoidenvorfahren: die Fähigkeit zur Selbstexploration, Perspektivenübernahme und Empathie und beim Menschen Wort-Sprache, Reflexion und verantwortliche Moral“ (Humanität, in: Lexikon der Biologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1999). Aus der Einsicht, dass der Mensch aus krummem Holz geschnitzt ist gemessen am absoluten Ideal wahren Menschseins, folgen Güte und Mitgefühl für die Schwächen der Menschen. Die Menschenfreundlichkeit (philanthropia) ist ein Teilaspekt der Humanität. Zugleich folgt daraus ein Bildungsauftrag an den Menschen, sich selbst dem eigenen Ideal anzugleichen (paideia). Dazu gehört es, seiner selbst inne und mächtig zu werden und sich im Mitmenschen selbst wiederzufinden. Das Ziel des Humanismus ist die Bewahrung des Menschen vor Barbarei und Bestialität durch Bildung.
Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten, du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt (Giovanni Francesco Pico della Mirandola: Oratio de dignitate hominis [Über die Würde des Menschen] (1496), hrsg. von August Buck, 1990, S. 5 f.).
Epochen des Humanismus
Die griechische Bildung als Vorbild: Paideia
Humanistisches Denken ist geprägt durch den Rückgriff auf das antike Ideal einer ethisch-kulturellen Höchstentfaltung der menschlichen Kräfte (arete). Dabei diente insbesondere die griechische Bildung (paideia) als ein Vorbild für spätere Humanismen. Da dem griechischen Vorbild das für den klassischen Humanismus konstitutive Strukturmerkmal des Wiederaufnehmens fehlt, kann von einem antiken griechischen Humanismus nicht gesprochen werden. Das Vorbild ist nur die belebende Quelle der nachfolgenden Humanismen und hat diese inspiriert, ohne selbst ein Humanismus zu sein. Gleichwohl ist diese Quelle für das Verständnis des klassischen Humanismus wesentlich. „Zu den Quellen“ (ad fontes) war bereits ein Motto der Renaissance-Humanisten, die damit eine Rückbesinnung auf die Originaltexte der griechischen und römischen Antike forderten: „Sed in primis ad fontes ipsos properandum, id est graecos et antiquos“ [aber zuerst gilt es, zu den Quellen selbst zu eilen, das sind die Griechen und die Alten] (Erasmus von Rotterdam: De ratione studii ac legendi interpretandique auctores (1511), in: Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia. Ord. I., Vol. II, hrsg. v. J. H. Waszink u. a., 1971, S. 120).
Der delphische Spruch gnothi seauton (erkenne dich selbst) bedeutete nicht nur: „Erkenne deine Nichtigkeit und denke daran, dass du ein Mensch und kein Gott bist“, sondern auch: „Erkenne deine wunderbare Anlage, deine hohe Bestimmung, deine Würde und deine Pflicht“ (Friedrich Klingner: Humanität und Humanitas, in: Römische Geisteswelt, 1979, S. 728 f.). Im Sinne des delphischen Spruchs dichtete Pindar:
In kurzer Zeit wächst den Menschen
das Erfreuliche; so aber fällt es auch zu Boden...
Eintagswesen. Was ist einer? Was ist einer nicht? Eines Schattens Traum
Der Mensch. Doch wenn gottgegebener Glanz kommt
Ist ein strahlendes Licht auf den Menschen und das Leben ist freundlich.
(Pindar, Pythien 8.92-97; zitiert nach Thomas A. Szlezák: Was Europa den Griechen verdankt, 2010, S. 130).
Apollon, der Gott von Delphi, war ein Gott der bewusstmachenden Wahrheit, des Maßes, der inneren Ordnung und der Reinheit. Er wies dem Menschen, den er als ein in der Zeit gebundenes und auf den Tod hin entworfenes Wesen ansprach und an seine Grenzen erinnerte, „den ihm zukommenden Ort […] in der großen Ordnung von Himmel und Erde an“ (Wolfgang Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, 1975, S. 25). Nur der richtig orientierte, geordnete und gerechte Mensch ist zum wahren Dienst an der Gottheit fähig.
Apollon im Palatin Antiquarium in Rom
In der höfischen Kultur zur Zeit Homers wurde ein aristokratisches Menschenbild idealisiert. Die immer wieder auf Bewährungsproben gestellte Leistungskraft führt zu Besitz, Ruhm und Ehre. Der homerische Held vermag die Lanze zu führen. Ebenso ist er zur sachkundigen Rede im Rat und in der Versammlung fähig (Homer, Ilias 9, 442). Er beherrscht wie Achilleus das Lyraspiel. Ritterlichkeit, Höflichkeit, weltmännische Gewandtheit und Einfühlungsvermögen zeichnen ihn aus. In der Zeit der Polis wurden dann ab dem 7. Jahrhundert eher die staatstragenden Tugenden betont. Gehorsam gegenüber den Gesetzen und die Hingabe des Lebens für die Polis dienten als Leitbilder der Unterordnung unter das Ganze.
Zwei der frühen griechischen Philosophen sind Heraklit und Protagoras. Drei der auf sie zurückgehenden Lehren lauten:
panta rhei (alles fließt).
Aus Allem Eins und aus Einem Alles.
Der Mensch ist das Maß aller Dinge (panton chrematon).
Diese drei Aussagen haben das weitere Denken nachhaltig beeinflusst. Sie behaupten, dass alles einem ewigen Wandel unterworfen sei (Lehre vom Fluss aller Dinge); zugleich könne der Mensch die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit erkennen und sich selbst als Teil einer Ganzheit begreifen (Lehre von der Einheit aller Dinge); es gebe keine moralischen oder gesetzlichen Absolutheiten, und der Mensch als schöpferisches Wesen sei die höchste Autorität im Universum, denn nicht die Götter sind die Quelle und das Maß von Gerechtigkeit und allem anderen (Lehre des Relativismus). Protagoras hat den Homo-mensura-Satz selbst wohl primär erkenntnistheoretisch und nicht individuell ethisch gemeint, möglicherweise aber kollektivistisch ethisch in dem Sinne, dass die Menschen einer Polis gemeinsam entscheiden, was bei ihnen gelten soll. „Aller Dinge Maß ist der Mensch“ führt in der Konsequenz gleichwohl zu einem Relativismus in der Ethik (vgl. zur Entdeckung des Relativismus Thomas A. Szlezák, a.a.O., insbes. S. 169 f.). In der griechischen Antike wurde die Idee von der Einheit und Gleichheit der Menschen geboren. Ein bedeutender Beitrag hierzu war der Gedanke, dass Gleiches gleich zu behandeln ist (Aristoteles, Nicomachische Ethik V.3. 1131a10-b15). Die Anfänge für die Idee der Gleichheit aller Menschen finden sich aber wohl schon im demokratischen Flügel der Sophistik (Förster, a.a.O., S. 560). Es bestand ein großes Vertrauen in die kreativen Leistungen des Menschen und in seine Fähigkeit, das Leben selbstbestimmt zu gestalten. Das spezifisch Menschliche wurde in der Begabung zu Vernunft und Geistigkeit gesehen. Doch zugleich wurden auch der Zwiespalt und die Doppelgesichtigkeit des Menschen erahnt: seine Begabung zu Größe und Schrecken, zu Macht und Dämonie, zu Gutem und zu Schlechtem.
Ungeheuer: viel.
Aber ungeheurer als der Mensch: nichts.
Über das graue Meer
zieht er
im heftigen Südsturm geraden Wegs
durch die ringsum tosenden Wogen.
Der Güter höchstes, die Erde,
die unzerstörbare, niemals ermattende
müht er ab.
Mit den Pflügen,
Jahr für Jahr von den Pferden gewendet,
wühlt er sie auf.
Und das Geschlecht der flüchtigen Vögel
umgarnt und fängt er
und die Stämme der wilden Tiere
und die Früchte des Meeres im Wasser.
Er fängt sie mit geflochtenem Netz,
der ringsum verständige Mensch.
Mit vielerlei Kunst besiegt er das schweifende Wild auf
den Höhn
und den mähnigen Nacken des Pferdes
und den unermüdlichen Stier auf den Bergen
unterwirft er dem Joch.
Und Rede und luftleichten Sinn
und städteordnenden Fleiß erlernte er wohl.
Lernte zu fliehen
die Gastlosigkeit eisiger Berge
und die Geschosse des Regens. Reich an Erfahrung.
Nie trifft ihn, als Unerfahrenen, Zukunft.
Nur vor dem Tode weiß er keinen Rat.
Aber die Krankheit zu fliehn,
auch die schlimmste,
gut versteht das der Mensch.
Weit über Erwarten begabt
mit Können und Geist
schreitet er einmal zu Schlechtem,
einmal zu Gutem.
Ein Freund der Stadt,
erfüllt er das Gesetz der Götter
und das beschworene Recht.
Ein Feind der Stadt,
tut er das Schlechte,
frevelt, dem trotzigen Wagnis zuliebe.
Nicht sei mir Tischgenosse,
nicht Gleichgesinnter,
wer solches tut.
(Sophokles: Antigone, übers. von Walter Jens)
In der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. wurde in der Athener Demokratie die Paideia entwickelt. Dabei handelt es sich um das Ideal einer umfassenden geistigen und körperlichen Bildung des Menschen. Es ist das, was einer als sein Wesen bestimmend aus der Jugend mitbringt. Dieser menschlichen Prägung wurde eine größere Bedeutung beigemessen als der durch die Geburt erworbenen Zugehörigkeit. Der Kerngedanke der Paideia betrifft dabei aber nicht nur den Schulunterricht für Kinder, sondern die Hinwendung des Menschen zum Denken des Maßgeblichen. Der Begriff leitet sich von der Erziehung des Kindes ab (paideuein), meint aber schon früh die Bildung, die ein Jugendlicher erhält und die ihn sein Leben lang prägt. Der Begriff paideia wurde sowohl von den Sophisten als auch von Sokrates, Platon und Aristoteles benutzt. Paideia bedeutet zum einen den Vorgang der Kindererziehung und zum anderen das Ergebnis dieses Erziehungsprozesses, nämlich die Bildung. Die gymnastische Paideia bezieht sich auf das körperliche Ebenmaß (symmetria) und die musisch-philosophische Paideia bezieht sich auf die seelisch-geistige Harmonie (kalokagathia). Später wird paideia als Synonym für Zivilisation und Kultur zugleich die Bezeichnung für eine Bildung, die im Gegensatz zum Barbaren den zivilisierten Menschen auszeichnet.
Das Bildungswesen diente ausschließlich der Erziehung der Knaben (pais) und war überwiegend privat organisiert und finanziert. Die Mädchen wurden zu Hause ausgebildet. Bildung wurde noch nicht als Aufgabe des Staates betrachtet. Athen verfügte aber auch über einige staatliche Palaistren und Gymnasien. Den Schulbesuch führte jeder nach Möglichkeit für seine Söhne durch, obwohl kein Zwang dazu bestand. Es lag lediglich eine Bestimmung Solons vor, wonach Kinder, die keine Ausbildung erhalten hatten, sondern als Buhlknaben vermietet worden waren, für ihre Eltern im Alter nicht zu sorgen brauchten (Aischines, Rede gegen Timarchos 13). Die Schulzeit dauerte etwa vom sechsten bis zum sechzehnten Lebensjahr. Prügelstrafen waren nicht unüblich. Die Hauptfächer waren Schreiben (einschließlich Lesen und Rechnen), Musik (einschließlich Lyraspiel) und Gymnastik (einschließlich Ringen, Schwimmen, Bogenschießen und Schleudern). Später kamen noch Zeichnen und Malen hinzu. Fremdsprachen wurden in der Regel nicht gelehrt. Für die höhere Bildung waren dann die Sophisten und Rhetoren zuständig. Sie verlangten stattliche Hörgelder, die sich nur die Wohlhabenden leisten konnten. Gelehrt wurden Philosophie, Rhetorik, Geschichte und Naturwissenschaften. Der Sklave, der den Knaben auf dem Schulweg begleitete und für das richtige Benehmen Anweisungen gab, war der paidagogos. Sklaven zählten nicht als Person, sondern als Sache. Da die Sklaven eine Kapitalanlage waren, deren Arbeitskraft ausgenutzt werden musste, wurden häufig nur solche Sklaven verwendet, die zu anderer Arbeit nicht taugten (Plutarch, Moralia - Über die Erziehung der Kinder 7, 4a). Wegen der in Athen herrschenden Knabenliebe musste der paidagogos aufpassen, dass dem Knaben auf dem Schulweg nichts geschah (Platon, Symposion 183c). Er trug ihm auch die nötigen Schulsachen (Iulius Pollux, Onomastikon X, 59). Ganz reiche Eltern leisteten sich sogar den Luxus, die Schulsachen durch besondere Diener tragen zu lassen (Lukian, Erotes 44). Der paidagogos wohnte dem Unterricht bei und betreute die Schulaufgaben der Knaben. Ansonsten verbot das Gesetz bei Todesstrafe anderen Erwachsenen als den nächsten Angehörigen das Betreten der Schule während des Unterrichts (Aischines, Rede gegen Timarchos 12). Der paidagogos brachte seinem Schützling ebenfalls äußeren Anstand bei, nämlich zum Beispiel
sein Gewand richtig zu tragen (Plutarch, Moralia - Dass die Tugend gelehrt werden könne 2, 439f-440a);
auf der Straße anständig und mit niedergeschlagenen Augen zu gehen (Aristophanes, Die Wolken 964);
beim Sitzen weder die Füße übereinanderzuschlagen noch das Kinn mit der Hand zu stützen (Aristophanes, Die Wolken 965);
stillzuschweigen (Aristophanes, Die Wolken 963);
und bei Tisch nicht leckermäulig zu sein (Aristophanes, Die Wolken 981f.).
Der paidagogos hatte das Recht der körperlichen Züchtigung, das sehr hart angewendet wurde (Platon, Protagoras 325c). Es bestand die Auffassung, dass ein Knabe besonders scharf gezügelt werden müsste (Platon, Nomoi VII 808e). Die rohe Art dieser Sklaven muss bei weitem überwogen haben. Die Darstellungen in der Kunst zeigen den paidagogos meist mit dem Gesicht eines Barbaren. Als weiteres Zeichen seiner fremdländischen Herkunft trägt er häufig eine kurze Ärmeltunika und hohe Schnürschuhe. Ein kahler Kopf, ein struppiger Bart, ein Mantel sowie ein langer, oben gekrümmter Stock vervollständigen das Bild. Im Alter von achtzehn Jahren wurde man dann zum Jüngling (ephebos) und erhielt eine dreijährige militärische Ausbildung, die aber ebenfalls von Vorlesungen über Redekunst, Literatur, Musik und Geometrie begleitet wurde. Die Epheben waren in einer Art Selbstverwaltung demokratisch organisiert und übernahmen wichtige Aufgaben bei der Verteidigung und bei öffentlichen Zeremonien. Mit 21 Jahren wurde man schließlich volljährig.
Die Sophisten bemühten sich darum, die höchste Form menschlicher Bildung (kalokagathia) von der aristokratischen Abstammung und dem damit verbundenen Erziehungsprivileg zu lösen. Die Verwirklichung der Arete (Bestform, Tugend) sollte durch die Begabung, die Belehrung und die Übung unabhängig von der Herkunft ermöglicht werden. Es sollten die Fähigkeiten eines Redners erworben werden, um sich politisch durchzusetzen. Die Ausbildung zu einem ethischen Verhalten spielte für die Sophisten keine besondere Rolle (Dieter Bremer: Paideia, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, Sp. 35 ff.). Bereits Platons Lehrer Sokrates versuchte, die Vielwisserei der Sophisten als Schein zu entlarven und die Sorge um die Seele des Menschen in den Mittelpunkt der Bildungsbemühungen zu rücken.
Platon wirft den Sophisten vor, ihre Haltung stelle nur eine Kommerzialisierung ihrer Kenntnisse dar, ihnen mangele es an wahrer Bildung. Rhetorik ist nur eine Produzentin von Überzeugung. Sie dient dazu, den schwächeren Logos zum stärkeren zu machen. Dagegen vertritt er selbst eine philosophisch-wissenschaftliche Paideia: Danach soll der Staat die Erziehung übernehmen. Der Bildungsgang erstreckt sich über das gesamte Leben des Menschen und soll sich stufenweise entwickeln von einem gymnastisch-musischen Unterricht über einen allgemeinbildenden Unterricht in den rednerischen und mathematischen Disziplinen bis zur höchsten Stufe der Dialektik. Paideia ist für Platon ganzheitlich, betrifft die Seele insgesamt mit ihren irrationalen Teilen und besteht in einer Abwendung vom Bereich des Sinnlichen (Platon, Politeia 518c).
Einzig das dialektische Verfahren [...] hebt die Voraussetzungen auf und macht sich auf den Weg dorthin: zum Anfang selbst, um festen Stand zu gewinnen. Und sie zieht allmählich das Auge der Seele aus dem barbarischen Morast, in dem es tatsächlich vergraben war, hervor und richtet es nach oben. (Platon, Politeia 533c-d)
Über alles insgesamt und über das sogenannte Ganze waltet nicht etwa die Gewalt des Vernunftlosen, Zufälligen und Ungefähren, sondern im Gegenteil: Eine wunderbare Vernunft und Einsicht herrscht über alles und stellt eine harmonische Ordnung her. Der Nous (Vernunft, göttliche Weltvernunft) ist der König des Himmels und der Erde (Platon, Philebos 28c-d). Dem Homo-mensura-Satz des Protagoras hält Platon entgegen: „Das Maß aller Dinge sei der Gott“ (Platon, Nomoi 716c). Erst an diesem absoluten Maßstab wird der Mensch bescheiden und human. Das Höhlengleichnis Platons verdeutlicht den Aufstieg zur Schau der Idee des Guten. Durch diesen Aufstieg wird der Mensch fähig, aus Einsicht heraus zu handeln. Ansonsten bleibt sein Verhalten von Vorurteilen und Handlungsroutinen programmiert und ist weder selbstbestimmt noch frei. Die Umwendung der Seele (psyches periagoge) bedingt die Paideia (Platon, Politeia 521c). Auf dieser höchsten Stufe des Bildungsprozesses, die nur von wenigen erreicht wird, gewinnt der Mensch die Einsicht in die Idee des Guten und damit in die Wirklichkeit an sich. Erkennt man die Wahrheit durch das Licht der Idee des Guten, so handelt man gut (Werner Beierwaltes: Lux intelligibilis, München 1957, S. 61-79; Hans O. Seitschek: Bildung/Erziehung (paideia), in: Christian Schäfer (Hrsg.): Platon-Lexikon, 2007, S. 60). Nur der am Guten orientierte Gerechte, dessen Seele durch die Paideia geformt wurde, kann wirklich glücklich sein (Eudaimonie). Erst auf dieser Bildungsstufe sollte im Staat die Herrschaft ausgeübt werden (Philosophenherrschaft).
Der griechische Rhetor Isokrates propagierte neben den mathematischen Disziplinen und der Dialektik insbesondere die rhetorische Bildung (Isokrates, Reden 15, 261-271; 12, 26-29). Dazu gehört nicht nur eine breite Kenntnis der Literatur, sondern auch eine gewandte Ausdrucksweise. In der Schule des Isokrates wird Bildung durch Liebe zur Schönheit, insbesondere zu schöner Rede, als Methode bewusst eingesetzt. Die Rede zeigt im Stil den Geist des Menschen. Bildung besteht nicht in einer autonomen Redefertigkeit, sondern in einer Sittlichkeit, die in der Rede zum Ausdruck kommt. Rede repräsentiert in besonderer Weise den Geist (Christoph Eucken: Isokrates, 1983, S. 168). Das umfassende Programm einer enkyklios paideia wurde aufgrund einer Überbetonung der Rhetorik in der Praxis aber wohl selten umgesetzt. Mit seinem Bildungskonzept war Isokrates zu seiner Zeit weit einflussreicher als Platon.
Ich glaube allerdings, dass Menschen besser und wertvoller werden können, als sie es von Natur aus sind, wenn sie im Reden Ehrgeiz entwickeln und danach streben würden, Überzeugungskraft bei ihren Zuhörern zu erreichen und außerdem ihren Vorteil wollten, und zwar nicht den, der von Unverständigen dafür gehalten wird, sondern den, der wirklich diese Bedeutung hat. [...] Wer aber auf andere überzeugend wirken will, wird auch die Tugend nicht vernachlässigen, sondern wird besonders darauf achten, dass er bei seinen Mitbürgern einen möglichst guten Ruf genießt. (Isokrates, Antidosis 275-278)
Humanitas: der römische Humanismus
Die altrömische Erziehung war ganz auf die Bedürfnisse des pater familias als eines aktiven Mitglieds des römischen Gemeinwesens (civitas) ausgerichtet. Die Praxis (usus) lehrte, was erforderlich war. Buchwissen spielte eine untergeordnete Rolle für die Bildung. Umfang und Inhalt bestimmten sich nach dem Nutzen (utilitas). Der griechische Ursprung der geistigen Humanitas (paideia) lässt sich auf den Kreis um Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus, den jüngeren Scipio, zurückführen. Zum Scipionenkreis gehörten zahlreiche politisch und kulturell bedeutende Persönlichkeiten. Er beschäftigte sich mit griechischer Literatur und Philosophie. Durch ihn wurde die griechische Bildung mit ihrem spezifischen Bildungsideal in Rom eingebürgert (François Renaud: Humanitas, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, 1998, Sp. 81).
Marcus Tullius Cicero setzte sich nach einem intensiven Studium für die griechische Bildung und philosophische Reflexion ein. Sein erster Philosophielehrer war Philon von Larissa, der frühere Leiter der platonischen Akademie in Athen. Philon flüchtete um 88 v. Chr. vor den Wirren des Ersten Mithridatischen Krieges nach Rom und war ein Vertreter der skeptischen Schulrichtung, die methodisch ein ständiges Betrachten der Dinge von beiden Seiten nach ihrem Für und Wider forderte (in utramque partem disputare). Zwar gebe es keine absolute Gewissheit, doch dem Weisen reiche für seine Entscheidungen im Leben ein höchster Grad von Wahrscheinlichkeit. In Rom praktizierte Philon die Integration der Rhetorik in die Philosophie. Cicero war ihm zeitlebens zugetan. 79 v. Chr. studierte Cicero ein halbes Jahr in Athen bei Antiochos von Askalon, der sich radikal von der aporetischen Tradition abwandte und in Anlehnung an die Stoa eine dogmatische Platoninterpretation wiederzubegründen versuchte (Ulrich Gotter: Der Platonismus Ciceros und die Krise der römischen Republik, in: Bernd Funk (Hrsg.): Hellenismus, 1996, S. 545 f.). Auf Rhodos hörte Cicero 78 v. Chr. Vorträge des vielseitigen Stoikers Poseidonios, für den die Philosophie vom Logos her bestimmt ist. Dem Logos gelte es zu folgen. Der Stoiker Diodotos, bei dem Cicero bereits ab 86 v. Chr. unter anderem Dialektik studiert hatte, lebte nach seiner Erblindung lange Jahre bis zu seinem Tod 59 v. Chr. in Ciceros Haus. Cicero, den sein Bruder einen homo platonicus nannte, bezeichnete Platon als seinen Gott (Cicero, Brief an Atticus IV, 16, 3). In seiner Villa in Tusculum hatte er eine Statue Platons (Cicero, Brutus 24). Er übersetzte Platons Dialoge Protagoras und Timaios ins Lateinische und gestaltete eigene Werke nach platonischem Vorbild. Die Existenz der platonischen Idee verlegt er als ideales Vorstellungsbild ohne eigenen Seinscharakter in den menschlichen Geist, in das geistige Vorstellungsvermögen (Cicero, Orator 8-10, 101).
Die Philosophie lag bis in unsere Zeit darnieder und hat in der lateinischen Literatur überhaupt noch keine glanzvoll-erhellende Darstellung gefunden. Es ist also unsere Aufgabe, ihr Ansehen und Leben zu geben, um unseren Mitbürgern, denen wir in unserer staatlichen Tätigkeit vielleicht etwas genützt haben, auch in der Muße zu dienen, soweit wir können. (Cicero, Tusculanae disputationes 1,5)
Ciceros Ideal des Redners zeichnet sich durch eine hohe Allgemeinbildung und gute Kenntnisse in Geschichte, Philosophie und Recht aus (Cicero, De oratore 1, 46–48; 147–262; 3, 56–90). Maßgeblich von Cicero wurde der Begriff humanitas geprägt, der erstmals in einer anonymen Schrift um 80 v. Chr. mit dem Titel „Rhetorica ad Herennium“ belegt ist. Cicero, bei dem der Begriff in zahlreichen Werken begegnet, knüpft mit ihm an die griechische Paideia an. Humanität ist dem Menschen nicht angeboren, erst durch die Erziehung in den Künsten (artes) wird die Jugend zur humanitas geformt und gebildet (Cicero, Rede für Archias 4b: „[…] ab iis artibus, quibus aetas puerilis ad humanitatem informari solet [von den Künsten, durch welche man im Knabenalter gewöhnlich zur humanitas geformt wird]“). Was macht den Menschen zum Menschen und unterscheidet ihn vom Tier? Für Cicero bilden Vernunft und Sprache (ratio et oratio) das Fundament der menschlichen Gemeinschaft. Durch sie werden die Menschen miteinander verbunden. Aus Vernunft und Sprache erwächst die menschliche Würde. Würdig ist ein Verhalten, wenn es von der Vernunft gelenkt ist.
Aber zwischen Mensch und Tier besteht vor allem dieser Unterschied: Das Tier passt sich in dem Maße, wie es durch die Sinneswahrnehmung angeregt wird, allein an das an, was es vor Augen hat und was ihm gegenwärtig ist; dabei nimmt es Vergangenes und Zukünftiges kaum wahr. Weil der Mensch aber über die Vernunft verfügt, mit der er die Folgen seiner Taten wahrnimmt, die Ursachen seines Handelns sieht und seine Voraussetzungen und sozusagen seine Vorstufen genau kennt, Ähnlichkeiten vergleicht und zukünftige mit gegenwärtigen Verhältnissen verbindet und verknüpft, überblickt er ohne Weiteres den Verlauf seines ganzen Lebens und bereitet alles vor, was dazu erforderlich ist, dieses Leben zu führen. Mit Hilfe der Vernunft verbindet dieselbe Natur den Menschen mit dem Menschen zu einer Sprach- und Lebensgemeinschaft [...] Ein besonderes Merkmal des Menschen ist sein Suchen und Aufspüren der Wahrheit. Deshalb haben wir, wenn wir von notwendigen Tätigkeiten und Sorgen frei sind, den Drang, etwas zu sehen, zu hören und dazuzulernen, und meinen, dass die Erkenntnis verborgener oder merkwürdiger Dinge für das glückliche Leben notwendig ist. Daraus ist ersichtlich, dass alles, was wahr, einfach und rein ist, dem Wesen des Menschen am meisten entspricht. Mit diesem Verlangen, die Wahrheit zu sehen, ist ein gewisses Streben nach Überlegenheit verbunden, so dass ein von der Natur gut ausgestatteter Geist niemandem gehorchen will außer dem, der entweder gute Ratschläge gibt oder belehrt oder um des Nutzens willen gerechte und gesetzmäßige Weisungen erteilt. Daraus erwachsen innere Größe und Gleichgültigkeit gegenüber den menschlichen Dingen. Aber auch das ist keine unwesentliche Wirkung der Natur und der Vernunft, dass der Mensch als einziges Lebewesen empfindet, was Ordnung ist, was angemessen und was in Worten und Taten das Maß ist. Schon deshalb empfindet kein anderes Lebewesen bei allem, was mit dem Gesichtssinn wahrgenommen wird, Schönheit, Anmut und Harmonie der Teile (Cicero, De officiis I, 11-14).
Humanität bezeichnet das im Menschen, was ihn eigentlich zum Menschen macht. Bildung als identitätsstiftende Kulturleistung (paideia) und Menschenfreundlichkeit (philanthropia) vermischen sich in dem Begriff humanitas im Sinne des wahren Menschseins. Die Liebe und Sorgfalt für die geistige Bildung und Veredelung seines Selbst ist unter allen lebenden Wesen nur dem Menschen verliehen (Aulus Gellius, Noctes Atticae XIII, 17). Der Mensch ist etwas Großes und Bejahenswertes. Zur humanitas gehören neben Gerechtigkeit und einer sittigenden Kraft auch liebenswertes Miteinander, Muße, Freude an einer gepflegten Sprache sowie vor allem eine schwerelose und verbindende Geistigkeit (Karl Büchner: Humanitas, in: Der Kleine Pauly, Bd. 2, 1967, S. 1244). Humanus steht im Tonfall und in der Bedeutung dem Wort urbanus nahe. Es bezeichnet keine ernste Besinnung, sondern heitere Selbstsicherheit. Es geht um das geistreiche, feine, witzige und höfliche Wesen des Stadtrömers (Friedrich Klingner: Humanität und Humanitas, in: Römische Geisteswelt, 1979, S. 719 f.). Es verbinden sich tiefer, unverkrampfter Ernst und anmutiges Scherzen. Die eigenen Wahrheiten werden leicht und elegant hingeworfen, man spottet milde über die eigene Rolle. Es geht um die Freude an einer gelungenen Erkenntnis und um die Freude an einer geistigen Tätigkeit, die ohne Zweck und Nutzen betrieben wird (Friedrich Klingner, a.a.O., S. 722). Der rücksichtslose Mensch, der sich für andere Menschen nicht interessiert, ist nicht human. Arroganz, Dickköpfigkeit, hinterwäldlerische Plumpheit und Brutalität sind mit humanitas unvereinbar. Sie ist dann in Gefahr, wenn der Mensch sich in der Äußerlichkeit verliert oder durch Gewöhnung an das Schlimme abstumpft.
Verbannt diese Grausamkeit aus dem Gemeinwesen, ihr Richter, lasst sie nicht länger in dieser Republik ihr Unwesen treiben; denn an ihr haftet nicht nur das Unheil, dass sie so viele Bürger grauenhaft hingemordet hat, sondern auch die sanftesten Menschen durch die Gewöhnung an das Leiden dem Mitgefühl entfremdet hat. Denn wenn wir zu jeder Stunde sehen oder hören, dass etwas Grässliches geschieht, so verlieren wir, auch wenn wir von Natur die Sanftmütigsten sind, durch die ständige Gegenwart des Übels jedes Gefühl für Menschlichkeit. (Cicero, Rede für Sextus Roscius aus Ameria 154c-d)
Marcus Tullius Cicero
In der zweiten Hälfte der Regierungszeit Neros verkünden Seneca, Marcus Annaeus Lucanus und Aulus Persius Flaccus ein transzendentes Ideal „sittlicher Vollendung wahren Menschentums“ (Hellfried Dahlmann: Römertum und Humanismus, in: Studium Generale 1, 1948, S. 81). Die Stoa geht von der Vernünftigkeit und Gleichheit aller Menschen aus. Seneca postuliert ein gemeinsames Recht des Menschengeschlechts.
Es kann nicht jemand glücklich leben, der nur sich selbst im Sinn hat, der alles zu seinem eigenen Nutzen wendet. Für einen anderen musst du leben, wenn du für dich leben willst. Diese sorgfältig und heilig gehütete Gemeinschaft, die uns Menschen den Menschen verbindet und das Bewusstsein vermittelt, dass es ein gemeinsames Recht des Menschengeschlechts gibt, trägt das meiste dazu bei, auch jene engere Gemeinschaft der Freundschaft, von der ich sprach, zu fördern. Wer vieles mit einem Menschen wird nämlich alles mit einem Freund gemeinsam haben. (Seneca, Ad Lucilium epistulae morales 48, 2-3).
Mit Seneca setzt eine Verengung des Begriffs humanitas ein. Sein Bildungsideal eines von der Welt zurückgezogen lebenden stoischen Weisen ist primär moralischer Art. Weisheit besteht in einem tugendhaften Leben. Letztes Ziel ist die Gemütsruhe (tranquillitas animi). Humanitas beinhaltet bei Seneca nicht mehr die Geistesbildung, sondern nur eine bestimmte Tugend: das wohlwollende Verhalten zum Mitmenschen, die Menschenliebe (François Renaud, a.a.O., Sp. 83). Im Wohltun sind wir den Göttern ähnlich. Die Nachahmung Gottes, des gütigen Wohltäters der Menschheit, wird zum einzig richtigen Gottesdienst.
Kann man nach allem überhaupt von einem römischen Humanismus reden? Ich meine, man darf das bejahen und begründe es so: Wenn Menschenbild und Humanismus in Korrelation stehen, so wird die je anders gewichtete Ausprägung verständlich. Scipio und Cicero sehen den Menschen als Glied eines Gemeinwesens; aber der Adlige und der homo novus unterscheiden sich darin, daß für den einen die Ethik, für den anderen das intellektuelle Bildungserlebnis im Vordergrund steht. Für Seneca steht eine im Vergleich zu Scipio noch vertiefte Sicht der ethischen Dimension des Menschen im Mittelpunkt. Aber im Unterschied zu Scipio wie Cicero geht es ihm um den Menschen als Menschen und um die Verwirklichung individuellen Menschseins. Allen Repräsentanten des römischen Humanismus aber ist gemeinsam, daß sie durch die Schule griechischer Bildung gegangen sind (Johannes Christes: Cicero und der römische Humanismus, in: Stiftung „Humanismus heute“ (Hrsg.): Humanismus in Europa, 1998, S. 72).
Renaissance-Humanismus: ad fontes
Im engeren Sinne wird als Humanismus das fortschrittliche, sich vom Mittelalter und der Scholastik abwendende geistige Klima des 15. und 16. Jahrhunderts bezeichnet. Man unterscheidet dabei zwischen der Renaissance als dem umfassenden kulturellen und sozialen Wandel zwischen Mittelalter und Neuzeit und dem Humanismus als der Bildungsbewegung, die ihm zugrunde liegt. Nachdem es bereits von den Kreuzfahrern verwüstet und geschwächt worden war, fiel im Jahr 1453 Konstantinopel, die Hauptstadt des Oströmischen Reichs, an die Türken. Dadurch gelangten zahlreiche byzantinische Gelehrte und eine Fülle von griechischen Handschriften in den Westen. Erst mit der Einbeziehung der griechischen Sprache und Literatur gewann der humanistische Kanon seine volle Gestalt (Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, 2002, S. 20). Auch die Erfindung des Buchdrucks war den Bestrebungen der Humanisten nützlich. Er verhalf ihren Werken zu weiter Verbreitung und machte die ganze gelehrte Welt mit ihren Ideen bekannt. In Italien, dem Ursprungsland des Humanismus, wurde die humanistische Bewegung von den Höfen der Fürsten und Päpste getragen: Papst Pius II. und das Florenz der Medici sind bekannte Beispiele.
Bereits im 15. Jahrhundert besteht ein Selbstverständnis gebildeter Kreise, die sich als humanistae begreifen und so bezeichnen, also als Humanisten. Der Begriff humanista taucht zum ersten Mal 1490 in einem volkssprachlichen Brief auf (Olaf Meynersen: Humanismus als immer wiederkehrendes europäisches Kulturprinzip, in: Gymnasium 101 (1994), S. 148 ff. mit Zitaten aus Originalen des Archivio di Stato, Florenz, und der Biblioteca Communale di Cesena). Er bezeichnet die Gräzisten, Latinisten, Dichter und Redner, die sich den studia humanitatis widmen und Cicero sowie Quintilian besonders in der Rhetorik als Vorbilder betrachten. Die humanistische Redekunst gewinnt aber nur geringe politische Bedeutung (Alfred Noe, a.a.O., Sp. 1). Die antike Kultur wird von den Humanisten als unübertrefflich nachgeahmt. Das Studium der antiken Literatur und Philosophie dient dazu, sich einer in sich ruhenden Bildung zu vergewissern und sich von theologischen und philosophischen Vorentscheidungen zu lösen. Der über den ständischen Gliederungen stehende uomo universale verkörpert das ideale Menschenbild.
Die humanistische Gelehrtenbewegung will das antike Menschenbild erneuern. Die antike Bildung wird als unübertreffliches Vorbild empfunden und das lebensbejahende und schöpferische Individuum rehabilitiert. Die Verherrlichung des Menschen ergibt sich bei den italienischen Humanisten aus der Überzeugung, dass der Mensch als das Ebenbild Gottes das Höchste in der ganzen Schöpfung sei (Friedrich Klingner, a.a.O., S. 716). Die Kritik an einer Naturwissenschaft, die ungeordnete Kenntnisse anhäuft, und an den sinnlosen Spekulationen der Scholastik sowie das zunehmende Interesse für die aus menschlichen Leistungen hervorgegangene Erfahrung machen die bis dahin vernachlässigte Geschichte zur Lehrmeisterin des Lebens (vgl. Cicero, De oratore, II 36: historia magistra vitae) und in der Folge zu einer Leitdisziplin des Wissenschaftsbetriebs (Alfred Noe, a.a.O., Sp. 4). Philosophie und Rhetorik bewegen sich weg vom Wort Gottes hin zur menschlichen Kommunikation und damit zur historischen und nicht mehr geoffenbarten Wahrheit nach dem Prinzip: die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit (Francis Bacon: Neues Organon, hrsg. von Wolfgang Krohn, 2. Aufl., 1999, S. 180: Recte enim Veritas Temporis filia dicitur, non Authoritatis). Übertragen auf Sprache und Literatur ergibt sich daraus die vom Humanismus hervorgebrachte Disziplin der Philologie (Alfred Noe, a.a.O., Sp. 2, unter Berufung auf Eugenio Garin: L` umaneismo italiano, 1952).
Erasmus von Rotterdam
Ein einflussreicher Humanist der frühen Neuzeit war Erasmus von Rotterdam, dessen philosophia christiana die Überbetonung der rhetorischen Kultur relativierte. Er bemühte sich um eine Versöhnung von Antike und Christentum. Gegenüber den revolutionären Tendenzen der Reformation einerseits und der katholischen Kirche andererseits bewahrte er sich einen unabhängigen Geist. 1516 veröffentlichte er das Neue Testament auf Griechisch mit einer eigenen lateinischen Übersetzung und mit textkritischen historischen, philologischen und inhaltlichen Anmerkungen (Annotationes in Novum Testamentum). Obwohl er an der katholischen Lehre grundsätzlich festhielt, wurde sein am Rationalismus und dem humanistischen Ideal der Persönlichkeit ausgerichtetes Werk von der Kirche verdammt. Das Konzil von Trient setzte 1559 Erasmus auf den Index auctorum et librorum prohibitorum: Desiderius Erasmus Roterodamus cum universis Commentariis, Annotationibus, Scholiis, Dialogis, Epistolis, Censuris, Versionibus, Libris, & scriptis suis, etiam si nil penitus contra Religionem, vel de Religione contineant [...mit all seinen Kommentaren, Anmerkungen, Scholien, Dialogen, Briefen, Rezensionen, Fassungen, Büchern und Schriften, auch wenn sie nicht geradewegs etwas gegen die Religion oder über religiöse Themen enthalten]. Gegen Martin Luther verteidigte Erasmus die Freiheit des menschlichen Willens, ohne den es keine Verantwortlichkeit und kein moralisches Leben gibt (De libero arbitrio diatribe sive collatio, 1524; Hyperaspistes, 1526). Er entfaltete eine umfangreiche philologisch, moralphilosophisch und geistlich ausgerichtete schriftstellerische Tätigkeit. Er versuchte, die eigene Gegenwart durch eine Erneuerung des antiken Bildungsguts zugleich kritisch zu hinterfragen und zu bilden. Für Erasmus besteht der größte Teil der „civilitas“ (bürgerliche Höflichkeit, Umgänglichkeit) darin, sich selbst nirgendwo zu vergehen, aber die Sünden der anderen leicht zu vergeben: Maxima civilitatis pars est, quum ipse nusquam delinquas, aliorum delictis facile ignoscere... (De civilitate morum puerilium, 1530, in: Desiderius Erasmus, Opera omnia, Leiden 1703, Nachdruck Olms, Hildesheim 1961, Bd. 1, Sp. 1044 A). Das gute Betragen ist die äußere Form der ethischen Qualität der Seele.
Erasmus verfasste auch eine Anleitung zum Briefeschreiben (De conscribendis epistolis, 1534). Für die Humanisten ist der Brief eine dialogische Gattung, gleichsam ein Gespräch. Beinahe jeder Humanist schreibt lateinische Briefe an befreundete Humanisten und an weltliche und kirchliche Würdenträger, die gesammelt und später herausgegeben werden. Die dabei allgemein gängige Freundschaftsrhetorik ist von Cicero inspiriert (vgl. etwa Cicero, De amicitia). Der Brief ist ein Medium, das selbst die entferntesten Regionen der damals bekannten Welt erreicht. Er ist für die Humanisten deshalb eine wichtige Kommunikationsform. Durch ihre umfangreiche Korrespondenz verbinden sie sich zu einer Republik des Geistes (respublica literaria, vgl. Heinrich F. Plett: Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik, in: ders.: Renaissance-Rhetorik, 1993, S. 13). Weder Philipp Melanchthons Grundlegung der protestantischen Bildung noch das Schulwesen der Jesuiten sind ohne humanistischen Einfluss denkbar (Clemens Menze: Humanismus; Humanität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 1218). Den Humanismus als Bildungsbewegung in seiner Vielschichtigkeit hatte vor Jacob Burckhardt schon Georg Voigt erkannt.
Humanität als Menschlichkeit an sich: der Neuhumanismus
Seit etwa 1750 erfolgte eine Erneuerung der humanistischen Bewegung, um die Nivellierung des Menschen in der festgelegten spätfeudalen Ständeordnung zu überwinden. Das Individuum sollte sich als produktiv tätiger Mensch immer weiter vervollkommnen und Selbstbestimmung über seine Lebensbedingungen gewinnen. Die menschliche Individualität sollte sich frei entfalten. Damit verbunden war eine Hinwendung zum klassischen Altertum. Im Zeitalter der Aufklärung war der Begriff Humanismus zunächst noch ungebräuchlich. Überwiegend sprach man in Anlehnung an Cicero und die Renaissance gleichbedeutend von Humanität. Friedrich Schiller und Johann Gottfried Herder verstanden unter Humanität die Menschlichkeit an sich. In seinen 1793 bis 1797 erschienenen Briefen zur Beförderung der Humanität erklärte Herder:
Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein […] Wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen […] Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlechts. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken […] zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück. (Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, Deutscher Klassiker Verlag, 1985, S. 148)
Herder entwickelt den Humanitätsbegriff als Bestimmung und Wesen des Menschen. „Ich wünschte, dass ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe; denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung, als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet“ (J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herders sämtliche Werke in 33 Bänden, Bd. 13, Berlin 1877-1913, S 154). Insbesondere für Herder war Humanität zugleich an einen Fortschritt in der Geschichte geknüpft, er sah in ihr ein „Hauptgesetz der Natur“. Kunst und Wissenschaft helfen dabei, das wahre Wesen des Menschen zu verwirklichen und zu vervollkommnen. Der menschliche Geist ist in der Lage, einen sinnvollen Zusammenhang der Dinge zu erkennen und mit dem Willen zu bejahen (Friedrich Klingner, a.a.O., S. 707).
Johann Gottfried Herder
Immanuel Kant beschrieb die Humanität als „[...] den Sinn für das Gute in Gemeinschaft mit anderen überhaupt; einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können, welche Eigenschaften zusammen verbunden die der Menschheit angemessene Geselligkeit ausmachen“ (Immanuel Kant: Vorarbeiten und Nachträge, 1969, S. 409). Nach Kant wird der Mensch erst durch Erziehung zum Menschen. Das Programm der Menschenbildung hat nach Kant vier Stufen: In der Disziplinierung geht es um die Zähmung der animalischen Wildheit im Menschen. Bei der Kultivierung geht es um die Belehrung und Unterweisung, um Fähigkeiten zu beliebigen Zwecken zu erwerben. Bei der Zivilisierung geht es darum, dass der Mensch klug wird, sich in die menschliche Gesellschaft einfügt, beliebt ist und Einfluss erlangt. Bei der Moralisierung geht es schließlich um die Entwicklung einer vernunftgemäßen Gesinnung. Der Mensch soll lernen, gute Zwecke zu wählen. Gute Zwecke sind solche, die von jedermann gebilligt werden und gleichzeitig jedermanns Zwecke sein können. Kant verband mit diesem Programm die Idee eines Fortschreitens der Menschheit zum Besseren (Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 2. Teil, 1981, S. 697 ff.).
Wilhelm von Humboldt und seine Helfer schufen in kurzer Zeit ein dreistufiges Bildungswesen: Elementarschule, Gymnasium und Universität. Das Gymnasium sollte zur Hochschulreife führen und beschränkte sich im Wesentlichen auf allgemeinbildende Fächer. Einen wichtigen Beitrag leistete der altsprachliche Unterricht durch das Erlernen des Lateinischen und Griechischen, die am neuhumanistischen Gymnasium etwa die Hälfte der verfügbaren Schulstunden in Anspruch nahmen (Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, 2002, S. 28). Die Schriften Platons und Ciceros gehörten zum Lektüreprogramm. Der Weimarer Klassik galt das klassische Griechenland als Inbegriff höchster Humanität. Es war das Symbol für die eigenen Bestrebungen. Insbesondere Goethe und Schiller propagierten das Ideal einer Persönlichkeit, das sich nur durch die harmonische Entfaltung aller Anlagen und Kräfte verwirklichen lasse. Man glaubte, dass diese Ideale im antiken Griechenland schon einmal verwirklicht worden seien. So beschrieb Goethe das Wirken der Humanität: „Seele legt sie auch in den Genuß, noch Geist ins Bedürfnis, Grazie selbst in die Kraft, noch in die Hoheit ein Herz.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, Bd 4.1, 1988, S. 709). Toleranz ist ein Wesenszug der Humanität. Seine glänzendste literarische Darstellung hat der Toleranzgedanke in Lessings berühmter Ringparabel gefunden, wo Christentum, jüdische Religion und Islam aufgerufen werden, ihren Wert im Wetteifer miteinander zu erweisen (Nathan der Weise, 1779). Alle Religionen und Weltanschauungen stehen gleichberechtigt nebeneinander, solange sie dem Wohl der Menschen dienen.
Friedrich Schiller beschreibt die Entfremdung des Menschen von sich selbst, die Kluft zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen moralischer Existenz und physischem Dasein, zwischen dem Notwendigen und dem Wirklichen. Der Formtrieb strebt nach Wahrheit und Gerechtigkeit, den ewig gültigen Vernunftgesetzen. Der Stofftrieb unterliegt den Veränderungen, dem Werden und Vergehen in der Zeit, und verliert sich an die materielle Welt. Der Spieltrieb ermöglicht eine harmonische Symmetrie zwischen Form- und Stofftrieb, die weder die eine noch die andere Sphäre unterdrückt: „[…] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Nationalausgabe, Bd. 20, 1962, S. 359) Erst der Spieltrieb bringt den ganzen Menschen in der geglückten Balance zu sich selbst. „Mit einem Wort: indem es mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche einen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt das Notwendige den seinigen [Ernst] ab, weil es leicht wird“ (Schiller, a.a.O., S. 357). Durch die Symmetrie von Formtrieb und Stofftrieb entsteht Schönheit. Der Spieltrieb ist zugleich Schönheitstrieb. Durch die Schönheit kommen die beiden Grundtriebe in ein harmonisches Gleichgewicht. Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet. Der geistige Mensch wird durch die Schönheit zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben. Der Mensch, der ein wahrhaft schönes Kunstwerk genießt, wird in einen ästhetischen Zustand versetzt. Formtrieb und Stofftrieb verlieren ihre ausschließende Herrschaft, der Mensch wird frei. Die ästhetische Erziehung des Menschen muss durch das Erhabene vollendet werden. In der Erfahrung des Erhabenen gelangt der Mensch in die Ideenwelt. Das Erhabene erhebt den Menschen über die Macht der Natur und entbindet ihn von allem körperlichen Einfluss. „Wir fühlen uns frei bei der Schönheit, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmonieren; wir fühlen uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde“ (Friedrich Schiller: Über das Erhabene, in: Nationalausgabe, Bd. 21, 1963, S. 42).
Der deutsche Begriff Humanismus wurde erstmals von Friedrich Immanuel Niethammer in dem 1808 erschienenen Buch „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit“ verwendet. Er verteidigt die an der griechischen Klassik orientierte Bildung gegen die praktisch-technische Ausbildung an den Realschulen. Der praktische Nutzen soll nicht allein im Vordergrund stehen. Die humanistische Bildung gibt den Jugendlichen klassische Muster vor, die zu einer ästhetischen, moralischen und geistigen Entwicklung beitragen. Nach Niethammer hat der von den Griechen thematisierte Logos den Menschen über seine rohe Natur hinaus zum Geistigen geführt. Erst damit wurde seine wahre Menschlichkeit begründet. Der Logos habe sich in Jesus Christus inkarniert. Der Logos sei zugleich das Urprinzip menschlicher Bildung. Für Niethammer ist die eigentliche Menschenbildung die Bildung der Humanität, die Erziehung zur Humanität humanistische Bildung, die hinter ihr stehende geistige Haltung Humanismus (Eckard Lefévre: Humanismus und humanistische Bildung, in: Stiftung „Humanismus heute“ (Hrsg.): Humanismus in Europa, 1998, S. 21).
Der Erziehungsunterricht hat einen eignen für sich bestehenden Zweck, allgemeine Bildung des Menschen. [...] Es kömmt bei dem Erziehungsunterricht nicht sowohl darauf an, bestimmte Kenntnisse zu sammeln, als vielmehr darauf, den Geist zu üben. [...] Der Erziehungsunterricht übt den Geist der Lehrlinge, nicht sowohl um ihn zu bestimmten Geschäften geschickt zu machen, sondern es ist ihm vielmehr Bildung des Geistes an und für sich selbst Zweck. [...] Es ist überhaupt in dem Erziehungsunterrichte nicht sowohl darum zu thun, den Lehrling für diese Welt zu bilden; wozu er in späteren Jahren seines Lebens noch Zeit und Gelegenheit genug findet; als vielmehr für die höhere Welt des Geistes ihn zu bilden; welche Bildung, wenn er nicht darin einen festen Grund in seiner Jugend gelegt hat, für ihn oft ganz verloren ist, da ihm in spätern Jahren das, was er für seinen Beruf zu lernen und zu thun hat, meistens keine Zeit mehr läßt, an jener höhern Bildung des Geistes für eine andre Welt mit Ernst und Erfolg zu arbeiten. [...] Die bestimmten Kenntnisse, die der Lehrling durch den Erziehungsunterricht erlangen soll, sind ebenfalls nur geistiger Art, die Ideen des Wahren, Guten und Schönen; denn es ist die Hauptaufgabe der Erziehung, bei dem Kinde einen solchen Grund jener Bildung in Ideen zu legen, daß es, hinausgehend aus der Schule ins Leben und in bestimmte Berufsgeschäfte, jene Bildung der Humanität, die eigentliche Menschenbildung, seinem Geiste so tief eingeprägt mit sich nehme, daß sie unter allem Drang künftiger Berufsarbeit unvertilgbar und unter aller Noth eines kümmerlichen Schicksals unzerstörbar bleibe (F. I. Niethammer: Philanthropinismus - Humanismus, Texte zur Schulreform, bearb. von W. Hillebrecht, 1968, S. 162-166).
Humanismus in der Moderne
Dritter Humanismus: die Idealisierung der Paideia
Der bedeutendste Repräsentant des sogenannten Dritten Humanismus war Werner Jaeger. Die Bezeichnung Dritter Humanismus - nach dem Renaissance-Humanismus und dem Neuhumanismus - stammt aus einer 1921 gehaltenen Rede des Berliner Philosophen Eduard Spranger, mit dem Jaeger befreundet war und sich gemeinsam für die alten Sprachen und eine Philosophie der Bildung einsetzte:
Aber ein Unterschied unseres Humanismus, den man den dritten nennen könnte gegenüber jenem zweiten, liegt in der Weite des Suchens und des Verstehens, das wir Modernen aufzubringen vermögen (Eduard Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule (1922), 2. Aufl., 1925, S. 7)
Nach Jaeger hat die Kultur im Griechentum schlechthin ihren Ursprung. Die Griechen haben ihre geistige Gesamtschöpfung als Erbe an die übrigen Völker des Altertums weitergegeben. Für Jaeger beginnt der Humanismus mit der Übernahme der griechischen Kultur im Römischen Reich. Der griechische Bildungsgedanke sei dann im Christentum in eigenständiger Weise fortgesetzt worden. Konstitutiv für jede Erscheinungsform von Humanismus sei dabei die Struktur des Wiederaufnehmens. Die abendländische Geschichte wird bei Jaeger zu einer Reihe von Erneuerungen der griechischen Bildungsidee (Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, 1960; derselbe: Paideia, 1933 bis 1947). Er setzte das Griechentum mit der Idee gleich, den Menschen nach einem bestimmten Ideal zu formen.
Der Begriff der Paideia war für Jaeger gleichbedeutend mit der griechischen Bildung. Sie sei nicht ein bloßer Inbegriff abstrakter Ideen, sondern die griechische Geschichte selbst in der konkreten Wirklichkeit des erlebten Schicksals. Die Gesamtheit der griechischen Kultur sei Ausdruck dieses Strebens, den Menschen zu formen. Die Griechen hätten die Dinge „organisch“ betrachtet. Sie hätten das Einzelne als Teil eines Ganzen aufgefasst. Erst dadurch wären sie zur Schöpfung des Begriffs „Natur“ fähig geworden. Mit diesem habe sich das Interesse verbunden für die Gesetze, welche in den Dingen selbst wirkten. Aus der Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Wesens entsprängen die Normen für die persönliche Führung der Seele und für den Aufbau der Gemeinschaft.
Das höchste Kunstwerk, das es zu bilden gelte, sei der Mensch. Über allem stehe der Mensch als Idee. Der erzieherische Gehalt der Antike solle für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Die Zukunft der Jugend sei durch Wahrheit, Bildung, Werte und eine Zentralperspektive - Jaeger spricht von einem „Totalbild“ - zu gewährleisten (Werner Jaeger: Begabung und Studium, in: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur und für Pädagogik, 40 (1917), S. 280). Die Formung des Menschen sei unwiderruflich an die Gemeinschaft gebunden. Der Mensch sei zu seiner wahren Form zu erziehen, nämlich dem eigentlichen Menschsein als allgemeingültiges und verpflichtendes Bild der Gattung. Die generalisierende Sichtweise Jaegers auf die Antike ist umstritten und wird teilweise als Idealisierung kritisiert (Horst Rüdiger: Der Dritte Humanismus (1937), in: Hans Oppermann (Hrsg.): Humanismus, Wege der Forschung Bd. XVII, 1970, S. 211; Paul Richard Blum: Humanismus, in: Enzyklopädie Philosophie, 1999, S. 568, spricht von einem inzwischen korrigierten, idealisierten Bild der antiken Ausbildungspraxis).
Werner Jaeger
Jean-Paul Sartre: der Existentialismus als Humanismus
Im existentialistischen Humanismus Jean-Paul Sartres wird die Eigenverantwortlichkeit des Menschen betont. Nach Sartre ist der Existentialismus „eine Lehre der Tat“. Grundlegend hierzu ist der 1945 veröffentlichte Essay L'existentialisme est un humanisme. Sartre entwirft einen Humanismus im Gewand der Moderne. Die Existenz geht der Essenz voraus. Der Mensch tritt in die Welt ein und erst dann entwirft bzw. erfindet er sich selbst. Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich in seiner totalen Freiheit macht. Deshalb ist er auch für das, was er ist, verantwortlich. Dies verleiht ihm seine Würde. Das Leben hat a priori keinen Sinn. Der Mensch wählt sich seine Moral, sie ist seine Schöpfung und Erfindung. Mit sich selbst erschafft der Mensch ein Vorbild. Der Mensch ist nichts anderes als sein Leben. Er ist die Summe seiner Handlungen, seiner Beziehungen und Unternehmungen. Er existiert nur in dem Maße, in dem er sich selbst verwirklicht.
Es gibt kein anderes Universum als ein menschliches, das Universum der menschlichen Subjektivität. Diese Verbindung von den Menschen ausmachender Transzendenz – nicht in dem Sinn, wie Gott transzendent ist, sondern im Sinn von Überschreitung – und Subjektivität in dem Sinn, dass der Mensch nicht in sich selbst eingeschlossen, sondern immer in einem menschlichen Universum gegenwärtig ist, das ist es, was wir existentialistischen Humanismus nennen. (Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, 1994, S. 141).
Erich Fromm: sozialistischer Humanismus
In den Jahren von 1961 bis 1978 veröffentlichte Erich Fromm mehrere Aufsätze und Reden, die später in dem Sammelband Humanismus als reale Utopie herausgegeben wurden. Seine Auffassung von Humanismus ist neben der Marx-Lektüre davon geprägt, wie ihm die jüdische Religion in seiner Familie und während seines Studiums nahegebracht wurde. Im Chassidismus findet er die Verwirklichung von Brüderlichkeit und gegenseitiger Hilfe sowie einen radikalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen „Demokratismus“, das Ganze getragen von einer Lebenseinstellung, der die „kapitalistisch bürgerlichen Tugenden, wie rastloses Streben nach Reichtum und wirtschaftlicher Selbständigkeit“ und der damit verbundene „Geist der Hast und Ruhelosigkeit“, völlig fremd sind (Helmut Johach: Erich Fromms humanistischer Sozialismus, in: Fromm Forum 12/2008, S. 2 f.).
Die Entfremdung ist nach Fromm die Krankheit des modernen Menschen. Der Mensch wird zum Götzendiener, der das Werk seiner eigenen Hände anbetet. Er ist nur noch damit beschäftigt zu arbeiten, um konsumieren zu können. Er möchte viel haben, statt viel zu sein. Machtstreben, Vergnügungssucht und Besitz verdrängen Liebe, Freude und persönliches Wachstum. Ängstlichkeit verbindet sich mit der Unfähigkeit zu lieben. Der moderne Mensch flieht in ein leeres Geschäftigsein. An die Stelle der traditionellen Werte des Guten, Schönen und Wahren, die der Entfaltung des Menschen dienten, ist der technologische Wert getreten. Das technisch Mögliche wird zum Selbstzweck. Ist etwas technisch möglich, dann wird es auch getan. Nach Fromm soll man sich der humanistischen Alternative bewusst werden. Der Humanismus geht vom fühlenden, lebendigen, leidenden und denkenden Menschen als der zentralen Kategorie aus.
Bei diesem Bezugsrahmen besteht der Sinn des Lebens in der völligen Entwicklung der menschlichen Eigenkräfte, insbesondere in der von Vernunft und Liebe, im Transzendieren der Enge des eigenen Ichs und in der Entwicklung der Fähigkeit, sich hingeben zu können, in der vollen Bejahung des Lebens und von allem Lebendigen im Unterschied zur Anbetung von allem Mechanischen und Toten. (Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie, 2005, S. 65 f.)
Über das Unbewusste kann man den Kontakt zum ganzen, universalen Menschsein gewinnen.
Haben wir aber mit dem ganzen Menschen in uns Kontakt, dann gibt es nichts Fremdes mehr. Es gibt kein Verurteilen anderer mehr aus einem Gefühl der eigenen Überlegenheit […] Der Mensch steht heute vor der Wahl: Entweder wählt er das Leben und ist zur neuen Erfahrung von Humanismus fähig, oder die neue „eine Welt“ wird nicht gelingen. (Erich Fromm, a.a.O., S. 92)
Die Liebe ist der Hauptschlüssel, mit dem sich die Tore zum persönlichen Wachstum öffnen lassen. Die Praxis der Liebe ist das menschlichste Tun, das den Menschen ganz zum Menschen macht und ihm zur Freude am Leben gegeben ist (Erich Fromm, a.a.O., S. 116 f.).
Humanismus und Religion
Im Verhältnis des Humanismus zur Religion gibt es ein weitreichendes Spektrum von ausdrücklichem Bezug auf die Religion bis zu ausdrücklicher Ablehnung. Dabei steht der Begriff Humanismus im Spannungsfeld zwischen der menschlichen Autonomie einerseits und der traditionellen Rückbindung der Menschenwürde an die ontologische Zwischenstellung des Menschen zwischen Gott und Welt andererseits, die transzendente Sinnressourcen eröffnen soll. Insoweit wird ein Konflikt gesehen zwischen dem heteronomen und dem autonomen Humanismus (Adam Schaff: Humanismus, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie des Marxismus, 1975, S. 160). Die etablierten Religionen haben in der Regel humanistische Traditionen selbst entwickelt, Anliegen des Humanismus aufgenommen und in ihre Glaubenssätze integriert oder eigene Impulse zur Entwicklung des Humanismus gegeben.
Judentum und Humanität
Bereits im Judentum gelten die Gebote der Nächsten- und Fremdenliebe nach der Hebräischen Bibel.
Hasse deinen Nächsten nicht in deinem Herzen! Sondern weise ihn auf das Recht hin, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Räche dich nicht noch behalte Zorn gegen die Kinder deines Volkes. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Ich bin JHWH.
(Tanach, Wajikra = Lev. 19, 17)
Das Gebot der Fremdenliebe wendet sich gegen eine Beschränkung der Nächstenliebe auf Mitjuden.
Den Fremdling, der bei euch wohnt in eurem Land, sollt ihr nicht unterdrücken. Er soll wie ein Einheimischer unter euch wohnen, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr ward auch Fremdlinge in Ägypten. Ich bin JHWH, euer Gott.
Das Judentum hat mit seinem Gebot, auch den Fremden zu lieben, einen erheblichen Beitrag zu den moralischen Standards der Menschheit geleistet (Christoph Schulte: Noachidische Gebote und Naturrecht. Ein Beispiel für die Verteidigung des Universalismus aus den Quellen des Judentums, in: Richard Faber, Enno Rudolph (Hrsg.): Humanismus in Geschichte und Gegenwart, 2002, S. 141 ff.). In der Pflicht gegen den Fremdling ist die unbedingte Humanität am bestimmtesten erfasst worden. Die Entdeckung des Menschen als Mitmensch setzt voraus, dass auch der Fremdling ein zum Ebenbild des einzigen Gottes geschaffenes Lebewesen ist (Gen. 1, 26). Auch der Fremdling und Nichtjude ist jener Nächste, auf den das Gebot der Nächstenliebe zu beziehen ist. Der Fremdling lehrt die Humanität. An ihm ist der Mensch als Mitmensch immer wieder klar erkannt und gewissermaßen aufgedeckt worden (Leo Baeck: Das Wesen des Judentums, 4. Aufl., 1925, S. 219).
Der Begriff des Noachiden definiert das Recht des Fremdlings im Judentum. Ein Noachide, ein Nachkomme Noachs (Gen. 7, 7), ist jeder, der die elementarsten Pflichten übt, die sich aus der Menschlichkeit und der Landeszugehörigkeit ergeben. Gleichgültig ist dabei seine Religionszugehörigkeit oder Staatsangehörigkeit. Der Noachide hat nicht nur Duldung, sondern Anerkennung zu beanspruchen. Er ist dem einheimischen Staatsbürger gleichgestellt (Leo Baeck, a.a.O., S. 220). Der Noachide wird damit zum Prototyp des Mitmenschen. Er repräsentiert eine fundamentale ethische Gleichheit, die jedem positiven staatlichen Recht vorangeht. Eine besondere Bedeutung haben die Verpflichtungen der noachidischen Gebote erlangt. Auf sieben Gebote sind die Nachkommen Noachs nach dem Babylonischen Talmud verpflichtet (Babylonischer Talmud, Traktat bSanhedrin 56a/b; vgl. Tosefta Aboda Zara 8.4):
Rechtspflege, Gebot der Rechtsprechung
Verbot des Götzendiensts
Verbot der Gotteslästerung, der Verfluchung des Namens
Verbot der Unzucht
Verbot des Blutvergießens
Verbot des Raubs
das Körperteil eines lebenden Tiers darf nicht verspeist werden.
Die noachidischen Gebote sind dabei nicht einklagbares Recht, sondern Ausdruck des theologisch-ethischen Horizonts, in dem sich die geistig-religiöse Nachbarschaft zum außerjüdischen Mitmenschen vollziehen kann (Klaus Müller: Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum (SKI 15), 1994, S. 79). Die großen Völkerrechtler des 17. Jahrhunderts Hugo Grotius und John Selden wurden vom Recht des Fremdlings im Talmud angeregt und haben diesen Gedanken in ihre Systeme aufgenommen. Nach Hermann Cohen ist der Begriff des Noachiden sogar ein Vorläufer des Naturrechts (Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentum (1919), Nachdruck 1978, S. 142 f.). Die jüdische Ethik und rabbinische Literatur hat die Bestimmungen des Tanach beständig verfeinert und humanisiert. Sie steht der christlichen Ethik nicht nach.
Christentum und Humanismus
Anknüpfungspunkt für die christliche Humanität im Neuen Testament ist das Doppelgebot der Liebe.
Und einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und wichtigste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mt. 22, 35-40)
Das frühe Christentum sprach griechisch und explizierte sich in Denkkategorien, die von Platon und Aristoteles geprägt waren. Paulus von Tarsus knüpft in der Apostelgeschichte auf dem Areopag in Athen an die griechische Philosophie an (Apg. 17, 22). Es wurde die Paideia Christi verkündigt (Werner Jaeger: Paideia Christi, in: ders.: Humanistische Reden und Vorträge, 1960, S. 250 ff.). Mit Clemens von Alexandria und Origenes erfolgte eine philosophische Vertiefung und weitere Hellenisierung der christlichen Religion. Origenes erklärte die Bibel in umfangreichen Kommentaren nach ihrem wörtlichen, grammatischen, historischen und pneumatischen Sinn. Mit dieser vom Griechentum übernommenen Philologie wurde er zum Vater der theologischen Exegese. Mit den Kirchenvätern Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa erfolgte eine weitere Verschmelzung griechischen Denkens mit dem Christentum, welche dann das westliche Denken für tausend Jahre prägte.
Der Renaissance-Humanismus wurde von den Päpsten finanziell gefördert. Mit Papst Pius II. stellten sie selbst einen bedeutenden Humanisten. Die Scholastikkritik der humanistischen Reformtheologen, die sich für eine Reform der herrschenden Theologie einsetzten, prägte viele spätere Reformatoren. Der teilweise unmoralische Lebenswandel der Kirchenoberen und Priester zog einen mehr oder weniger ausgeprägten Antiklerikalismus nach sich (Kaspar Elm: Antiklerikalismus im deutschen Mittelalter, in: Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman (Hrsg.): Anticlericalism in late medieval and early modern Europe, 1993, S. 5 ff.). Mit der Reformation wurden Missstände innerhalb der Kirche bekämpft und theologisch eine Rückkehr zum Ursprünglichen und Authentischen angestrebt. Martin Luther betonte, dass der Schlüssel zum Verständnis der Bibel in ihr selbst angelegt sei („sui ipsius interpres“). Jeder Christenmensch besitze die Fähigkeit, die Schrift selbst auszulegen und zu verstehen (Sola scriptura-Prinzip). Im Gegensatz zum Humanismus negierte er den freien Willen des Menschen. Die Sünde habe den Menschen in seinem Wesen deformiert. Er sei zur guten Handlung vollkommen unfähig und bedürfe der Gnade und Erlösung. Das wichtigste Hilfsmittel für Luthers Bibelübersetzung war die griechisch-lateinische Textausgabe des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam. Luthers Freund Philipp Melanchthon stützte sich bei der Ausarbeitung seiner frühprotestantischen Hermeneutik auf die humanistische Rhetoriktradition (Wilhelm Maurer: Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, Bd. 1., Der Humanist (1967), Nachdruck als einbändige Studienausgabe Göttingen 1996). In Abgrenzung zur Reformation betont der Renaissance-Humanismus den freien Willen und die Verantwortlichkeit des Menschen.
Zum Ende des 18. Jahrhunderts erklärte der evangelische Theologe und Dichter Johann Gottfried Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität:
Das Christentum gebietet die reinste Humanität auf dem reinsten Wege. Menschlich und für jedermann faßlich; demüthig, nicht stolz-autonomisch; selbst nicht als Gesetz sondern als Evangelium zur Glückseligkeit Aller gebietet und giebt es verzeihende Duldung, eine das Böse mit Gutem überwindende thätige Liebe. (Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, Deutscher Klassiker Verlag, 1985, S. 752)
Der katholische Philosoph Jacques Maritain vertrat im 20. Jahrhundert einen christlichen Humanismus. Dieser sei aber erst dann integral, wenn der Mensch in seinem wahren Wesen, in seiner Bindung an Gott und seiner Erneuerung durch Gott erfasst werde. Die modernen Auffassungen von Humanismus sollten mit der von der mittelalterlichen Scholastik entwickelten Seinslehre verbunden werden (Jacques Maritain: L'Humanisme intégral, 1936). Der evangelische Dogmatiker Karl Barth meinte, man müsse in erster Linie von einem Humanismus Gottes sprechen: von der Liebe Gottes zum Menschen. Der Mensch als das von Gott bewirkte Wesen solle sich aus seiner irdischen Wirklichkeit in das Geheimnis seines Ursprungs öffnen. Dabei erfahre er dann die Heiligung der Gnade, den Humanismus Gottes. Die weltlichen Humanismen seien eigentlich überflüssig. Sie seien nur „abstrakte Programme“ gegenüber der von den Evangelien verkündeten Gotteskindschaft des Menschen (Karl Barth: Humanismus, 1950, S. 21).
Nach Rudolf Bultmann ist der Humanismus ein Glauben an den Adel des Menschen als Geistwesen. Der Geist verwirkliche sich im Wahren, Guten und Schönen. Diese Ideen bestimmten Wissenschaft, Recht und Kunst. Der Humanismus mache die Welt so zur Heimat des Menschen. Dagegen sei für das Christentum die Welt die Fremde. Der christliche Glaube entweltliche den Menschen. Gott als schlechthin jenseitiger sei von der Welt geschieden. Der Mensch als Sünder bedürfe der Gnade, da er nicht so sei, wie er sein solle. Die Gnade Gottes befreie den Menschen von sich selbst und mache ihn zu einem neuen Geschöpf. Der christliche Glaube bedürfe deshalb des Humanismus nicht, es bestehe vielmehr ein Widerspruch. Der einzelne Christ sei aber auf den Humanismus angewiesen, weil er die Welt durch Wissenschaft, Recht und Kunst beherrschbar mache (Rudolf Bultmann: Humanismus und Christentum, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 3, 1960, S. 61 ff.).
Atheistischer Humanismus und Religionskritik
Nach einer areligiösen, säkularen Auffassung wird die Existenz höherer göttlicher Mächte, die dem Menschen übergeordnet seien, verneint. Dies ist verbunden mit einer Zurückweisung von religiösen Überzeugungen zugunsten der Meinung, dass sich der moderne Mensch aus eigenem Antrieb weiterzuentwickeln vermöge und nur dann „Mensch“ sei. Er solle sich seiner eigenen Vernunft bedienen. Der säkulare Humanismus beginnt in der Zeit der Aufklärung und sieht sich als einen Weg, unter anderem Fragen der Ethik unabhängig von Religion und Metaphysik zu betrachten. Erklärungen, die sich auf übernatürliche Phänomene beziehen wollen, werden abgelehnt. Bereits David Hume wendet sich entschieden gegen Metaphysik und jede Spekulation über übersinnliche Dinge.
Man hat aber gegen die Dunkelheit dieser tiefsinnigen und abstrakten Philosophie nicht nur geltend gemacht, daß sie beschwerlich und ermüdend, sondern auch, daß sie die unvermeidliche Quelle von Ungewißheit und Irrtum ist. Hierin liegt allerdings der gerechteste und einleuchtendste Vorwurf gegen einen beträchtlichen Teil der Metaphysik: daß sie nicht eigentlich eine Wissenschaft ist, sondern entweder das Ergebnis fruchtloser Anstrengungen der menschlichen Eitelkeit, welche in Gegenstände eindringen möchte, die dem Verstand durchaus unzugänglich sind, oder aber das listige Werk des Volksaberglaubens, welcher auf offenem Plan sich nicht verteidigen kann und hinter diesem verstrickenden Gestrüpp Schutz und Deckung für seine Schwäche sucht. Verjagt vom freien Felde, flieht dieser Räuber in den Wald und liegt auf der Lauer, um in jeden unbewachten Zugang des Geistes einzubrechen und ihn durch religiöse Ängste und Vorurteile zu überwältigen. Der stärkste Gegner unterliegt, wenn er einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nachläßt; und viele öffnen aus Feigheit und Torheit dem Feinde die Pforten und empfangen ihn bereitwillig mit Ehrfurcht und Unterwürfigkeit als ihr rechtmäßiges Oberhaupt. Ist dies indes ein hinreichender Grund für den Philosophen, von solchen Untersuchungen abzustehen und den Aberglauben weiter im Besitz seines Zufluchtsorts zu lassen? Ist es nicht angebracht, daß man den gerade entgegengesetzten Schluß zieht und die Notwendigkeit begreift, den Krieg in die geheimsten Schlupfwinkel des Feindes zu tragen? Vergeblich hoffen wir, daß der Mensch durch häufige Enttäuschungen endlich zum Verlassen solcher luftigen Wissenschaften bestimmt werden und das eigentliche Gebiet der menschlichen Vernunft entdecken möchte. (David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. von Raoul Richter, 2005, S. 9 f.)
Ludwig Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Er vertritt die Auffassung, dass Gott nur eine abstrakte Vergegenständlichung des menschlichen Wesens sei. Die Religion sei die Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Der Mensch setze sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Der Mensch vergegenständliche in der Religion sein eigenes geheimes Wesen. Der Mensch sei der Anfang der Religion, der Mensch sei der Mittelpunkt der Religion, der Mensch sei das Ende der Religion (Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841), in: Sämtliche Werke, Bd. 6, 1903, S. 41 und 222). Nach Feuerbach tritt die Philosophie an die Stelle der Religion. Man müsse die Politik zur Religion machen. Der Atheismus sei das Aufgeben eines vom Menschen verschiedenen Gottes (Ludwig Feuerbach, a.a.O., S, 228).
Karl Marx knüpft an diese Religionskritik Feuerbachs an. Der Mensch suche in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels einen Übermenschen. Er finde aber nur den Widerschein seiner selbst. Der Mensch mache die Religion, die Religion mache nicht den Menschen. Die Religion sei das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren habe. Der Staat - im 19. Jahrhundert noch nicht laizistisch - und die Gesellschaft produzierten mit der Religion ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt seien. Der Kampf gegen die Religion sei mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion sei. Die Religion sei der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt. Sie sei der Geist geistloser Zustände. Sie sei das Opium des Volkes. Das wirkliche Glück des Volkes erfordere die Aufhebung der Religion, da diese nur illusorisches Glück sei (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung. (Fragment), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, 1976, S. 378 ff.).
Sigmund Freud ist ebenso wie Marx von Feuerbach angeregt worden und kritisiert die Religion aus der Perspektive der Psychoanalyse als Wunscherfüllung. Die religiösen Lehren seien nicht Ergebnisse der Erfahrung oder Resultate des Denkens. Sie seien Illusionen und Erfüllungen der ältesten, stärksten und dringendsten Wünsche der Menschheit. Das Geheimnis ihrer Stärke sei die Stärke ihrer Wünsche. Für die Illusion sei die Ableitung aus menschlichen Wünschen charakteristisch. Die Illusion nähere sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee. Der Unterschied zu dieser sei aber, dass die Illusion nicht notwendig falsch sein müsse. Zum Wahrheitswert der religiösen Lehren sei deshalb mit der Erkenntnis ihres illusionären Charakters nichts festgestellt (Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, Gesammelte Werke, Bd. XIV, 1968, S. 353). Nach Freud besteht ein intimer Zusammenhang zwischen dem Vaterkomplex und dem Glauben an Gott. Der persönliche Gott sei psychologisch nichts anderes als ein erhöhter Vater. Nur ein solcher könne die Bedürfnisse des Kindes kennen. Nur ein erhöhter Vater lasse sich durch Bitten erweichen und durch die kindlichen Zeichen der Reue beschwichtigen. Die Religion des gewöhnlichen Menschen sei offenkundig infantil und wirklichkeitsfremd (Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Gesammelte Werke, Bd. XIV, 1968, S. 431 f.). Jugendliche würden den Glauben verlieren, sobald die Autorität des Vaters bei ihnen zusammenbreche. Der allmächtige und gerechte Gott sei die großartige Sublimierung des Vaters und eine Wiederherstellung der frühkindlichen Vorstellung von ihm. Die Religiosität sei auf die lang anhaltende Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des kleinen Kindes zurückzuführen. Die Trostlosigkeit des Lebens werde durch die regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte geleugnet. Religion biete damit aber auch einen Schutz gegen neurotische Erkrankungen. Der Ungläubige müsse mit dem Elternkomplex allein fertig werden (Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, 1943, S. 195).
Humanismus und Kommunismus
Bereits Platon hat das Privateigentum als Schritt in die Unfreiheit gering geschätzt und ihm in seinem Hauptwerk Politeia die Utopie einer Gütergemeinschaft entgegengehalten, diesen Gedanken in seinem Alterswerk Nomoi allerdings wieder erheblich abgeschwächt und den Schwerpunkt seiner Betrachtung auf eine gerechte Verteilung der Güter gelegt. Um gut zu sein, bedürfe die Seele des Privateigentums nicht. In der hierarchischen Ordnung der Güter steht für Platon die Idee des Guten an oberster Stelle. So erklärt er beispielsweise für den Stand der Wächter im Staat:
Fürs erste soll keiner irgend etwas als sein Eigentum besitzen, wofern es nicht ganz notwendig ist, sodann soll keiner eine solche Wohnung und Vorratskammer haben, in die nicht jeder, der will, einträte, alles zum Leben Erforderliche aber, was besonnene und tapfere für den Krieg bestimmte Kämpfer bedürfen, sollen sie ratenweise von den übrigen Bürgern empfangen als Lohn des Bewachens, in solchem Maße, daß sie weder für das Jahr etwas übrig haben noch Mangel leiden, und sie sollen gemeinsame Mahlzeiten besuchen und, wie auf einem Feldzuge befindlich, gemeinschaftlich leben. Gold und Silber aber, soll man ihnen sagen, haben sie göttliches von Göttern immer in ihrer Seele und bedürfen des menschlichen nicht, auch sei es eine Sünde, den Besitz von jenem mit dem des sterblichen Goldes zu vermischen und zu besudeln. (Platon, Politeia 416d f.)
Der junge Karl Marx setzt 1844 den Kommunismus mit einem atheistischen Humanismus gleich. Es geht ihm um die Befreiung von der Entfremdung, von dem Verlust des Selbst.
In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen. Denn es ist nach dieser Voraussetzung klar: je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je größer also diese Tätigkeit, um so gegenstandsloser ist der Arbeiter. Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer also dieses Produkt, je weniger ist er selbst. Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübertrifft. (Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Meiner 2005, S. 57)
Der Kommunismus hebe das Privateigentum auf, das Ausdruck menschlicher Selbstentfremdung sei. Der Kommunismus sei deshalb die
wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. (Karl Marx, a.a.O., S. 86)
In seinen späteren Werken betont Marx die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Er entfernt sich von der allgemeinen Natur des Menschen. Das menschliche Wesen wird nicht mehr abstrakt, sondern als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse aufgefasst (Karl Marx: Thesen über Feuerbach (1845), in: MEGA 4/3, Berlin 1985, S. 21: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahiren und das religiöse Gemüth für sich zu fixiren und ein abstrakt – isolirt – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. kann bei ihm daher das menschliche Wesen nur als ‚Gattung‘, als innere, stumme, die vielen Individuen blos natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden. Feuerbach sieht daher nicht, daß das ‚religiöse Gemüth‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist, und dass das abstrakte Individuum, das er analysirt, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“). 1852 bezeichnen Marx und Engels den Humanismus als Phrase. Sie notieren spöttisch über Arnold Ruge, dessen Humanismuskonzept die Rückführung des Menschen zu seinem wahren und von einem transzendenten Gott befreiten Wesen verkündet:
Von dieser Zeit an entwickelt sich bei Ruge die Notwendigkeit, nur noch bei den roheren Elementen der deutschen Bewegung als Philosoph par excellence aufzutreten, ein Schicksal, das ihn immer tiefer führte, bis er schließlich nur noch bei lichtfreundlichen Pfarrern (Dulon), bei deutschkatholischen Pastoren (Ronge) und bei Fanny Lewald als Philosoph galt. Zu gleicher Zeit nahm aber die Anarchie in der deutschen Philosophie täglich zu. Stirners „Einziger“, „Socialismus, Communismus“ usw., lauter neue Eindringlinge, steigerten das Schnurren in Ruges Kopf bis zur Unerträglichkeit; ein großer Sprung mußte gewagt werden. Da rettete sich Ruge hinter den Humanismus, jene Phrase, womit alle Konfusionaner in Deutschland von Reuchlin bis Herder ihre Verlegenheit bemäntelt haben. Diese Phrase schien um so zeitgemäßer, als eben erst Feuerbach „den Menschen neuentdeckt hatte“, und Arnold klammerte sich mit solcher Verzweiflung an sie an, daß er sie bis auf die heutige Stunde nicht fahren läßt. (Karl Marx und Friedrich Engels: Die großen Männer des Exils (1852), in: MEGA 1/11, Berlin 1985, S. 261)
Von sozialistischer Seite wurde kritisiert, dass der klassische Humanismus eine bürgerliche Weltanschauung sei und kein Interesse für die soziale Frage aufbringe. Das Proletariat bleibe von humanistischer Bildung ausgeschlossen. Nur für eine privilegierte Minderheit sei der Zugang zu Kultur und insbesondere Literatur gewährleistet. Die Gesellschaft müsse aktiv verändert werden, um gleiche Bildungschancen für alle zu ermöglichen. Dies führte beispielsweise in der DDR zu einer von der SED propagierten starken Subventionierung des Kulturbetriebs (Bruno Gebhardt, Rolf Häfele: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 22, 2001, S. 372).
In Anknüpfung an John Locke und Adam Smith werden in der Marktwirtschaft das Privateigentum und die Pleonexia, nämlich das „Mehr-Haben-Wollen“, nicht grundsätzlich negativ bewertet. Die Pleonexia sei eine Antriebskraft, die unternehmerische Kreativität, Wagemut und Anstrengung steigere und so zu einem bedarfsgerechten Angebot an wettbewerbsbedingt kostengünstigen Waren und Dienstleistungen, zu Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen und damit letztlich zur Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse führe. Sie sei deshalb dem Gemeinwohl dienlich (vgl. zum Ganzen Otfried Höffe: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, 2004, S. 32 ff.). In den meisten Gesellschaften wird das Privateigentum heute als ein elementares Grundrecht garantiert, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit des Menschen steht. Der moderne Sozialstaat versucht, einen gerechten sozialen Ausgleich mit einem komplexen System aus Steuern, Sozialabgaben und Sozialleistungen herbeizuführen, um eine humane Lebenswirklichkeit zu gestalten.
Kritik des Humanismus
Martin Heideggers Humanismusbrief
Martin Heidegger antwortete mit seinem Brief über den »Humanismus«, der 1947 als Anhang zu einem anderen Werk und 1949 erstmals selbstständig erschien, auf eine schriftliche Anfrage des französischen Philosophen Jean Beaufret (Martin Heidegger: Über den Humanismus, 10. Aufl., 2000). Er warf dem klassischen Humanismus vor, dass in seiner Bestimmung des Menschen als vernünftiges Subjekt die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren sei und er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug angesetzt habe. Die Philosophie seit dem klassischen Griechenland sei zur Metaphysik entartet. Das Wesen des Menschen müsse anfänglicher erfahren werden. Das Sein komme im Denken zur Sprache. Die Sprache sei „das vom Sein ereignete und aus ihm durchgefügte Haus des Seins“. Durch sie sei der Mensch in die Lichtung des Seins freigestellt. Was bedeutet „Lichtung des Seins“? Lichtung ist die Dimension, in welcher Seiendes erscheint. Sie ist die Offenheit, die ein mögliches Scheinenlassen und Zeigen gewährt. Sie gewährt dem Menschen einen Durchgang zum Seienden. Die Unverborgenheit gehört zum innersten Wesen der Lichtung. Das Geschehen der Wahrheit beruht im Urstreit von Lichtung und Verbergung. „Ek-sistenz“ bedeutet das Stehen in der Lichtung des Seins, weil der Mensch dessen „Da“ ist und das Sein selbst die Lichtung (Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, 2014, S. 304 mit zahlreichen Nachweisen). Der Begriff Lichtung steht bei Heidegger in einer langen Kette von Selbstkorrekturen.
In „Sein und Zeit“ lautet die Aufgabe, den Sinn von Sein zu bestimmen. „Sinn“ bedeutet das Woraufhin des verstehenden Entwurfs von Sein, d.h. der Terminus „Sinn“ meint den eröffnenden Entwurfsbereich. Dieser verstehende Entwurf von Sein macht die Seinsweise des Daseins aus: das ekstatische Innestehen vor und in der Eröffnung des Seins. Das ekstatisch existenziale Seinsverständnis entfaltet den Sinn, aber es stiftet ihn nicht. Die Entfaltung des Seinsverständnisses hält den offenen Bereich offen. Nun setzen sich die Ausdrücke „Sinn“ und „Entwurf“ leicht einem Mißverständnis aus, als sei der Sinn vom Dasein des Menschen selbst entworfen […] seitens des Menschen als des Sinn-Gebers. […] Um genau diesem Mißverständnis auszuweichen [setzt Heidegger …] an die Stelle von „Sinn von Sein“ den Ausdruck „Wahrheit des Seins“. Wahrheit aber, griechisch gedacht, als Entbergung von Sein, zu welcher Entbergung Unverborgenheit ebenso wie Verborgenheit gehört. Weil nun aber auch dieser Ausdruck mißverständlich ist, da Wahrheit uns sogleich auch Richtigkeit des Urteils bedeutet, hat Heidegger den Ausdruck „Wahrheit des Seins“ […] ersetzt, nämlich durch „Lichtung des Seins“. […] Aber auch diese Kennzeichnung erweist sich als nicht eindeutig, weil diese „Lichtung des Seins“ sogleich mit dem Licht gleichgesetzt wird und wir dadurch wiederum in die Lichtmetaphysik einbiegen können, also abermals einen Rückfall in das metaphysische Denken erleiden können. Aus diesem Grunde geht Heidegger schließlich dazu über, von dem Ereignis zu sprechen. (Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Philosophie Martin Heideggers, 1996, S. 83-87)
Das Sein selbst habe den Menschen „in die Wahrheit des Seins »geworfen«, daß er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte“ (Martin Heidegger: Über den Humanismus, 10. Aufl., 2000, S. 22). Heidegger bezeichnet den Menschen deshalb als Hirten des Seins. Das Denken vollbringe zugleich das Wesen des Menschen. Darum ruhe im Denken die Menschlichkeit. Das Denken des Seins ereigne sich noch vor der Unterscheidung von Theorie und Praxis. Es habe weder Ergebnis noch Wirkung. Es sei ein Tun, das alle Praxis übertreffe. Die Philosophie habe dagegen aus der Sprache ein Herrschaftsinstrument über das Seiende gemacht und das Denken damit falsch interpretiert. Das animal rationale gebärde sich als Herr des Seienden und kreise heimatlos um sich selbst. Es sei ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins.
Der Antihumanismus Michel Foucaults
Michel Foucault stellte sich die Frage, wie man als freier Mensch leben könne. Er wettet darauf, dass „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, 1974, S. 462). Dabei ist „der Mensch“ für Foucault eine epistemologische Denkfigur und lediglich ein Element in einem dem Subjekt notwendig vorausgehenden Gesamtzusammenhang. Das Subjekt kann nicht mehr Ursprung aller Erkenntnis und Wahrheit sein. Im Humanismus sieht Foucault die dunkle Seite der Aufklärung.
Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein. […] Je besser du dich der Macht unterwirfst, die über dich gesetzt ist, umso souveräner wirst du sein. Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveränitäten herum aufgebaut worden ist: die Seele (souverän gegenüber dem Leib, Gott unterworfen), das Gewissen (frei im Bereich des Urteils, der Ordnung der Wahrheit unterworfen), das Individuum (souveräner Inhaber seiner Rechte, den Gesetzen der Natur oder den Regeln der Gesellschaft unterworfen). (Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, 1974, S.114)
Für Foucault gibt es keine objektive Wahrheit, sondern nur relative Wahrheiten. Jede Form von metaphysischem Denken lehnt er ab. Humanismus ist für ihn nichts Anderes als eine Säkularisierung idealistischer Gedanken. Es gebe weder ein Wesen des Menschen noch objektive und universelle Menschenrechte. Es bestehe auch keine überhistorische Norm, die das Wesen des Menschen bestimmen könne. Der Versuch, eine solche Norm aufzustellen, führe zu einer Uniformierung des Menschen. Die moderne Anthropologie setze noch immer das Ideal eines „homo dialecticus“ voraus, der seine innere Wahrheit und seinen inneren Wert erkennen könne. Aber nicht mehr der Mensch sei das Objekt der Wissenschaften, sondern vielmehr die nur äußeren Beziehungen und Vernetzungen von Elementen, die frei von jeder Vorstellung eines souveränen Subjekts und Bewusstseins seien. Der Organismus funktioniere. Einen Zweck gebe es nicht. Alle Rechtfertigungsversuche durch Gott oder die Idee der Menschheit seien überflüssige Selbsttäuschungen und Fehlausbildungen der Kontrollmöglichkeiten, die jedes Funktionssystem in sich trage. Es handele sich beim Humanismus um den trügerischen Versuch von Selbstrechtfertigungen, die davon ablenken sollen, dass es dem Menschen wie allen Lebewesen um das bloße Funktionieren ohne irgendwelche höheren Zwecke gehe. Den Gedanken des Humanismus, dass der Mensch sich selbst Zweck sein könne, weist Foucault ab.
Tatsächlich hat die Menschheit keine Zwecke. Sie funktioniert, sie kontrolliert ihr Funktionieren und bringt ständig Rechtfertigungen für diese Kontrolle hervor. Wir müssen uns damit abfinden, dass es nur Rechtfertigungen (d.h. keine Wahrheiten) sind. Der Humanismus ist nur eine von ihnen, die letzte. (Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, 1974, S. 30).
Bei Sartre ist der Mensch zugleich Deuter und Programmierer des Sinns gewesen. Für Foucault ist Sinn nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung oder ein Schaum. Was uns im Tiefsten durchdringe, was vor uns da sei, was uns in der Zeit und im Raum halte, sei das System. Nicht der Mensch dürfe an die Stelle Gottes gesetzt werden, sondern ein anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoretisches ohne Identität. Die noch von Sartre verfochtene Freiheit sei letztlich eine Illusion. Tatsächlich denke man innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems einer bestimmten Sprache und Epoche. Mit dieser Erkenntnis werde die Idee vom Menschen in der Forschung und im Denken überflüssig. Sie sei nur ein Hindernis, die wahren Zusammenhänge zu erkennen. Das am meisten belastende Erbe, das uns aus dem 19. Jahrhundert zufalle, sei der Humanismus. Alle politischen Regime des Ostens oder des Westens brächten ihre schlechte Ware unter der Flagge des Humanismus durch.
All diese Herzensschreie, alle diese Ansprüche der menschlichen Person, der Existenz sind abstrakt: d.h. abgeschnitten von der wissenschaftlichen und technischen Welt, die nämlich unsere wirkliche Welt ist. Was mich gegen den Humanismus aufbringt, ist der Umstand, dass er nur noch der Wandschirm ist, hinter den sich reaktionärstes Denken flüchtet, hinter dem ungeheuerliche und undenkbare Bündnisse geschlossen werden: so will man beispielsweise Sartre und Teilhard verbinden. [...] Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, dass unser Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien abhängen wie die wissenschaftliche und technische Welt. Es ist das „menschliche Herz“, das abstrakt ist. Wir aber bemühen uns, den Menschen mit seiner Wissenschaft, mit seinen Entdeckungen, mit seiner Welt, die konkret ist, zu verbinden. (Michel Foucault, Interview in: La Quinzaine littéraire, Nr. 5 vom 15. Mai 1966)
Peter Sloterdijks Regeln für den Menschenpark
Peter Sloterdijk kritisiert Heideggers Position. Er sieht den Menschen in der Reihe der Lebewesen und wendet sich gegen Heideggers Ablehnung jeder Anthropologie. Es gebe eine Geschichte des Heraustretens des Menschen in die Lichtung. Diese werde von Heidegger ignoriert. Die Realgeschichte der Lichtung werde von der Natur- und Sozialgeschichte erzählt. Die Lichtung sei ein Ereignis, wo aus dem Sapiens-Tier der Sapiens-Mensch werde. Hier beginne die Sozialgeschichte der Zähmungen. Es zeige sich das andere, bisher verhüllte Gesicht der Lichtung. Diese sei ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion.
Wo Häuser stehen, dort muß entschieden werden, was aus den Menschen, die sie bewohnen, werden soll; es wird in der Tat und durch die Tat entschieden, welche Arten von Häuserbauern zur Vorherrschaft kommen. In der Lichtung erweist sich, um welche Einsätze die Menschen kämpfen, sobald sie als städtebauende und reicheerrichtende Wesen hervortreten. (Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, 1999, S. 32 ff.).
Bei der Ausbildung der „Humanitas“ in der Natur- und Sozialgeschichte des Menschen seien mit der Wissensweitergabe durch autorisierte Instanzen immer auch Macht- und Selektionsmechanismen wirksam gewesen. Aufgrund neuartiger Medienkommunikation komme der Literalität, die den Humanismus kennzeichne, nur noch eine marginale Rolle zu. In Zeiten der Massenkultur habe deshalb die posthumanistische Phase begonnen.
Wenn diese Epoche heute unwiderruflich abgelaufen scheint, so nicht, weil die Menschen aus einer dekadenten Laune ihr nationales literarisches Pensum nicht mehr zu erfüllen bereit wären; die Epoche des nationalbürgerlichen Humanismus ist an ein Ende gelangt, weil die Kunst, Liebe inspirierende Briefe an eine Nation von Freunden zu schreiben, auch wenn sie noch so professionell geübt würde, nicht mehr ausreichen könnte, das telekommunikative Band zwischen den Bewohnern einer modernen Massengesellschaft zu knüpfen. Durch die mediale Etablierung der Massenkultur in der Ersten Welt 1918 (Rundfunk) und nach 1945 (Fernsehen) und mehr noch durch die aktuellen Vernetzungsrevolutionen ist die Koexistenz der Menschen in den aktuellen Gesellschaften auf neue Grundlagen gestellt worden. Diese sind, wie sich ohne Aufwand zeigen läßt, entschieden post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch. Wer die Vorsilbe post in diesen Formulierungen für zu dramatisch hält, könnte sie durch das Adverb marginal ersetzen - so daß unsere These lautet: Moderne Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren. Keineswegs ist deswegen die Literatur am Ende, aber sie hat sich zu einer Subkultur sui generis ausdifferenziert, und die Tage ihrer Überschätzung als Träger der Nationalgeister sind vorüber. Die soziale Synthesis ist nicht mehr - auch nicht mehr scheinbar - hauptsächlich eine Buch- und Briefsache. Es sind inzwischen neue Medien der politisch-kulturellen Telekommunikation in Führung gegangen, die das Schema der schriftgeborenen Freundschaften auf ein bescheidenes Maß zurückgedrängt haben. Die Ära des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und Bildungsmodell ist abgelaufen, weil die Illusion nicht länger sich halten läßt, politische und ökonomische Großstrukturen könnten nach dem amiablen Modell der literarischen Gesellschaft organisiert werden. (Peter Sloterdijk, a.a.O., S. 13)