Eine wesentliche Funktion der Dialoge ist es, zum Studium der Philosophie aufzumuntern und zu ermahnen. Zudem ahmen sie die lebendigen Lehrgespräche in der Akademie literarisch nach. Aber sie gewähren noch keine einheitliche Gesamtvorstellung vom Denken Platons, da dies den Anfänger überfordern würde. In der Philosophie Platons sind die Dialoge lediglich die erste Stufe einer insgesamt dreifachen Stufung:
literarische Dialoge,
mündliche Lehrvorträge,
intuitive Erfahrung der Wahrheit, die gleichwohl streng an das logische Denken gebunden bleibt.
„Die Erkenntnis der Seinsprinzipien an sich ist dem Logos entzogen und einer intuitiv-'mystischen' Erfahrung vorbehalten. Zwischen dieser höchsten Einsicht und dem in den Dialogen Dargestellten ist nun aber, als systematisch vermittelnde Instanz, die mündliche Lehre zu denken, die zu jener unmittelbaren 'Synopsis' [Zusammenschau] hinführt und andererseits über die Prinzipienschau so genau wie möglich Rechenschaft gibt“ (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 5). Das „Eine“ und die „unbestimmte Zweiheit“ sind die beiden gegensätzlichen Grundprinzipien, auf die sich letztlich alle Dinge zurückführen lassen. Es geht darum, „überall das Ineinanderwirken und Auseinandertreten der gegensätzlichen Kräfte einheitlich zu begreifen“ (Gaiser, a.a.O., S. 9). Auf der ersten Stufe der literarischen Dialoge bleibt diese Prinzipienlehre allerdings aus didaktischen Gründen vorerst noch „ausgespart“.
Durch die Dialoge gewinnt man einen Eindruck von der Person und den Lebensumständen Platons. Zudem wird eine geistige Entwicklung deutlich. In den frühen aporetischen Dialogen ist Platon noch ganz seinem Lehrer Sokrates verpflichtet. In der mittleren Phase entwickelt er seinen eigenen philosophischen Standpunkt. In der späten Phase werden die Dialoge wissenschaftlich-diskursiv und Platon setzt sich kritisch mit seiner eigenen Philosophie auseinander (Michael Erler: Platon, 2007, S. 2-3). Dadurch wird das Philosophieren als geistiger Weg erkennbar, als Fortschreiten und Aufstieg. Es geht nicht darum, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen oder Kompromisse zu finden. Philosophie ist eine langwierige Suche, um Probleme mit höchster Genauigkeit zu klären und Thesen sorgfältig zu begründen. Der Philosoph wählt seine Gesprächspartner aus. Bei den Dialogen gilt die Maxime, dass Inhalt und Darstellungsform mit Kompetenz und geistiger Kapazität der Gesprächspartner kongruieren müssen (Erler, a.a.O., S. 61). Der Philosoph weiß, mit wem er reden kann und bei wem er Wissen zurückhalten oder gar vollständig schweigen sollte. Die situationsbedingte Zurückhaltung soll vermeiden, dass der Horizont des Gesprächspartners überschritten wird und der Mangel an Kompetenz zu Missverständnissen führt. Jedes Gespräch bedeutet zugleich eine Prüfung der Persönlichkeit (Erler, a.a.O., S. 86).
Platons Werke dienen nicht als systematische Lehrbücher. Vieles spricht dafür, dass es sich bei den Dialogen um ein propädeutisch-protreptisches Erziehungswerk in Fortsetzungen handelt, das den Leser allmählich tiefer in den Kreis des philosophischen Lebens einführt. Das Eigentliche, das Ziel des Bildungsganges, kann nur in der dialektischen Unterweisung erworben werden; es ist deshalb gemäß der Schriftkritik dem mündlichen Lehrgespräch in der Akademie vorbehalten (vgl. Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 33). Das Ziel des Dialogs ist die das Leben orientierende begründete Übereinstimmung. Die Dialogform bietet auf diesem Weg einige Vorteile:
Sie fördert durch die künstlerische Ausführung das Interesse des Lesers.
Es besteht kein Zwang zur systematischen Vollständigkeit.
Ungeklärte systematische Einzelfragen können leichter ausgeblendet werden.
Verschiedene Meinungen können referiert werden, ohne sich selbst festlegen zu müssen.
Das Denken wird zu einem argumentativen Handeln, das sich der argumentativen Kontrolle durch die Gesprächspartner stellt, ohne sich künstlich behaupten zu wollen.
Im Laufe der Erörterung können einzelne Positionen revidiert werden.
Stilmittel wie Ironie oder gleichnishafte Mythen, die das sprachlich schwer Fassbare veranschaulichen, werden möglich.
Platons frühe und mittlere Werke stellen in plastischer Anschaulichkeit und dramatischer Lebendigkeit Personen und Meinungen dar. Doch handelt es sich bei den Dialogen trotz der scheinbar historischen Authentizität letztlich um fiktionale Texte mit einem spielerischen Charakter. Platon legt seinen Protagonisten Worte in den Mund, die deren philosophische Haltung und Charakter besonders gut kennzeichnen sollen. Er selbst tritt gänzlich hinter seine Figuren zurück, was den unmittelbaren Zugriff auf seine eigenen Gedanken erschwert (Erler, a.a.O., S. 75). Es ist deshalb problematisch, Auffassungen von Figuren in den Dialogen Platon selbst zuzuschreiben. Nur zweimal erwähnt er sich selbst: in der Apologie (Platon, Apologie 34a 1 und 38b 6) und im Phaidon (Platon, Phaidon 59b 10). Dabei bringt es das Wesen des Dialoges und die Verwendung bekannter Personen als Protagonisten mit sich, die sprachliche Gestaltung der freien Rede an die Eigentümlichkeiten der realen Personen anzugleichen. Teilweise könnte Platon auch Originalzitate in seine Dialoge eingearbeitet haben. Die Vermutung liegt nahe, dass Platon insbesondere bei Sokrates die Ausdrucksweise stilistisch nachgeahmt hat. Die Figur des Sokrates ist nach dem Idealbild eines platonischen „Protophilosophen“ gestaltet, doch schließen Idealisierung und fiktive Elemente in den Dialogen das Historische nicht aus (Erler, a.a.O., S. 83). Außerdem schrieb er in einer reichen Bildersprache, die auch mythische Gleichnisse verwendete. „Platon konnte als echt hellenische Künstlernatur gar nicht anders als die vollgestaltig in ihm lebenden Gedanken farbenfrisch und markig ausgestalten. Zu seiner poetischen Anlage kam noch hinzu, dass er die ganze wissenschaftliche und politische, literarische und künstlerische Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen hatte, dass sein Genius befruchtet war von Homer und den großen Tragikern, von dem Zeus des Phidias wie von dem hochragenden Tempel der jungfräulichen Göttin seiner Stadt“ (Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie, Band 1, 1919, S. 92 f.). Dagegen sind die späten Werke wie Timaios und die Gesetze (Nomoi) wesentlich weniger lebendig und eher im trockenen Stil einer monographischen Abhandlung verfasst.
Die Art der Rezeption
Generell sah Platon die Gefahr, dass schriftliche Texte in die falschen Hände geraten könnten und unfähig wären, sich selbst weiter erläuternd zu helfen (Platon, Phaidros 275d 9 ff.). Die schriftlichen Dialoge waren daher nicht zum öffentlichen Vortrag gedacht, sie dienten der Erinnerung (Phaidros 276d). Teilweise wurden die Dialoge aber auch rezitiert (Platon, Theaitetos 143b-143c). Beim zeitgenössischen Publikum handelte es sich vermutlich sowohl um Hörer als auch um Leser. Unabhängig aber von der Art der Rezeption verfolgte Platon mit der Dialogform ein pädagogisches Anliegen. Weder sollte der Lehrer die angestammte Rolle des Informanten noch der lesende Schüler die des Rezipienten übernehmen. „An die Stelle der direkten trat die indirekte Vermittlung durch einen Text, der nur zu denen zu reden weiß, die auf ihn kritisch reagieren. Voraussetzung dafür war, dass es dem Autor gelang, den Dialog als schriftliches Kunstwerk so zu gestalten, daß der mitdenkende Leser veranlaßt wird, sich von der Suggestion, die der platonische Sokrates zu erzeugen versteht und der seine Partner zu erliegen pflegen, nicht beirren zu lassen, sondern Ungereimtheiten in der Beweisführung und ihre Fehler als solche zu erkennen und von sich aus durch Alternativen zu korrigieren“ (Ernst Heitsch: Platons Dialoge und Platons Leser, in: Rheinisches Museum für Philologie, 131, 1988, S. 238). Platon zwingt den Leser also geschickt dazu, sich mit eigenen Gedanken einzuschalten und damit sich selbst weiterzuentwickeln.
Die aporetischen Dialoge
Sokrates als Protagonist der frühen Dialoge
Der Gesprächscharakter der Lehre spiegelt sich in der Dialogform von Platons Schriften wider. Sie bieten nicht ein Lehrgebäude als fertiges System, sondern wollen dessen Entstehungsprozess anschaulich darstellen. Hauptfigur in den frühen Dialogen ist sein Lehrer Sokrates. Der Kleinbürger erweckte in dem Spross aus hohem athenischen Adel „die Sorge um die Seele durch das rechte Leben in Bezug auf das ewige Sein selbst“ (Karl Jaspers: Plato, Augustin, Kant, 1957, S. 24). Deshalb ist die Grenzlinie zwischen Platons eigener Philosophie und der des Sokrates schwer zu ziehen. Man nimmt an, dass Platon vor allem in der Apologie und in den frühen so genannten aporetischen Dialogen die Lehren des Sokrates wiedergibt, während er in den späten Dialogen, wo Sokrates zur Nebenfigur wird oder gar nicht mehr auftritt, seine eigenen Gedanken niedergeschrieben hat. Die Abgrenzung der originär sokratischen Gedanken ist im Einzelnen wissenschaftlich seit Jahrzehnten umstritten. Dies gilt insbesondere für die mittleren Dialoge. Diese liefern nach Günter Figal ein plastisches, lebensvolles Bild des Sokrates (Günter Figal: Sokrates, 2006, S. 16 ff.). Tiefgründig war die Einschätzung des Philosophen Karl Jaspers:
Sokrates ist historische Realität auch ohne Plato. Aber der historische Sokrates und der Platonische sind untrennbar. In der Wirklichkeit des Sokrates erblickte Plato dessen Wesen. Dieses ließ er sich in seinen dialogischen Darstellungen frei entfalten, immer mit dem Willen zur Wahrheit des Wesens, aber nicht gebunden an belegbare Tatsächlichkeiten. (Karl Jaspers, a.a.O., S. 25)
Radikales Hinterfragen als Schulung des Denkens
Die frühen Dialoge zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu keinem Ergebnis führen, sondern alle scheinbar fertigen Meinungen radikal hinterfragen und so das Denken schulen: Ich weiß, dass ich nicht weiß. Im Zentrum der frühen Dialoge Platons steht die „Sorge um die Seele“ und damit die Frage nach der Arete (Vortrefflichkeit, Tugend). Sie zeichnen sich sowohl durch besondere methodische als auch dramatische und inhaltliche Merkmale aus. Die Grundmethode, die im Rahmen dieser Dialoge angewandt wird, ist die Methode des Elenchos, der Widerlegung der Ansicht des anderen Gesprächspartners. Das Ziel der philosophischen Bemühungen ist es, dem Leben eine Orientierung zu bieten. Die sophistische Streitkunst, die sich in der Beliebigkeit verliert und einzig das Ziel verfolgt, mit den geeigneten Definitionen und Argumenten die eigene Position durchzusetzen, wird entschieden abgelehnt. Auf einen Betrug mit Worten wird verzichtet. Im Vordergrund steht die gemeinsame Bemühung um die Wahrheit. Durch die Befreiung vom Scheinwissen wird zugleich das mangelnde eigene Wissen festgestellt. Auf der Basis einer gemeinsam geklärten Definition der Begriffe erfolgt dann die Untersuchung, warum etwas der Fall ist. Bereits die Suche nach der Wahrheit ist dabei eine sinnstiftende Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben.
Das auffälligste dramatische Merkmal dieser Dialoge ist jedoch, dass Sokrates die wichtigste Figur des Gesprächs ist. Er bestimmt die Grundfrage des Dialogs, orientiert die Antwort der anderen Gesprächspartner und prägt die ganze Diskussion durch seine Persönlichkeit und seine Ironie. Neben Sokrates sind die anderen Figuren entweder Sophisten (Protagoras im gleichnamigen Dialog) oder junge bzw. ungebildete Leute (wie Charmides oder der Sklave im Dialog Menon). Sokrates bemüht sich darum, dass sein Gesprächspartner das Wissen selbst erzeugt. Ein Wissen, das nicht selbst erworben sondern nur unverdaut übernommen wird, ist unfruchtbar und tot. Sokrates hilft deshalb lediglich wie eine Hebamme bei der Geburt der Erkenntnis. Dieser Prozess wird deshalb auch als Mäeutik bezeichnet. Dabei geht Platon davon aus, dass das Wissen bereits immer schon da ist und sich die Seele lediglich an das erinnern muss, was ihr bereits vor der Geburt bekannt war (Anamnesis). Die frühen Dialoge Platons sind die hauptsächliche Quelle für die Philosophie des Sokrates, der selbst keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hat.
Vorrang der Mündlichkeit
Wer ausschließlich durch die Lektüre fremder Schriften und ohne mündliche Lehrgespräche Kenntnisse anhäuft, erwirbt tatsächlich nur arrogante Vielwisserei und kompilierte Halbbildung. Diese ausufernde Bildungsbeflissenheit ist ein intellektueller Betrug. Totes Buchwissen befähigt weder zum lebendigen Selbstdenken noch zur Anwendung in einer neuen Situation. Es erwächst keine eigene Weisheit. Die Allgemeinheit des Logos wird nicht begriffen. Maßgeblich ist der Logos, der durch mündliche Unterweisung in die Seele des Gesprächspartners oder Schülers hineingeschrieben wird. Dieser Logos weiß sich zu wehren und kann unterscheiden, zu wem er reden oder besser schweigen soll. Es ist sinnlos, den Gesprächspartner zu überfordern (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 164). Es gibt Menschen, die nie erfassen werden, was eine Idee ist. Intelligenz und ein gutes Gedächtnis allein reichen nicht aus. Notwendig sind Wohlwollen, Neidlosigkeit und eine innere Verwandtschaft zur Welt des Intelligiblen. Die zum Aufleuchten der Erkenntnis hinführenden dialektischen Gedankengänge können von böswilligen Menschen verächtlich gemacht, herabgesetzt, obstruktiv gestört oder mutwillig missverstanden werden, denn schlecht steht es bei der Mehrheit der Menschen um den Zustand der Seele im Hinblick auf die Lernfähigkeit und den Charakter (Platon, Politeia 343e-344b). Das Überspringen des Funkens ist grundsätzlich nicht in Worte fassbar, denn es handelt sich um ein innerseelisches, nichtsprachliches Ereignis (Szlezák, a.a.O., S. 186 f.).
Eine Hermeneutik der platonischen Dialoge, die in diesen bereits die volle Wahrheit seines Denkens finden möchte, verkennt den Unterschied zwischen einem lebendigen Dialog als Urbild und dem schriftlich fixierten, weitgehend fiktiven Dialog als Abbild. Die schriftlichen Ausarbeitungen von philosophischen Erörterungen in Dialogform sind letztlich nur Abbilder eines vom lebendigen Logos beseelten dialektischen Argumentationsweges, in dessen Verlauf der Gesprächspartner oder Schüler an die Ideenlehre herangeführt werden soll.
Platon [hat] im allgemeinen nur solchen Leuten seine mündliche Unterweisung zuteil werden [lassen] und nur mit solchen Leuten seine Gedanken ausgetauscht [...], die dem Lebenskreise seiner „Schule“ angehörten. [...] Das Eigentliche der platonischen Lehre vollzog sich [...] in fortgesetzten, den langen Tag des Zusammenlebens ausmachenden Lehrgesprächen (Hans-Georg Gadamer: Platons ungeschriebene Dialektik, in: Gesammelte Werke Bd. 6, Griechische Philosophie II, 1985, S. 130 f.).
Damit unterliegen auch die Dialoge Platons selbst seiner eigenen Schriftkritik. Es ist für die unphilosophische Bewusstseinsstufe kennzeichnend, dass nicht präzise zwischen Urbild und Abbild unterschieden wird (Szlezák, a.a.O., S. 166). Philosoph ist nur, wer das, was er schreibt, mit einem lebendigen Wissen in seiner Seele schreibt. Er vermag helfend einzugreifen, wenn er in eine kritische Prüfung dessen eintritt, was er schrieb. Der überlegene Dialektiker ist dazu in der Lage, selbst das Wort zu ergreifen und seine Schriften im Lehrgespräch als geringfügig zu erweisen. Wer aber nichts von höherem Wert besitzt als das, was er mit großem Zeitaufwand nach langem Hin- und Herwenden, Aneinanderfügen und Ausstreichen in die Schriftform bringt, den kann man nur als Redenschreiber oder Dichter bezeichnen (Platon, Phaidros 278d-e).
Wer aber weiß,
dass in einer über einen beliebigen Gegenstand niedergeschriebenen Rede notwendig vieles Spiel ist, und
dass noch nie eine Rede (weder im Versmaß noch ohne Versmaß) als ernster Beachtung würdig niedergeschrieben oder vorgetragen worden ist, wenn es in der Art geschah, wie sie von den Rhapsoden gesprochen werden ohne tiefere Untersuchung und Belehrung, nur der Überredung halber,
dass vielmehr die besten niedergeschriebenen Reden in Wirklichkeit nur eine Gedächtnishilfe für die schon Wissenden sind;
dass hingegen in den [lebendigen] Reden über das Gerechte und Schöne und Gute, die zur Belehrung und Unterrichtung gesprochen und in Wirklichkeit in die Seele hineingeschrieben werden, und zwar nur in diesen, etwas einleuchtend Klares und Vollkommenes und ernster Anstrengung Würdiges ist,
dass ferner solche [lebendigen] Reden dann als seine eigenen, die gleichsam seine leiblichen Kinder sind, bezeichnet zu werden verdienen,
und zwar als Erstgeborene [Rede], wenn sie als eigener Fund ihm gehört,
sodann als Sprösslinge und Brüder von dieser, welche etwa in den Seelen anderer [nämlich der Gesprächspartner und Schüler] in würdiger Gestalt heranwachsen, weshalb er alle anderen gehen lässt,
dieser, o Phaidros, verspricht ein solcher Mann zu sein, wie ich und du wünschen dürften, dass du und ich würden. (Platon, Phaidros 277e-278b)
Die Aussparungsstellen
Das „Schweigen, zu denen man schweigen muss“ führt in den Dialogen Platons zu den sogenannten Aussparungsstellen. Thomas Alexander Szlezák (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985) hat eingehend dargelegt, dass von Platon Misstrauen und Skepsis gegenüber der schriftlich festgehaltenen Philosophie geübt wurde. Platon hat seine Dialoge gemäß dieser Kritik an der Schriftlichkeit verfasst und zentrale Lehren zurückgehalten. In den Dialogen wird auf grundlegende philosophische Gedanken hingewiesen, die dann in den einschlägigen Textstellen aber nicht behandelt werden. Die Funktion dieser Aussparungsstellen ist es, über den Text hinaus auf weiterreichende Theoreme mit einem höheren Begründungsniveau zu verweisen. Die schriftliche Darlegung ist also nur vorläufig. Der Philosoph hat die letzte Rechtfertigung seiner Argumente außerhalb seiner Schriften. Die Schrift muss inhaltlich transzendiert werden, wenn sie voll verstanden werden soll. Es gibt in späteren antiken Texten zahlreiche Hinweise auf eine Prinzipienlehre Platons, die in den Dialogen selbst nicht behandelt wird (Testimonia Platonica. Quellentexte zur Schule und mündlichen Lehre Platons, in: Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 441-557). Die Dialoge gehen demnach in der philosophischen Erörterung nur so weit, wie mit dem Verständnis der Rezipienten gerechnet werden kann:
Das Ausgesparte hat nicht den Charakter einer bloß möglichen, nicht zwingenden stofflichen Ergänzung auf gleichem Niveau, sondern ist mit der bisher verfolgten Argumentation sachlich notwendig verbunden;
das Ausgesparte würde in einen Bereich höherer Reflexion führen, also näher an die archai heranreichen;
die Aussparung steht an einer strukturell herausgehobenen Stelle des Dialogs und ist begründet
mit der Unzulänglichkeit der jetzt geführten Erörterung und/oder
mit dem unzureichenden Verständnis der Hörer (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 211).
So weigert sich Sokrates zum Beispiel trotz ausdrücklicher Nachfrage, seine Ansicht zum Wesen des Guten vorzutragen: „Was das Gute selbst ist, wollen wir für jetzt beiseitelassen – denn es scheint mir mehr zu sein, als dass wir mit unserem gegenwärtigen Anlauf jetzt auch nur das erreichen könnten, was meine Ansicht dazu ist“ (Platon, Politeia 506d-e). „Ich werde wohl, denke ich, gar vieles auslassen müssen; indes, soviel für jetzt möglich ist, davon will ich mit Willen nichts übergehen“ (Platon, Politeia 509c). Statt das Wesen des Guten theoretisch zu erörtern, folgt das Höhlengleichnis mit dem Aufstieg zum Licht der Sonne. Platons „Theorie der Prinzipien“ wird in den Dialogen nicht dargelegt, sondern allenfalls angedeutet. Auf den Hinweis von Sokrates, das Gute sei nicht Sein (ousia), sondern rage an Würde und Macht noch jenseits von Sein hinaus, ruft Glaukon aus: „Apollon, welch göttliches Übertreffen“ (Platon, Politeia 509c). A-pollon bezeichnet die Negation der Vielfalt und damit das Eine. „Demnach hätte Platon den philosophisch ahnungslosen Glaukon die Antwort auf seine formal nicht beantwortete Frage, was das Wesen des Guten sei (506d), durch seinen spontanen Ausruf Apollon unwissentlich selbst aussprechen lassen: Das Gute ist das Eine“ (Szlezák, a.a.O., S. 231). Was an der Oberfläche des Dialogs als Anrufung des Gottes erscheint, weist in seiner Tiefendimension auf die Prinzipienlehre.
Die Dialoge als Grundlage der Kritik
Die höchsten Prinzipien der platonischen Philosophie kommen in den Dialogen nur mittelbar, nämlich andeutungsweise und abbildhaft, zur Sprache. Die Dialoge sind der wesentliche Maßstab, wenn es darum geht, die Berichte der Schüler Platons über die ungeschriebene Prinzipienlehre zu bewerten. Denn diese indirekten Zeugnisse sind durch Umdeutungen entstellt. Für die Rekonstruktion der agrapha dogmata (ungeschriebenen Lehrsätze) ist jede Untersuchung über das „System Platons methodisch genötigt, die Dialoge als Grundlage der Kritik anzuerkennen“ (Gaiser, a.a.O., S. 340). Das rekonstruierbare Skelett der systematischen Prinzipienlehre erhält durch die literarischen Werke Platons mit ihrem ganzen Reichtum an Problemen und Beobachtungen überhaupt erst seine lebensvolle Gestalt. Wer die Gedankenbewegungen der Dialoge innerlich mitvollzieht und fortführt, befindet sich schon auf dem Weg der Dialektik, der letztlich zur Erkenntnis der Sache selbst hinleitet. Die Dialoge zeigen uns, wie die Strukturformeln der Prinzipienlehre arbeiten und „was die Axiome leisten für die Erklärung der menschlichen Welt [...] Dem sachlichen Vorrang der nur mündlich behandelten Prinzipien steht also der methodische Vorrang und die volle Authentizität der Dialoge gegenüber“ (Gaiser, a.a.O., S. 586).
Papyrusfragment von Platons politeia (Der Staat)
Überblick zu den Dialogen nach Entstehungszeit und Inhalt
Als Werke Platons sind 35 Dialoge, von denen heute zumindest 25 als echt gelten, und die Briefe überliefert, deren Echtheit bis auf den Siebten Brief überwiegend bestritten wird. Die Werke wurden von dem alexandrinischen Grammatiker Aristophanes von Byzanz in Trilogien und von dem Neupythagoreer Thrasyllos in 9 Tetralogien geordnet. Über die genaue Chronologie kann man nur Vermutungen anstellen. Aufgrund einer Statistik des Sprachgebrauchs werden jedoch Rückschlüsse auf die Abfassungszeit der verschiedenen Dialoge gezogen und diese zu Gruppen zusammengefasst, wobei bis heute keine Einheitlichkeit in der Gruppierung erzielt werden konnte. Chronologisch lassen sich im Wesentlichen drei Hauptgruppen unterscheiden, nämlich die frühen, mittleren und späten Werke. Gerald R. Ledger (Re-Counting Plato. A Computer-Analysis of Plato´s Style, 1989) will aufgrund einer computergestützten statistischen Auswertung vier Gruppen unterscheiden. Die nachfolgende Gruppierung versucht, inhaltliche und chronologische Gesichtspunkte zu verbinden.
Frühe Werke
Zur Charakterisierung des Sokrates (geschätzt zwischen 399 - 395 v. Chr.)
Apologie des Sokrates (die von Platon fingierte Verteidigungsrede des Sokrates): „Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt“ (Platon, Apologie des Sokrates 23b).
Kriton (Sokrates' Gesetzestreue): Sokrates hatte sich einst verpflichtet, die Gesetze zu achten und zu schützen. Eine Flucht vor dem Todesurteil wäre eine Gesetzesverletzung.
Die kleineren ethischen Dialoge
Euthyphron (Frömmigkeit): Was ist das Fromme, vielleicht ein Dienst an den Göttern? Nach einigen Definitionsversuchen wird das Gespräch abgebrochen.
Laches (Tapferkeit): Das Ziel der Erziehung ist das Gut-Sein, die Tugend (arete). In der Folge wird eine Teilarete exemplarisch untersucht, nämlich die Tapferkeit. Alle Definitionsversuche scheitern. „[...] wir müssen alle gemeinschaftlich zuerst für uns selbst den besten Lehrer suchen [...]“ (Platon, Laches 201a).
Charmides (Besonnenheit): Besonnenheit (sophrosyne) ist weder eine Art Bedachtsamkeit noch eine schamvolle Scheu. Aber vielleicht ist es Besonnenheit, das Seine zu tun?
Lysis (Freundschaft und Liebe): Wie findet man einen Freund, und wie müssen künftige Freunde beschaffen sein, um Freunde werden zu können?
Sonstige
Ion: Gespräch mit dem eitlen Rhapsoden Ion von Ephesos, ob es sich bei dem musischen Rhapsodenvortrag um eine Kunstfertigkeit (techne) und Wissen (episteme) handele.
Menexenos: Sokrates rezitiert für Menexenos eine Grabrede, die er von Aspasia vernommen habe.
Mittlere Werke
Auseinandersetzung mit den Sophisten
Euthydemos (übermütige Verspottung der sophistischen Trugschlüsse), teilweise auch den Frühwerken zugerechnet: Das selbstgefällige Treiben der Sophisten wird aufgedeckt und indirekt wird dazu ermahnt, sich zur Philosophie hinzuwenden. Weisheit ist die Grundlage des menschlichen Glücks.
Kratylos (gegen die sprachlichen Untersuchungen der Sophisten), teilweise auch den frühen Dialogen zugerechnet: Beruht die Benennung der Dinge auf beliebiger Übereinkunft oder folgt sie aus der Natur der benannten Dinge? Die Wörter repräsentieren niemals das Wesen der Dinge selbst, sondern sind eine Art Abbild. Sie wurden im Zuge der sprachlichen Entwicklung verändert und haben deshalb die abbildhafte Nähe zum Wesen der Dinge verloren. Da die Wörter auch auf Übereinkunft beruhen, muss der, der sie richtig gebrauchen möchte, das Wesen der zu benennenden Dinge bereits kennen. Wenn sich die Dinge ständig ändern, ist der Erkenntniswert der Wörter generell zweifelhaft.
Gorgias (gegen falsche Rhetorik), teilweise auch den Frühwerken zugerechnet: Rhetorik ist keine techne, also keine auf wissenschaftlicher Theorie basierende nutzvolle Kunstfertigkeit, sondern sie ist empeiria (Erfahrungswissen) und zielt nur darauf ab, Lust und Wohlgefallen zu erregen. Rhetorik ist eine schmeichlerische Scheinkunst. Für die Seele des Menschen ist es schädlich, ohne nachfolgende Strafe Unrecht tun zu können. Der hemmungslosen Befriedigung der eigenen Begierden und dem „Recht des Stärkeren“ wird die Philosophie entgegengesetzt, die auf Vernunft und Selbstprüfung vertraut.
Protagoras (Überlegenheit der Philosophie gegenüber der Sophistik überhaupt), teilweise auch den Frühwerken zugerechnet: Ist arete (Bestform, Tugend) lehrbar? Ist sie eine komplexe Einheit oder ist sie nur ein Oberbegriff und zerfällt tatsächlich in selbständige Teiltugenden? Alles Handeln strebt langfristig nach hedone (Annehmlichkeit, Lust). Der schlecht Handelnde verkennt den dauerhaften Lustgewinn, den arete mit sich bringt. Deshalb beruht alles schlechte Handeln auf mangelnder Einsicht. Arete beruht demnach auf Erkenntnis und ist lehrbar.
Menon (Lehrbarkeit der Tugend; Wiedererinnerung), teilweise auch den Frühwerken zugerechnet: Wahre Vorstellung, die durch ständige logische Kontrolle fundiert ist, ist zur Richtigkeit des Handelns und zur arete keine schlechtere Führerin als wahre Einsicht, die dem Menschen durch göttliche Schickung zufällt. Bei dem Dialog Menon könnte es sich der Sache nach um eine Programmschrift für Platons Akademie gehandelt haben (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 148).
Seinem Inhalt nach gehört in diesen Zusammenhang auch das I. Buch der Politeia (Dialog über die Gerechtigkeit).
Ideenlehre und Erkenntnis
Phaidros (Ideenlehre; Dreiteilung der Seele): Die Liebe ist ein den Menschen von den Göttern geschenkter heilsamer Wahnsinn, damit sie die Wahrheit und die verlorene Unsterblichkeit der Seele wiederfinden.
Theaitetos (über das Wissen), kurz nach 369 v. Chr.: Die Seele wird verglichen mit einer Wachsmasse, in die Sinneseindrücke unter gegenseitiger Überlagerung und Störung eingepresst werden, und mit einem Taubenschlag, in dem die Erkenntnisse wie Vögel herumflattern und erst unter der Gefahr von Verwechslungen eingefangen werden müssen. „Und das ist doch auf alle Weise einfältig, denen, welche die Erkenntnis suchen, zu sagen, sie sei richtige Vorstellung verbunden mit Erkenntnis, gleichviel ob des Unterschiedes oder sonst etwas anderen. Weder also die Wahrnehmung, oh Theaitetos, noch die richtige Vorstellung, noch die mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung kann Erkenntnis sein“ (Platon, Theaitetos 210a-b).
Symposion (schildert den Eros als den philosophischen Grundtrieb), teilweise auch den frühen Dialogen zugerechnet: Eros hat eine Vermittlerfunktion (metaxy) zwischen Menschlichem und Göttlichem. Durch die Liebe zum Schönen führt er die Menschen auf einem Stufenweg zur Erkenntnisschau des ewig wahren Göttlich-Schönen.
Phaidon (von der wahren Unsterblichkeit), teilweise auch zu den frühen Dialogen gerechnet: Die Seele (psyche) hat schon vor der Geburt eines Menschen existiert und lebt nach seinem Tod weiter, erst dann ist sie der lästigen Fesseln des Körpers ledig und frei.
Politeia II - X (der beste Staat; Buch V bis VII sind wahrscheinlich am spätesten verfasst): Der Ständestaat besteht aus den demiurgoi (Bauern, Handwerker; arete des besonnenen Maßhaltens), den phylakes (Wächter; arete der Tapferkeit) und den archontes (vollkommene Wächter, Herrscher; arete der Weisheit). Gerechtigkeit herrscht, wenn jeder der drei Stände „das Seine tut“ und so eine funktionsfähige, harmonisch-einheitliche Ganzheit entsteht. In der psyche des Menschen entspricht dies der Dreiteilung von epithymetikon (das Triebhafte), thymoeides (das Muthafte) und logistikon (Vernunft). Ziel der Paideia zum Philosophenherrscher ist der Aufstieg zur Wesensschau des Guten, der durch das Sonnengleichnis, das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis veranschaulicht wird.
Parmenides (die Ideen und das Eine): „[...] ob das Eins nun ist oder nicht ist, es selbst und das Andere insgesamt, für sich sowohl als in Beziehung aufeinander, alles auf alle Weise ist und nicht ist, und sowohl scheint als auch nicht scheint“ (Platon, Parmenides 166c). Logisches Gestrüpp (Wilamowitz-Möllendorf) oder das größte Kunstwerk alter Dialektik (Hegel).
Alterswerke
Sophistes (Wesen des Sophisten): Dihairesis (Zweiteilung) ist eine Methode, die nicht bei der Bezeichnung durch den Namen (onoma) verharrt, sondern eine Verständigung über die Sache selbst (ergon) durch Definitionen (logoi) anstrebt. Bei einer anschließenden ontologischen Erörterung wird die Alternativität von Sein und Nichtsein aufgeweicht und festgestellt, dass „[...] sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist, als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht ist“ (Platon, Sophistes 241d). Das absolute Sein hat die Fähigkeit, zu agieren und zu reagieren, weshalb ihm auch Bewegung, Leben, Seele und Einsicht zukommen, nur so ist koinonia (Gemeinschaft, Kommunikation) zwischen den seienden Wesenheiten möglich (Platon, Sophistes 247d-248e).
Politikos (Begriff des Staatsmanns): Der Politiker ist allein an seiner episteme (Erkenntnis) und Gerechtigkeit (dikaion) zu messen. Wer über beide verfügt, kann eigentlich ohne Gesetze regieren, da diese der vielfältigen Wirklichkeit niemals gerecht werden können. Es bedarf einer schriftlich festgelegten Verfassung, weil in die menschliche Gesellschaft im Gegensatz zum Bienenschwarm kein herausragender König hineingeboren wird. Die Monarchie ist im Guten und Schlechten die stärkste, die Oligarchie die mittlere und die Demokratie in beidem die schwächste Regierungsform.
Philebos (die Idee des Guten, im Gegensatz zur Lust): Wem gebührt der Vorrang, der Lust (hedone) oder der Erkenntnis (phronesis)? Ein lustvolles Leben ohne Erkenntnis wüsste nichts von seiner Lust und gliche einer Auster, ein Leben der reinen Erkenntnis wäre apathisch und bestenfalls einer göttlichen Vernunft, nicht aber dem Menschen angemessen. Unlust kann als Störung des Naturzustands betrachtet werden, der durch Lust wiederhergestellt wird. Für die Annäherung an das Gute stehen an erster Stelle metron (das rechte Maß) und kairos (die rechte Zeit), an zweiter Symmetrie und Schönheit, an dritter nous (Vernunft) und phronesis, an vierter episteme (Wissenschaft) und techne (Kunstfertigkeit) sowie an fünfter Stelle die reine hedone und die Freiheit von Unlust. Beim wünschenswerten Leben muss es sich um ein aus Lust und Erkenntnis gemischtes handeln.
Timaios (Naturphilosophie): Platon trennt nicht zwischen Natur und Geist sondern zwischen Sein, das durch Denken (noesis) und Deduktion (logos) erkannt wird, und Werden, das durch Vermuten (doxa) und Wahrnehmung (aisthesis) erfasst wird und dem der Kosmos angehört. Im Werden des Kosmos wirken als teleologisches Prinzip die Vernunftursache (nous) und als kausales Prinzip die blinde Notwendigkeit (ananke). Der Raum (chora) ist die Aufnehmerin und Amme des Werdens.
Kritias (geschichtsphilosophisches Fragment, vom Urzustand der Menschheit): Schilderung der fiktiven Länder Atlantis und Ur-Athen samt Geographie, Architektur und politischer Struktur, wobei das Ur-Athen dem platonischen Idealstaat der Politeia entspricht.
Nomoi/Gesetze (der zweitbeste Staat), bis 347 v. Chr., postum veröffentlicht durch Philippos von Opus. Es ist das Ziel aller Gesetzgebung, die Erziehung (paideia) der Menschen zur Gerechtigkeit als höchstem ethischen Wert zu gewährleisten. Die Erziehung hat nicht nur durch Zwang, sondern auch durch Überzeugung zu erfolgen, weshalb Einführungen den Sinn und Zweck der Gesetze begründen sollen. In den Nomoi wird die aristokratische Gütergemeinschaft der oberen Klasse aufgegeben, die Platon in der Politeia befürwortet hatte. In Gestalt gleicher und unveräußerlicher Landlose (Grundstückseigentum) wird die ökonomische Gleichheit auf die ganze Bürgerschaft ausgedehnt und zugleich Privateigentum zugelassen, wobei eine begrenzte Ungleichheit bezüglich des beweglichen Eigentums hingenommen wird. Ein Konvent aus zehn ältesten Gesetzeswächtern soll für die richtige Erziehung der Bürger, den Bestand des Staates und die Befolgung der Gesetze sorgen. An die Stelle des Philosophenherrschers tritt das Gesetz als oberster Herrscher auch über die Regierenden, das die Gesellschaft und das Leben der Bürger bis ins Letzte regelt.