Bei den überlieferten Lebensbeschreibungen mischen sich Wahrheit und Legende. Die älteste, vollständig erhaltene Biografie stammt von dem Platoniker Apuleius aus dem 2. Jh. n. Chr. Man findet sie am Anfang seines Werks „De Platone et eius dogmate“ (Michael Erler: Platon, 2007, S. 36). Platon kommt im ersten Jahr der 88. Olympiade in Athen zur Welt. Es handelt sich um das attische Jahr 428/427 vor unserer Zeitrechnung, das attische Jahr begann gegen Ende des Monats Juni. Die Akademie hat den Geburtstag Platons am 7. Thargelion (attischer Monat von Mitte Mai bis Mitte Juni) gefeiert. Historizität und Umrechnung in den heute gebräuchlichen gregorianischen Kalender sind zweifelhaft. Der attische Tag begann mit dem Sonnenuntergang. Möglicherweise handelt es sich bei Platons Geburtstag um die Zeit vom Abend des 26. bis zum Abend des 27. Mai 427 v. Chr. (vgl. ausführlich zur Berechnung Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums, 1871, S. 108; Ioannis Kalitsounakis: Platon, in: Neues enzyklopädisches Lexikon Helios, Bd. 16, 1952 [griech.]; Franz Brentano: Geschichte der griechischen Philosophie, 1988, S. 178). Auf den 7. Thargelion fällt auch der Geburtstag des Gottes Apollon, schon früh wurde in der Akademie das Doppelfest alljährlich begangen. Apollon, der Gott von Delphi, war ein Gott der bewusstmachenden Wahrheit, des Maßes, der inneren Ordnung und der Reinheit (Wolfgang Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, 1975, S. 25).
Perikles, der zwei Jahre vor Platons Geburt gestorben war, hatte die Vaterstadt gepriesen: „Wir lieben das Schöne in Schlichtheit, wir lieben die Weisheit ohne Weichlichkeit. Wir machen von unserem Reichtum lieber im rechten Augenblick für das Leben Gebrauch, als dass wir in Worten damit protzen. Und es ist für keinen eine Schande, seine Armut einzuräumen; aber es ist schändlich, ihr nicht durch Tätigkeit zu entrinnen“ (Thukydides 2.40.1, Totenrede des Perikles). Platon stammt aus einer wohlhabenden aristokratischen Familie. Sein Vater Ariston leitete seine Herkunft von Kodros ab, einem mythischen König von Athen. Seine Mutter Periktione war mit der Familie des athenischen Gesetzgebers Solon verwandt. Die Familie Platons lebt im Zentrum Athens in dem vornehmen Stadtteil Kollytos am Westabhang der Akropolis. Platon hat zwei Brüder, Glaukon und Adeimantos, und die Schwester Potone. Sein Vater Ariston verstirbt schon früh. Seine Mutter Periktione heiratet um 423 v. Chr. Pyrilampes, der als Freund und Anhänger des Perikles gilt (Plutarch, Perikles 13) und als Gesandter unter anderem nach Persien geschickt worden ist (Platon, Charmides 158a). Dessen Sohn Demos, der wegen seines guten Aussehens berühmt ist, wird dadurch Platons Stiefbruder. Aus der Ehe von Periktione und Pyrilampes geht ein weiterer Sohn hervor, Antiphon, ein jüngerer Halbbruder Platons. Platon erhält die für Söhne aus gutem Hause übliche literarische, musische und sportliche Ausbildung.
Konkretes über Platons Erziehung erfahren wir aus seinen Schriften nicht. Wir hören aus anderen Quellen von einem Grammatiklehrer Dionysios, einem Ringlehrer Ariston, verschiedene Musiklehrer werden genannt (darunter Damon). Wir hören von Unterricht in musischen Fächern – der adeligen Herkunft Platons angemessen – und sportlicher Betätigung, Bemühungen in der Malerei, von eigenen poetischen Versuchen (vor allem in der Tragödie und im Dithyrambos). […] Platons erster [philosophischer] Lehrer war nach Aristoteles der Herakliteer Kratylos (Michael Erler, a.a.O., S. 45).
Als Kind ist er zurückhaltend, fleißig und lernbegierig; er verfügt über eine rasche Auffassungsgabe. In jungen Jahren nimmt er als Ringkämpfer an den Isthmischen Spielen teil (Klaus Döring: Zur Biographie Platons, in: Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hrsg.), Platon Handbuch, 2009, S. 13). In seinem 18. Lebensjahr tritt Platon als Ephebe die zweijährige militärische Ausbildung an.
Die Akropolis von Athen, wie sie sich heute darstellt. Foto: Christophe Meneboeuf, ccbysa3.0
Während der oligarchischen „Herrschaft der Dreißig“ von August 404 bis März 403 v. Chr. erlangen zwei nahe Verwandte Platons politische Macht in Athen. Kritias, früher ein Schüler des Sokrates, reißt zusammen mit 29 weiteren Oligarchen und mit Hilfe der spartanischen Besatzer die Staatsgewalt an sich. Nach Diogenes Laertius wäre Kritias ein Großonkel Platons mütterlicherseits: „Des Solon Bruder nämlich war Dropides; dessen Sohn war Kritias, dessen Sohn Kallaischros, dessen Söhne Kritias, das Haupt der Dreißig, und Glaukon. Des Letzteren Kinder waren Charmides und Periktione, von der Platon stammte aus ihrer Ehe mit Ariston, als sechster von Solon abwärts“ (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 1). Diogenes Laertius hat aber wohl eine Generation übersprungen. Nach Platon selbst ist Kritias ein älterer Vetter und Vormund seines Onkels Charmides (Platon, Charmides 155a), also auch ein Vetter seiner Mutter Periktione. Kritias ist ein Anhänger der spartanischen Lebensordnung und befürwortet eine harte Ausbildung (DK 88 B 9: „Durch eifrige Bemühung und Übung (melete) sind mehr Leute tüchtig als von Natur“). Er fällt durch ein ausgeprägtes Ordnungsdenken und moralischen Rigorismus auf. Platons Onkel Charmides ist einer der zehn Archonten, die im Auftrag der Oligarchen den Hafen Piräus beherrschen. Es ist die Taktik der Dreißig, möglichst viele Unbeteiligte in ihre Verbrechen zu verwickeln. In den acht Monaten ihrer Herrschaft liquidieren sie 1500 Gegner und ziehen deren Vermögen ein. Kritias und Charmides sterben im Frühjahr 403 v. Chr., als die Dreißig Tyrannen zur Wiederherstellung der Demokratie gestürzt werden (Döring, a.a.O., S. 2). Nach der Niederlage der oligarchischen Partei haben die Spartaner weiterhin die Kontrolle über Athen. Aber sie tolerieren es, dass die Demokratie wieder errichtet wird. Deren Anführer verkünden eine allgemeine Amnestie. Diese direkte Demokratie währt mehr als 80 Jahre, von denen Platon mehr als 55 Jahre miterleben wird (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 31).
Kratylos und die Lehre Heraklits
Der verspätete Herakliteer Kratylos ist der erste philosophische Lehrer Platons, was auch Aristoteles bezeugt.
Da er nämlich von Jugend auf mit dem Kratylos und den Ansichten des Herakleitos bekannt geworden war, dass alles Sinnliche in beständigem Flusse sei, und dass es keine Wissenschaft davon gebe, so blieb er auch später bei dieser Annahme (Aristoteles, Metaphysik 987a).
Ein sprachphilosophischer Dialog aus der mittleren Schaffensperiode ist nach Kratylos benannt. Er unterweist ihn in der Lehre des Heraklit. Kratylos vermittelt dem jungen Platon den Primat der Seele vor dem Körper (vgl. Szlezák, a.a.O., S. 295). Die Seele gehört zum göttlichen Feuer, zum göttlichen Äther. Sie lebt nach dem Tod weiter, vielleicht in einer höheren Daseinsform. Die Seele und das Selbst sind etwas, das es zu suchen gilt und das einen tiefen Logos hat. Die ständige Wandelbarkeit der Erscheinungswelt führt bei Heraklit zu dem Satz, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne. Kratylos pointiert dies noch stärker: Noch während des Augenblicks, da man in den Fluss hinabtaucht, werde dieser ein anderer. Das, was sinnlich wahrgenommen werden kann, ist durch seine unaufhörliche Veränderlichkeit zugleich wesenlos. Bei Heraklit erscheint das Eine, das die Welt zusammenhält, sowohl als Zeus, als auch als Weltvernunft (logos), als auch als Feuer (Szlezák, a.a.O., S. 20). Der Lauf der Welt wird von dem Logos bestimmt, einem einheitlich-weltlenkenden Prinzip, das auch mit dem Namen des Göttervaters Zeus belegt werden kann. Es ist weise, auf die göttliche Logos-Einsicht zu hören, aber der Menge geht diese philosophische Fähigkeit ab. Kratylos wird in seinem Philosophieren zunehmend exzentrisch. Schließlich missbilligt er sogar den Gebrauch der Sprache überhaupt und erklärt, dass hinweisende Fingerbewegungen die allein sachgemäße Art der Äußerung seien. Später wird Platon den Kreis seines ersten Lehrers kritisieren und sich über ihn lustig machen. Doch die frühe Bekanntschaft mit der Lehre Heraklits wirkt nachhaltig. Bis ins hohe Alter meint Platon, dass die Sinnendinge aufgrund ihrer ständigen Veränderung kein geeigneter Gegenstand der Erkenntnis seien. Er entfaltet deshalb nur ein geringes Interesse an der empirischen Naturforschung.
Da sein zweiter und wichtigerer Lehrer Sokrates die Flusslehre – soviel wir wissen – nicht vertrat, ist es so gut wie sicher, dass Platons Bild der Sinnenwelt von seiner frühen Heraklit-Beschäftigung herrührt. […] Den Logos-Begriff im Sinne eines Weltgesetzes nahmen explizit die Stoiker wieder auf, implizit ist er aber auch bei Platon wirksam, wenn auch überformt vom anaxagoreischen Glauben an die Lenkung der Welt durch den Geist (Nous) und von der pythagoreischen Überzeugung von der ordnenden Funktion der Zahl im Weltall. (Szlezák, a.a.O., S. 251)
Sokrates, ein Meister der Philosophie
In seinem 20. Lebensjahr schließt sich Platon eng an Sokrates an (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 6). Die erste Begegnung macht einen intensiven Eindruck auf ihn, sie trifft ihn wie ein Blitz: Auf dem Weg zum Theater kommt Platon mit Sokrates zusammen, kehrt nach einem Gespräch mit ihm um und verbrennt seine Tragödien (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 25). Auch Platon hätte in der Politik Karriere machen können, aber die Herrschaft der Dreißig und die Verurteilung seines Lehrers Sokrates zum Tode 399 v. Chr. unter einer demokratischen Regierung lassen in ihm die Überzeugung reifen, dass es unvernünftig sei, ein Staatsamt anzustreben.
Als ich noch in meiner Jugend war, ging es mir wie vielen Jünglingen. Ich hatte im Sinne, sobald ich mein eigener Herr geworden war, mich an der Verwaltung des Staates zu beteiligen. Da kamen mir einige Verwicklungen im Staate dazwischen, und die waren folgender Art. Da Viele mit der damaligen demokratischen Staatsverfassung unzufrieden waren, so entstand eine Umwälzung derselben, und einundfünfzig aristokratische Männer stellten sich an die Spitze derselben, davon walteten elf in der Stadt Athen und zehn in der Hafenstadt Peiraieus als Verwaltungsbehörden, jede von beiden in Markt- und andren notwendigen Ämtern, die übrigen Dreißig aber machten sich zu unabhängigen Herrn des Staates. Unter diesen hatte ich einige Verwandte und Bekannte, und sonach luden sie mich alsbald zur Teilnahme an ihrer Politik, weil sie glaubten daß diese mir willkommen sein würde. Und da war es kein Wunder, wenn ich aus jugendlicher Unerfahrenheit mich dazu verleiten ließ. Ich hegte nämlich den Glauben, sie würden den Staat aus seinem moralisch zerrütteten Leben herausschaffen und ihre Verwaltung denn doch auf eine rechtliche Grundlage stützen, und darin widmete ich ihren politischen Reformen ein aufmerksames Augenmerk. Nach meiner Beobachtung nun zeigten diese Herrn in kurzer Zeit, daß der frühere politische Zustand noch Gold gewesen war. Und als ich erst sah, wie sie unter andern den Sokrates in seinen älteren Jahren, den mir so teuren Mann, welchen ich den Besten der damaligen Welt zu nennen keinen Anstand nehmen möchte, nebst anderen Gesellen ihres Gelichters ausschicken wollten, um ihnen einen der Bürger mit Gewalt zur Schlachtbank zu führen,und wie sie das offenbar aus keiner anderen Absicht taten als daß Sokrates, sei es mit oder ohne Willen, als Teilnehmer ihrer Politik gelte. Dieser aber folgte ihrem Befehle nicht und wollte sich lieber der größten Lebensgefahr unterziehen als ein Genosse ihrer verbrecherischen Staatshandlungen werden. Als ich, sag' ich, alle diese und noch etwelche andere Greueltaten ansah, da bekam ich einen Ekel an dieser neuen Politik und zog mich zurück von der damaligen Mißwirtschaft. Nach nicht langer Zeit kam es zum Sturz der Dreißig und gegen ihre politische Richtung. Und wiederum führte mich der Zug meines Herzens, obwohl etwas abgekühlt, unter Hintansetzung meiner persönlichen und häuslichen Interessen, zu den Staatsgeschäften der wiederhergestellten Republik. Auch hierin gab es nun, wie natürlich nach solchen Erschütterungen, viele Dinge, woran man Abscheu empfinden mußte, und man dürfte es gar nicht auffallend finden, wenn bei der einen Partei in Revolutionszeiten starke Repressalien gegen die Gegenpartei stattfinden. Es ist indessen nicht zu leugnen, daß die damals zurückgekommenen Demokraten noch viele Mäßigung zeigten. Aber ein neuer Unstern sollte mir in meinem politischen Leben begegnen. Das Unglück verfolgte den genannten Sokrates, unseren langjährigen Freund und Lehrer, und einige Wortführer brachten ihn vor Gericht, indem sie ihn der Gottlosigkeit beschuldigten, welche mit dem Charakter des Sokrates im grellsten Widerspruche stand. Es fanden sich Leute, die ihn durch Anklage vor Gericht brachten, und es fand sich auch eine Stimmenmehrheit, welche ihn verdammte und das Todesurteil über ihn aussprach, über ihn, welcher unter der vormaligen Aristokraten-Herrschaft, zu einer Zeit, als sie in der politischen Verbannung schmachteten, hinsichtlich eines ihrer damals flüchtigen Gesinnungsgenossen Anteil an einem abscheulichen Standrechtsprozesse zu nehmen sich beharrlich weigerte. Bei der Betrachtung solcher Vorgänge und der Menschen, welche damals an der Spitze der Staatsverwaltung standen, ferner bei näherer Prüfung der Staatsgesetze und sittlichen Gewohnheiten der Bürger, schien mir die Verwaltung eines Staatsamtes mit der Vernunft desto schwerer vereinbar, je tiefer ich in diese Zustände blickte und je mehr ich dem reiferen Alter zuschritt. (Platon, Siebter Brief 324c-325d)
Tod des Sokrates durch den Schierlingsbecher. Gemälde: J. L. David, 1787 n. Chr.
Mit Sokrates verbringt Platon acht Jahre. Sokrates hat selbst nichts geschrieben. Es ist wenig über den historischen Sokrates bekannt, viele Berichte über ihn passen nicht zusammen. Er ist der Sohn einer Hebamme und eines Bildhauers. Sokrates teilt selbst mit, dass er sich aus Geldmangel keinen Unterricht bei den Sophisten habe leisten können (Platon, Laches 168c). Mit über 50 Jahren heiratet Sokrates Xanthippe, gemeinsam haben sie drei Kinder. Junge Männer im Alter zwischen Jugend und Erwachsenheit findet er in einem ästhetischen Sinn erotisch anziehend (Günter Figal: Sokrates, 2. Aufl. 1998, S. 96). Sokrates betrachtet Erotik und Philosophie als Einheit. Eros ist ein inspirierender Gott bei der Selbstentfaltung des menschlichen Wesens und ein Stifter von Harmonie. Dabei ist Eros wohl eher mit Verlangen als mit Liebe zu übersetzen; er steht für das Verlangen, das uns zur Philosophie drängt. Eros drückt die asymmetrische Struktur zwischen dem Liebhaber als Begehrendem und dem begehrten Objekt aus, dessen man bedarf. Wahrer Erotiker ist, wer sich nach Erkenntnis sehnt. Der Eros bezeichnet das Streben nach Vervollkommnung, d.h. beim Menschen nach dem jeweils Guten, der Arete. Die Orientierung am Schönen ist die Voraussetzung für das Hervorbringen von Schönem (Michael Erler, a.a.O., S. 195-197).
Im Peloponnesischen Krieg kämpft Sokrates tapfer als Soldat, erträgt Strapazen und nimmt an drei Feldzügen teil. Dem verwundeten Alkibiades rettet er das Leben. Er ist begierdelos, ausdauernd, standhaft und selbstbeherrscht. Er trinkt bei Gelagen Wein, aber niemand sah ihn je betrunken. Nie lässt er sich gehen, den homoerotischen Annäherungsversuchen des Alkibiades widersteht er auch zu später Stunde, wie man Platons Dialog Symposion entnehmen kann. Zeitpunkt der Feier im Symposion ist der Sieg des wohl etwa 30-jährigen Agathon mit seiner ersten Tragödie an den Lenäen im Februar des Jahres 416 v. Chr. (Michael Erler, a.a.O., S. 194).
Sokrates pflegt allein zu reflektieren. Er löst Probleme in „gewohnheitsmäßigem stundenlangen Alleindenken für sich“ (Szlezák, a.a.O., S. 161). Sokrates ist das Haupt eines Kreises von jungen Männern, die ihm bedingungslos ergeben sind. Dieser Kreis hält sein Wissen geheim und schätzt es als Mysterien ein. Alkibiades teilt mit vielen anderen Schülern die Erfahrung, dass ihm das Herz klopft und die Tränen kommen, wenn er Sokrates hört. Sokrates lehnt sich an die orphischen und eleusinischen Mysterien an. Er führt in seinem Kreis eigene, philosophische Mysterien ein. Diese kreisen um die Unsterblichkeit der Seele, ihr Schicksal im Jenseits und um das Gewinnen des Lebensglücks (Eudaimonie) im Diesseits. Sokrates ist überzeugt von der Unsterblichkeit der Seele, die fest zum Glauben der orphisch-pythagoreischen Bewegung gehört. Der Sinn des Lebens ist die Bemühung um ethische Vervollkommnung. Ohne die Sorge um die eigene Seele ist das Leben nicht lebenswert. Philosophie ist für ihn ein Gottesdienst im Auftrag Apollons. Mitunter zeigt er öffentlich Sympathien für die undemokratisch verfassten dorischen Gemeinwesen auf Kreta und in Sparta. Sokrates bemüht sich um allgemeingültige Definitionen im Bereich der Moral und Arete (Gutsein, Bestform, Tauglichkeit, Vortrefflichkeit, Tüchtigkeit, Tugend). Er betrachtet seine Definitionen und Allgemeinbegriffe noch nicht als ontologisch unabhängig, wie wir von Aristoteles wissen. Die Trennung von der Sinnenwelt erfolgt erst später durch Platons Ideenlehre (Szlezák, a.a.O., S. 43-53, 258).
Moralisches Handeln ist für Sokrates eine Sache des Wissens. Wer über entsprechendes Wissen verfüge, handle notwendig moralisch. Wer Arete erlernt habe, könne nicht umhin, tugendhaft und vortrefflich zu handeln. Bei ethisch relevantem Wissen handelt es sich um ein Wissen, das ein Können ist. Es handelt sich nicht nur um die neutrale Kenntnis eines beliebigen Sachverhalts. Wenn jemand zu schwimmen weiß, dann ist er ein Schwimmer und kann damit schwimmen. Ähnlich verhält es sich mit der Arete. Sie ist eine Tüchtigkeit und insofern immer auch ein bestimmtes Können. Wer also weiß, was die Arete ist, der kann auch vortrefflich handeln und ist demnach tugendhaft. Sokrates ist wohl davon überzeugt, dass da, „wo wirkliche Erkenntnis des moralisch Richtigen vorliegt, die Erkenntnis so stark und ethisch motivierend ist, daß sie den Entschluß des Handelnden irreversibel beeinflußt und jedem anderen Impuls standhält“ (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2. Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, 2. Aufl. 1993, S. 104).
399 v. Chr. wird Sokrates angeklagt, die traditionellen Götter der Stadt Athen nicht anzuerkennen, neue Götter einführen zu wollen und die Jugend zu verführen. Er wird mit einer Mehrheit von 60 Stimmen für schuldig befunden. Das Strafverfahrensrecht der Polis sieht vor, dass auch der Angeklagte selbst ein eigenes Strafmaß beantragen kann. Und so beantragt Sokrates für sich eine Speisung im Prytaneion auf Kosten der Staatskasse. Vermutlich fühlen sich die Richter dadurch verhöhnt. Platon ist bei der Verurteilung des Sokrates anwesend. Er will zusammen mit drei anderen Freunden für die Zahlung einer Geldstrafe bürgen. Als Sokrates meint, er könne eine Geldstrafe von einer Mine gerade noch bezahlen, erhöhen die Freunde diese lächerlich geringe Summe auf 30 Minen, was etwa 14 kg Silber entspricht. Damit erklärt sich Sokrates dann einverstanden (Szlezák, a.a.O., S. 35). Doch die Mehrheit der Richter entscheidet sich für die Todesstrafe (Erler, a.a.O., S. 101). Die Möglichkeit zur Flucht schlägt Sokrates unter Berufung auf seine Gesetzestreue aus. Er meint, Unrecht zu tun sei schändlicher als Unrecht zu erleiden. Im Alter von 70 Jahren stirbt Sokrates durch den Schierlingsbecher, in der Antike ein Mittel zur Hinrichtung. Der Verurteilte muss einen Becher mit dem tödlichen Gift Coniin trinken. Es wird aus dem gefleckten Schierling (Conium maculatum) gewonnen. Bei den philosophischen Gesprächen im Gefängnis kurz vor dem Tod seines Lehrers ist Platon abwesend.
Der Eleatismus des Eukleides von Megara
Die Hinrichtung seines Lehrers hat Platon schwer erschüttert. Er verlässt Athen und reist zu Eukleides nach Megara, der Hafenstadt am Saronischen Golf in der Region Attika. Eukleides von Megara, gerühmt für seine Sanftmut, ist der älteste Schüler des Sokrates und sah ihn in der Gefängniszelle sterben. Er ist etwa 20 Jahre älter als Platon. Eukleides setzt das sokratische Gute (agathon) mit dem eleatischen Einen (hen) gleich:
Megarici … id bonum solum esse dicebant, quod esset unum et simile et idem semper. [Die Megariker … behaupteten, nur das sei gut, was eines und stets gleich und immer dasselbe sei.] (Cicero, Lucullus 129).
Der Eleatismus basiert wesentlich auf der Philosophie des Parmenides von Elea (gestorben bereits um 445 v. Chr.). Dieser schiebt die sinnliche Wahrnehmung als trügerisch beiseite, sie vermittelt nur Schein. Der Mensch soll auf den Logos vertrauen und sich dem reinen Denken zuwenden, mit dem er das reine Sein erfasst. Für Parmenides ist die Wahrheit notwendig nur eine, während der falschen Meinungen viele sind. Die eine Wahrheit ist die Einsicht in die Einheit des Seins. Parmenides entwickelt die Ontologie des einen wahren Seins, das zur Welt des Werdens, der Veränderung und der Vielheit im Verhältnis der Transzendenz stünde, wenn nicht diesem Monismus die Welt ohnehin als nichtiger Schein gelten würde. Platons spätere Absolutsetzung des Einen nimmt den ursprünglichen Einheitsgedanken der vorsokratischen Ursprungsphilosophie und dessen Radikalisierung durch Parmenides auf (Jens Halfwassen: Warum ist die negative Theologie für monotheistische Religionen attraktiv? Überlegungen zur Platonismusrezeption in den abrahamitischen Religionen, in: Aegyptiaca 3 (2018), S. 85-98, hier S. 87-89). Parmenides Schüler Zenon entwickelt eine Methode des erfahrungsunabhängigen Denkens und Argumentierens unter dem Namen Dialektik. Die Megariker, also Eukleides und seine Anhänger, ergänzen die Lehre des Parmenides mit sokratischem Gedankengut. Sie unterscheiden zwischen dem einen Guten und seinen vielfachen Erscheinungsformen und entsprechend zwischen der einen Arete und ihren mannigfachen Manifestationen (Graeser, a.a.O., S. 115). Werden, Vergehen und Bewegung werden geleugnet, das Seiende wird als Eins gesetzt. Das Gute ist das Eine und allein Seiende. Dem Nicht-Guten spricht Eukleides das Sein ab. Das Eine (hen) Platons geht unmittelbar auf das Eine Seiende des Parmenides zurück (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 516). Bereits für Parmenides ist der Seinsgrund „wesenhaft das in sich undifferenzierte, aller Individuation vorausliegende Absolute, daher das, was nur Ein Mal da ist, das schlechthin Einige, das nach Zahl, Zusammenhang, Zeit und Graduierung Eine“ (Krämer, a.a.O., S. 536). Die originale philosophische Leistung des Eukleides und der Megariker, welche für die platonische Philosophie von grundlegender Bedeutung werden sollte, liegt in der Gleichsetzung ontologischer und axiologischer Momente (Krämer, a.a.O., S. 506; zustimmend Graeser, a.a.O., S. 116). In den beiden Dialogen Theaitetos (142a ff.) und Phaidon (59c) wird Eukleides später von Platon ehrenvoll erwähnt werden.
Platon kehrt in seine Vaterstadt zurück. Im Jahr 395/394 v. Chr. nimmt er für Athen als Soldat im Korinthischen Krieg an zwei Feldzügen teil (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 8). Es gilt als wahrscheinlich, dass er in der Reiterei dient.
Platon als junger Philosoph
Um 390 v. Chr. hat der berühmte Rhetor Isokrates in Athen eine eigene Schule etabliert, zu dieser will Platon in Konkurrenz treten. Isokrates ist ein Schüler des aus Sizilien stammenden Rhetoriklehrers Gorgias, er vollendet die sophistische Bildungsbewegung mit dem Ziel der Wohlberatenheit. Sein Rhetorikunterricht will Lebensklugheit vermitteln, die zum rechten Denken, Reden und Handeln in jeder Situation befähigen soll - so versteht er philosophia. Er hat Kontakt mit Herrschern wie Philipp von Makedonien und Archidamos von Sparta, aus seiner Schule gehen bedeutende Politiker, Dichter und Historiker hervor (Wolf Steidle: Redekunst und Bildung bei Isokrates, in: Hermes 80 (1952), S. 257-296). In diesen Jahren tritt Platon allmählich als eigenständiger Kopf in Erscheinung, der sich auch von dem philosophischen Erbe der Vorsokratiker inspirieren lässt.
Anaximander sucht den Ursprung in etwas, das von dem aus ihm Gewordenen verschieden ist: im Apeiron, der Uferlosigkeit des Unmarkierten, das die Welt umfängt, ohne Teil der Welt zu sein. Es ist das Umhaltende und Umfangende, von dem abgegrenzt der Kosmos als das geordnete Gefüge der Welt endet. Aristoteles berichtet, dass Anaximander als erster den Ursprung mit einem von ihm neugebildeten Neutrum „to theion“ (das Göttliche) genannt hat. Anaximander ist auch der erste, der in seinem Ursprungsgedanken den Ursprung von der aus ihm entsprungenen Weltwirklichkeit kategorial unterscheidet. Er denkt den Ursprung als das Apeiron, also als das Unbegrenzte, Unendliche und Unbestimmte und damit als Verneinung der Weltstruktur, die durch das Wechselspiel der Gegensätze bestimmt ist, die aus dem Apeiron hervorgehen und wieder in es zurückkehren. Mit diesem Gedanken eines vorweltlichen Ursprungs formuliert Anaximander zum ersten Mal in der Geistesgeschichte einen Begriff des Göttlichen, der gänzlich unmythologisch ist (Halfwassen, a.a.O., S. 88 f.).
In Empedokles Elementenlehre sind Feuer, Wasser, Luft und Erde die vier ewigen, unveränderlichen und unzerstörbaren Grundelemente, aus denen alles besteht. Das Werden ist eine Veränderung des Mischungsverhältnisses dieser Grundelemente durch die beiden Grundkräfte Liebe und Streit/Hass. Mehr als 2200 Jahre wird diese Lehre in Geltung bleiben. Die Grundelemente bilden in der absoluten Liebe eine homogene Einheit. Sie werden durch Streit/Hass getrennt. Alle konkreten Dinge sind durch ein charakteristisches Mischungsverhältnis der Grundelemente bestimmt. Die Verbindung und die Auflösung organischer Gebilde erfolgen jeweils durch die gegensätzliche Wirkung von Liebe und Streit/Hass. Der orphisch-pythagoreische Glaube an die Seelenwanderung lehrt, dass die Seele nicht zum ersten Mal auf Erden ist, sondern nach dem Tod noch viele Male in anderen Körpern wiederkehren wird. Dabei ist die Reinkarnation ein Lernprozess, der früheres Fehlverhalten kompensiert. Dieser Gedanke ist auch in dem Lehrgedicht des Empedokles präsent. Die Seelen der Lebewesen sind in die irdische Welt herabgestürzt und streben danach, in die geistige Heimat zurückzukehren. Auf das nächste Leben muss man sich durch ethisches Verhalten vorbereiten. Die Tötung von Lebendigem ist schlechthin Mord und entspringt dem Streit/Hass. Die Hinwendung zur Liebe gebietet die Abkehr von Krieg und Meineid, die Zurückhaltung beim Essen und die sexuelle Enthaltsamkeit. Die höchste Form der Arete befreit von der Wiedereinkörperung (vgl. Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, 2009, S. 159-171; Szlezák, a.a.O., S. 19-20, 307).
Anaxagoras entwickelt eine Lehre vom Geist (nous), der das erste bewegende Prinzip ist. Er ist der Grund der Weltordnung und der Weltnotwendigkeit, die er erkennt und notwendig will. Er setzt eine Entwicklung in Gang, die den Charakter der Notwendigkeit hat (Röd, a.a.O., S. 189). Der Nous erkennt alles, was vermischt ist, und alles, was voneinander getrennt ist. Er versetzt alles in Bewegung und ist damit der Ursprung der Bewegung im All. Der kosmogonische Prozess beginnt durch einen vom Nous ausgehenden Anstoß, der in dem Urgemisch aller Dinge eine sich immer weiter ausbreitende Wirbelbewegung hervorruft. Im Mittelpunkt des kosmischen Wirbels bildet sich durch eine Konzentration bzw. Kondensation der Materie die Erde (Röd, a.a.O., S. 185). Zugleich ist der Nous ein Prinzip der Ordnung. Er stiftet den Sinn und den Zweck. Was immer werden sollte und was je war, was jetzt nicht ist, was jetzt ist und was alles sein wird, das alles hat der Geist geordnet. Anaxagoras scheidet den Nous nicht vollständig vom Körperlichen, er ist von feinster und reinster Stofflichkeit.
Zweifellos [...] übernimmt Platon Positionen und Fragen früherer Denker, wie Heraklits Lehre vom steten Wandel der Dinge, Anaxagoras These von der Lenkung des Kosmos durch den Nous, Pythagoras Denken in Zahlen und seine Auffassung von Philosophie als einer Lebensform, Parmenides Seinslehre und die im Eleatismus entwickelte Dialektik, die Suche nach der Selbsterkenntnis und den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, die Frage der Sophisten nach einer letzten Gültigkeit von Normen und vor allem Sokrates Versuch, Wertbegriffe neu zu fundieren. Durch Kritik, Integration und Synthese erfährt dieses Erbe eine Vertiefung. […] Die Lehre von den Ideen, deren Schau auch die Götter göttlich werden lässt, soll Aufklärung mit einer neuen Weise religiöser Weltsicht verbinden. (Michael Erler, a.a.O., S. 51, 339)
Der junge Platon wird möglicherweise auch vom Mysterienkult der Griechen beeinflusst. Seine Schüler Dion und Kallippos werden später an den Mysterien von Eleusis teilnehmen (Platon, Siebter Brief 333e). Thomas Alexander Szlezák, der letzte große Repräsentant der Tübinger Platonschule, beschreibt parallele Merkmale zwischen der Einweihung in die Mysterien und Platons Bild vom richtigen Philosophieren (Szlezák, a.a.O., S. 578):
Wer sich in die Mysterien einweihen lassen möchte, hat sich zuerst einer Reinigung zu unterziehen.
Er hat keinen Anspruch darauf, beim ersten Kennenlernen im Schnellverfahren alles zu erfahren. Die Teilnahme an den „Kleinen Mysterien“ in Eleusis ist die Voraussetzung für die Zulassung zu den „Großen Mysterien“. Dazwischen liegt die Frist von einem Jahr.
Bei den „Kleinen Mysterien“ wird der Mystes mit der Überlieferung (paradosis) bekannt gemacht.
Im Dunkel der Nacht erlebt er Dinge, die ihm Angst einjagen und ihn verunsichern sollen.
Jedem Mysten steht ein Mystagogos zur Seite, der ihn durch die rituelle Handlung führt.
Auf der Stufe der „Großen Mysterien“ wird der Mystes zum Epoptes. Er darf nun sehen, was er auf der ersten Stufe nicht sehen durfte. Im Telesterion, einem großen, geschlossenen Raum, zeigt sich ein großes Licht, das als beglückendes Erlebnis empfunden wird. Dieses Erleben (pathein) ist nach Aristoteles wesentlicher als das vorangegangene Lernen (mathein) in den „Kleinen Mysterien“.
Dieses Licht erscheint plötzlich.
Die Erfahrung der „Großen Mysterien“ sichert dem Epoptes ein besseres Schicksal im Jenseits.
Der Eingeweihte darf über das bei der Mysterienfeier Gelernte und Erfahrene mit Uneingeweihten nicht sprechen.
Mathematische Bildungsreise nach Kyrene
Antike Autoren wie Cicero, Strabon, Apuleius, Diogenes Laertios und Olympiodoros berichten von philosophischen Bildungsreisen, deren zeitliche Einordnung und Stationen unklar sind. Möglicherweise gab es eine erste Reise nach Unteritalien zu den Pythagoreern und danach eine große Bildungsreise Kyrene-Untertalien-Ägypten oder Kyrene-Ägypten-Unteritalien (vgl. Heinrich Dörrie: Der hellenistische Rahmen des kaiserzeitlichen Platonismus. Der Platonismus in der Antike Bd. 2, 1990, S. 450 ff.). Durch die Bildungsreisen erhält die Philosophie Platons einen „schweren Ernst“.
Platon eilte nach dem Tod des Sokrates nach Ägypten, um dort zu lernen, dann nach Unteritalien und Sizilien, damit er die Einsichten des Pythagoras genau erfahre. [...] Deshalb hat er dann, weil er zunächst den Sokrates einzigartig schätzte und ihm alles zuschreiben wollte, die sokratische Anmut und Feinheit der Rede mit der Dunkelheit des Pythagoras und mit jenem schweren Ernst der zahlreichen Wissensgebiete verwoben. (Cicero: De re publica I 10, 16)
Das erste Ziel der großen Reise ist jedoch die Stadt Kyrene, eine antike griechische Kolonie im heutigen Libyen. Hier soll Platon bei Theodoros Geometrie studiert haben. Dieser ist Schüler von Protagoras und Lehrer des Theaitetos, den er als seinen begabtesten Schüler betrachtet. Neben Mathematik interessiert sich Theodoros auch für Astronomie, Musik und Philosophie. Nach einem Bericht Platons bewies Theodoros die Irrationalität der Quadratwurzeln aus allen natürlichen Zahlen von 3 bis 17, die keine Quadratzahlen sind. In Platons Dialogen Theaitetos, Sophistes und Politikos tritt Theodoros als Gesprächspartner auf. So setzt er seinem kyrenäischen Lehrer ein Denkmal.
Archäologische Stätte von Kyrene in Libyen, wie sie sich heute darstellt.
Studium der Priesterkunst in Ägypten
Eine weitere - vielleicht nur legendenhafte - Station der Reise ist Ägypten. Dort habe sich Platon in die alte Weisheit einweihen lassen. Sein Staatsideal verdanke sich ägyptischen Vorbildern. Mit der politischen Macht und Weisheit der ägyptischen Priester besteht eine Gesellschaftsordnung, die dem Wissen die gebührende Herrschaft zugesteht (vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Sein Leben und seine Werke, 5. Aufl. 1959, S. 187). Ägypten galt den Griechen als das Land mit der ältesten kulturellen Tradition.
Es gibt in Ägypten [...] in dem Delta, um dessen Spitze herum der Nilstrom sich spaltet, einen Gau, welcher der saitische heißt, und die größte Stadt dieses Gaus ist Sais, von wo ja auch der König Amasis gebürtig war. Die Einwohner nun halten für die Gründerin ihrer Stadt eine Gottheit, deren Name auf ägyptisch Neith, auf Griechisch aber, wie sie angeben, Athene ist. Sie behaupten daher große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen stammverwandt zu sein. Als daher Solon dorthin kam, so wurde er, wie er erzählte, von ihnen mit Ehren überhäuft, und da er Erkundigungen über die Vorzeit bei denjenigen [ägyptischen] Priestern einzog, welche hierin besonders erfahren waren, so war er nahe daran herauszufinden, daß weder er selbst, noch irgend ein anderer Grieche, fast möchte man sagen, auch nur irgendetwas von diesen Dingen wisse. [...] Da aber habe einer der Priester, ein sehr bejahrter Mann, ausgerufen: O Solon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen alten Hellenen gibt es nicht! Als nun Solon dies vernommen, habe er gefragt: Wie so? Wie meinst du das? Ihr seid alle jung am Geiste, erwiderte der Priester, denn ihr tragt in ihm keine Anschauung, welche aus alter Überlieferung stammt, und keine mit der Zeit ergraute Kunde. (Platon, Timaios 21d-22b)
Die Ägypter galten den Griechen als Erfinder der Schrift, Mathematik, Geometrie, Astronomie, Philosophie und Theologie. In seinen Dialogen erwähnt Platon zahlreiche ägyptische Bräuche. Möglicherweise reist Platon nach Ägypten, weil er erfahren hat, dass die Ursprünge der pythagoreischen Liebe zur Weisheit dort zu finden seien.
Aber als [Platon] gehört hatte, dass die Philosophie der Pythagoreer aus Ägypten stammt, besuchte er auch Ägypten. Und er kehrte von dort zurück mit dem vollen Wissen der Geometrie und Priesterkunst. (Anonymus, Prolegomena in Platonis philosophiam 4, 8-10, englische Übersetzung in: Leendert Gerrit Westerink: Anonymous Prolegomena to Platonic Philosophy, 2011, S. 8).
Zu seinen Lehrern sollen Chonuphis in Memphis und Sechnuphis in Heliopolis gehören. Zudem soll er Gespräche mit den Priestern in Sais führen, wie eine romanhafte Brieffälschung aus der Zeit der zweiten Sophistik (1./2. Jh. n. Chr.) berichtet.
Die, welche aus Ägypten kamen, rechtschaffene Männer, meldeten uns, daß Du zuerst ganz Ägypten Dir angesehen habest und Dich jetzt in dem sogenannten Saitischen Gau aufhältst, um von den dortigen Weisen Aufklärung zu bekommen, was sie glaubten in bezug auf das All, wie es entstanden sei und nach welchem Gesetz es sich jetzt bewege, in den Teilen und im Ganzen. Es heißt nämlich, daß sie sich aus irgend einem Grunde nicht gern mit den Griechen unterreden; mit der Ausnahme aber, daß die in Heliopolis dem Pythagoras die Lehren über die Natur und die Geometrie und die Zahl mitteilten. (unechter Brief eines Sokratikers an Platon; Übersetzung der Sokratikerbriefe in: Liselotte Köhler: Die Briefe des Sokrates und der Sokratiker, 1928, S. 83; Köhler Brief 26 = Orelli Epist. Socr. 28).
Nildelta in der Antike mit Memphis, Heliopolis und Sais
Strabon berichtet als Augenzeuge, dass ihm im Jahr 25/24 v. Chr. der Ort in Heliopolis gezeigt worden sei, wo Platon studiert haben soll (Text und Übersetzung bei Dörrie, a.a.O., S. 170 f.). Möglicherweise wird Strabon dabei aber nur zu einem Sprachrohr ägyptischer Kulturpropaganda, die sich der Gestalt Platons bedient, um einer neugierigen römisch-griechischen Reisegesellschaft Erinnerungsstücke für die Überlegenheit der ägyptischen Kultur vorzuführen (Dörrie, a.a.O., S. 443 f.). Die älteste weitgehend erhaltene Platonvita im Index Academicorum des epikureischen Philosophen Philodemos (110-35 v. Chr.) berichtet nur von seinen Reisen nach Unteritalien und Sizilien, in dem Fragment findet man keine Hinweise auf die Ägyptenreise. Die Berichte von einer Reise nach Ägypten mit ihren teils widersprüchlichen Angaben beginnen erst spät zu fließen; möglicherweise handelt es sich um Legenden (Dörrie, a.a.O., S. 429; a.A. Konrad Gaiser: Philodems Academia, 1988, S. 397: Philodemos habe die erste Sizilienreise zehn Jahre zu früh angesetzt).
Insbesondere Heliopolis war zu griechischer Zeit ein berühmtes Bildungsziel. Als mythischer Geburtsort der ägyptischen Götter nahm das Heiligtum von ca. 2400 v. Chr. bis ins 4. Jh. v. Chr. die Rolle eines wichtigen religiösen Zentrums ein. Auch Solon, Pythagoras, Herodot und Eudoxos von Knidos haben hier studiert (vergleichende Aufstellung bei Dörrie, a.a.O., S 429). An ihrer Basis bis zu 17 m mächtige Mauern umschlossen einst das etwa 1 km² große Areal, die Höhe der Umfassungsmauern wird auf 12 bis 20 m geschätzt (Dietrich Raue: Reise zum Ursprung der Welt. Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis, 2020, S. 79 f.). In der sagenumwobenen Stadt lebten damals ausschließlich Priester, die in der ganzen Welt der Antike für ihre Weisheit bekannt waren. Das zentrale Heiligtum in Heliopolis war der Sonnentempel mit dem Urhügel. Hier ist nach ägyptischer Vorstellung die Welt entstanden.
Im Anfang ist der lichtlose, ortlose und endlose Urzustand, ein vorweltliches Chaos, eine Form von Urwasser, eine gestaltlose und namenlose Präexistenz, die bereits Gott ist. Dieser verwandelt sich in die Welt, er erfüllt die Welt von innen heraus und belebt sie in fortwährender Schöpfung. In einer ersten Transformation geht der Urhügel als Schaffung des Raums hervor. Sein inselartiges Auftauchen aus dem Urwasser ist von der Erfahrung der alljährlichen Nilüberschwemmung geleitet. In einer zweiten Transformation erhebt sich über dem Urhügel die Sonne als Schaffung des Lichts und der Zeit.
Der erste Sonnenaufgang auf dem Urhügel ist verbunden mit Atum als dem undifferenzierten Urgott, der als Sonne (Re) aufgeht. Atum erzeugt aus sich selbst
Schu (Luft) und
Tefnut (Feuer, Licht). Damit entsteht aus dem Einen die Dualität, auf der alles Entstehen in der Welt beruht. Schu und Tefnut erzeugen wiederum
Geb (Erde) und
Nut (Himmel, gebiert und verschluckt alle Gestirne, beugt sich über Geb). Geb und Nut zeugen vier Kinder, womit die Entfaltung in die Geschichte beginnt. Diese sind
Osiris (gewaltsam durch Seth getötet, Herrscher der Toten, Sterben und Wiederaufleben der Natur, Nilüberschwemmung und Fruchtland) und
Isis (zauberkundigste Vielgestaltige, Wiedergeburt; sie zeugt mit Osiris den Weltgott Horus, der mit seinen Flügeln den Himmel überspannt und die Erde schirmend deckt und dessen Augen Sonne und Mond sind) sowie
Seth (gewalttätiger und zwielichtiger Gott, Wüste) und
Nephthys (Herrin des Hauses, Schützerin der Toten).
Jeder ägyptische Gott hat zwar seine eigene Erscheinungsform, doch alle Götter haben Teil an einer einzigen göttlichen Macht. Der Urgott verwandelt sich in die Welt, er ist „der Eine, der sich in Millionen [d.h. das Ganze] verwandelt“ (Jan Assmann: Theologie und Weisheit im alten Ägypten, 2005, S. 55 f.). In der fortwährenden Gegenwart der Präexistenz liegt das Geheimnis der zyklischen Zeit, der Reversibilität und Regeneration, der Chance zu Verjüngung und Neugeburt nach dem Vorbild des Sonnengottes, der jeden Morgen verjüngt aus dem Urwasser aufsteigt (Jan Assmann: Steinzeit und Sternzeit, 2011, S. 40 und S. 282). Der Sonnengott hat den König als Sonnenpriester eingesetzt, sein Wissen legitimiert ihn zur Machtausübung. Der König verwirklicht das Prinzip der Ma'at: Gerechtigkeit unter den Menschen durch Rechtsordnung und Rechtsprechung, Harmonie unter den Göttern durch Verehrung, Opfer und Frömmigkeit. Ma'at ist der erstrebenswerte vollkommene Zustand der Dinge, die Ordnung und das rechte Maß. Es ist das Ziel, unter den Bedingungen der gespaltenen Welt in unermüdlicher Anstrengung Frieden und Harmonie wiederherzustellen (Jan Assmann: Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, 2006, S. 210 f.).
Der Kult um den Sonnengott zeigt sich symbolhaft in den Obelisken, die als steinerne Strahlen der Sonne nach oben hin schlanker werden. Von dem großen Heiligtum in Heliopolis ist als Baurest nichts mehr erhalten außer einem 20,5 m hohen Sonnenstrahlobelisken aus rotem Assuangranit (Anfang 2. Jtsd. v. Chr.).In der Tempelanlage von Heliopolis wird am Morgen die Sonne auf dem durch eine Steinsetzung (Benben) gekennzeichneten Urhügel verehrt. Auch die Griechen betrachten die Sonne (Helios) schon früh als eigenständigen Gott, einen offiziellen Kult gibt es aber fast nur auf Rhodos. Eine Gleichsetzung von Helios mit dem Gott Apollon ist im 5 Jh. v. Chr. nur vereinzelt feststellbar. Auch Platons Lehrer Sokrates praktiziert das morgendliche Gebet an die Sonne: „[Sokrates] aber blieb wirklich stehen bis der Morgen graute und die Sonne aufging; dann aber ging er von dannen, nachdem er zuvor noch sein Morgengebet an die Sonne [Helios] verrichtet hatte“ (Platon, Symposion 220d). In seinem Dialog Nomoi möchte Platon für die beiden Götter Helios und Apollon einen gemeinsamen heiligen Bezirk im Sinne einer Kultgemeinschaft begründen (Platon, Nomoi XII 945e; Klaus Schöpsdau: Nomoi (Gesetze) Buch VIII - XII, 2011, S. 382 u. S. 538).
Sonnengott Helios, 2. Jh. n. Chr., Stoa des Attalos (Museum of the Ancient Agora, Athen), Inv.nr. S 2355. An der Büste befinden sich Löcher für die Befestigung der abgegangenen Strahlenkrone.
Besuch bei den Pythagoreern
Im Alter von etwa 40 Jahren bricht Platon zu einer großen Reise nach Unteritalien und Sizilien auf. Es ist eine zweite lange Bildungsreise, vielleicht auch nur die Fortsetzung der Kyrene-Ägypten-Reise. In Unteritalien besucht er die Pythagoreer. Er schließt eine lebenslange Freundschaft mit dem Philosophen Archytas von Tarent. Dieser ist nicht nur Mathematiker und Naturwissenschaftler, sondern zugleich Staatsmann und Feldherr seiner Vaterstadt. Bemerkenswert sind seine Forschungen im Bereich der Harmonik und Akustik, wo er die Tonhöhe mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalls in Verbindung bringt (Röd, a.a.O., S. 56). Möglicherweise begegnet Platon an der Südostküste Kalabriens in Lokroi auch dem Pythagoreer Timaios, den er später zur Hauptfigur des gleichnamigen Dialogs machen wird (Michael Erler, a.a.O. S. 50; a.A. Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, 1962, S. 75: Es liege kein Grund vor, Timaios als historische Persönlichkeit zu betrachten). Pythagoras selbst ist damals schon weit über hundert Jahre tot. Platons Freund Archytas ist dem jüngeren pythagoreischen Bund zuzurechnen, der sich bis zum Ende des 4. Jh. v. Chr. in Tarent halten kann. Dieser pflegt die Geistesaristokratie des älteren pythagoreischen Bundes mit einem ausgeprägten Interesse für die vier pythagoreischen Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik sowie für Philosophie und Medizin. Die musikalische Theorie der Pythagoreer ist mit ihrer Arithmetik notwendig verbunden.
Da war eine Religion, die sich zugleich als Wissenschaft gab; die mußte er kennenlernen. Endlich hatten die Pythagoreer wenigstens vorübergehend die politische Herrschaft in einigen unteritalischen Städten besessen, und sie bildeten auch jetzt noch eine weithin über Hellas verbreitete Gemeinschaft. [...] Allein von den Pythagoreern steht es fest, daß sie eine Bruderschaft waren, zusammengehalten durch die Übung ihrer Religion, aber auch gemeinsam die Wissenschaften pflegend und lehrend, also ein Vorbild der platonischen Akademie (Wilamowitz-Moellendorff, a.a.O., S. 189).
Archytas von Tarent, Quelle: Österr. Nationalbibliothek Inv.nr. PORT 00135146 01
Das Ziel des Menschen ist es gemäß der pythagoreischen Lehre, in der Einheit von theoretischem Wissen (Mathesis) und praktischer Lebensführung (Askesis) Gott zu folgen und die göttliche Weltordnung nachzuvollziehen. Die Glückseligkeit (Eudämonie) besteht in der harmonischen Übereinstimmung mit Gott. Die Pythagoreer haben von den Orphikern die Lehre von der Seelenwanderung übernommen. Der Leib ist das Grab der Seele. Diese ist an den Leib gekettet. Durch den Weg der Übung und Reinigung soll sie sich von der körperlichen Sinnlichkeit läutern und wieder ganz Geist werden. Denn die Einzelseele gehört dem All-Leben des beseelten Universums an. Indem sie ihre Verunreinigung durch die individuelle Verkörperung überwindet, kann sie mit der Allseele wiedervereinigt werden (Röd, a.a.O., S. 58). Mathematik und Philosophie helfen dabei, den Menschen zu vergeistigen und von der Sinnlichkeit zu befreien. Durch die Harmonie und Gesetzmäßigkeit der Musik soll der Mensch harmonisch geformt werden. Die Seele gilt insofern als tugendhaft, als sie sich in die universale Harmonie der Gesamtwirklichkeit einfügt (Röd, a.a.O., S. 73). Gymnastische Übungen helfen dabei, den Körper unter die Zucht des Geistes zu bringen. Die Pythagoreer glauben an die durchgängige Verwandtschaft alles Lebendigen. Fleisch und Bohnen sind als Nahrung verboten. Die jüngeren Pythagoreer nehmen an, dass die Erde eine Kugelgestalt habe. Das ganze Himmelsgebäude ist Harmonie und Zahl. Durch die Zahl wird das Unbegrenzte/Unbestimmte zu einem Begrenzten/Bestimmten.
Man muss die Werke und das Wesen der Zahl nach der Kraft beurteilen, die in der Zehnzahl liegt. Denn sie ist groß, allvollendend, allwirkend und göttlichen und himmlischen sowie menschlichen Lebens Anfang und Führerin. […] Ohne diese aber ist alles grenzenlos und undeutlich und unklar. Denn erkenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und lehrend für jeglichen in jeglichem, das ihm zweifelhaft oder unbekannt ist. Denn nichts von den Dingen wäre irgendwem klar, weder in ihrem Verhältnis zu sich noch zu einander, wenn die Zahl nicht wäre und ihr Wesen. Nun aber bringt diese innerhalb der Seele alle Dinge mit der Wahrnehmung in Einklang und macht sie dadurch erkennbar… (Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 1954, S. 411 = Philolaos DK 44 B 11)
Das wesentliche Gegensatzpaar sind Peras, das Begrenzende/Bestimmende, und Apeiron, das Unbegrenzte/Unbestimmte. Das Apeiron wird durch das Peras begrenzt und dadurch überhaupt erst zu einer erkennbaren Einheit. Die Einheit ist der Ursprung aller Dinge. Die Harmonien der Töne in der Musik sind durch Zahlenrelationen bestimmt. In der musikalischen Harmonie wird die mathematische Struktur erkannt. Die musikalischen Intervalle stimmen mit mathematischen Proportionen überein. Die musikalische Ordnung ist ein harmonisches Proportionengefüge. Die Pythagoreer übertragen diesen Gedanken auf das gesamte Sein. Alles ist Zahl, die gesamte Welt ist ein harmonisch-mathematisches Ordnungssystem. Die Dinge sind durch Nachahmung (Mimesis) allgemeiner Zahlenbeziehungen als das bestimmt, was sie jeweils sind. Die Pythagoreer huldigen dem Ideal der Freundschaft und Verbrüderung aller Menschen sowie den geistigen Werten Besonnenheit, Gerechtigkeit, Weisheit und Frömmigkeit.
In der Antike gilt insbesondere Pythagoras als Vorbild Platons, doch ist die Beziehung Platons zu den Pythagoreern besonders schwierig zu beurteilen (Michael Erler, a.a.O., S. 345). Platon bewundert die pythagoreische Lebensweise; die Nachfolger des Pythagoras erscheinen ihm als „ausgezeichnet vor allen anderen“ (Platon, Politeia 600b). Platons These von der Reinkarnation der Seele in anderen Menschen oder niederen Lebewesen führt man auf pythagoreische Einflüsse bei seinen Sizilienreisen zurück. Denn mit Ausnahme der Pythagoreer gehen die anderen großen philosophischen Schulen wie zum Beispiel Peripatos, Stoa und Epikureismus von der Vergänglichkeit der Seele aus (Erler, a.a.O., S. 378-379). Auch für Platons zentrale Frage nach dem rechten Maß ist pythagoreisches Denken von großer Bedeutung (Erler, a.a.O., S. 425). In der pythagoreischen Tradition steht zudem Platons Auffassung vom Schönen. Er bringt Schönheit mit Ordnung und Maß in Verbindung und versteht sie als Proportion und Harmonie im Sinne einer Fügung der Teile, wobei die Grundlage der Gedanke der Einheit ist. Inhalt und geistige Form müssen korrespondieren, um als schön empfunden zu werden (Erler, a.a.O., S. 489).
Die Pythagoreer kennen zwar den Gegensatz zwischen peras (Grenze) und apeiron (Unbegrenztes), aber sie verbinden diesen Gegensatz noch nicht mit dem Unterschied von Sein und Nichtsein. Platon übernimmt von ihnen die Auffassung, dass sich alles Seiende mathematisch erfassen und beschreiben lässt. Doch er geht darüber hinaus, indem er das Mathematische ontologisch als einen Sonderbereich zwischen den sinnlichen Erscheinungen und dem wahrhaft Seienden ansetzt. Deshalb kritisiert er die Naturforschung der Pythagoreer, die sich nach seiner Auffassung zu empirisch an den Phänomenen orientiert, statt nach oben zu blicken und die Welt des sinnlich Wahrnehmbaren zu transzendieren (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 234). Sein Freund Archytas ist ein wichtiger Vermittler zwischen dem spekulativen, mythischen Weltbild der älteren Pythagoreer und der Philosophie Platons. Doch was bei den Pythagoreern noch Spekulation, Ausdeutung, intuitiv gewonnene Überzeugung und Ehrung der Zahl ist, wird von Platon zu einer echt wissenschaftlichen Denkweise produktiv weiterentwickelt. „Auch wenn Platon kein Fachmathematiker war, scheint doch seine Philosophie für die Grundlagen der Mathematik den entscheidenden Durchbruch bedeutet und zugleich das Interesse der Philosophen noch mehr auf die Mathematik gerichtet zu haben“ (Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft, 1962, S. 400).
Erste Reise nach Sizilien
388 v. Chr. reist Platon nach Sizilien, um die Insel und den Vulkan Ätna mit seinen „Feuerschlünden“ zu besichtigen (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 18). Um den Vulkan ranken sich zahlreiche Legenden. So soll wenige Jahre vor der Geburt Platons der Philosoph Empedokles seinem Leben ein Ende bereitet haben, indem er in den Krater sprang, um gemäß der von ihm beanspruchten Göttlichkeit alle Spuren seiner irdischen Existenz zu tilgen. In seinem Dialog Phaidon bezieht sich Platon ausdrücklich auf die vulkanische Aktivität auf Sizilien.
Alle diese nun wären unter der Erde vielfältig gegen einander wie durch Bohrgänge, enger und weiter, verbunden, so daß sie Durchgänge haben unter sich, durch welche denn viel Wasser aus einem in den andern fließt, wie in Becher, und daß es unversiegende Ströme von unübersehbarer Größe unter der Erde gebe von warmen und kalten Wassern und viel Feuer und große Ströme von Feuer, viele auch von feuchtem Schlamm, teils reinerem, teils schmutzigerem, wie in Sizilien die vor dem Lavastrome sich ergießenden Ströme von Schlamm und der Lavastrom selbst, von denen denn alle Orte erfüllt werden, je nachdem jedesmal jeder seine Umwälzung nimmt. (Platon, Phaidon 111d-e)
Der Westen Siziliens wird von den Karthagern beherrscht. Dionysios I. herrscht über den ganzen griechischen Teil der Insel, weite Teile Unteritaliens und Gebiete an der Adria. Auf Sizilien erreicht Platon die Einladung an den Hof des Tyrannen in Syrakus, der musische Interessen pflegt. Dieser hat die mächtigste und mit 48 Jahren am längsten dauernde Tyrannenherrschaft der griechischen Welt gegründet. Er hat aus dem Stadtstaat Syrakus eine territoriale Macht von bis dahin unbekannter Größe und militärischer Schlagkraft gemacht. Zugleich hält er sich aber auch für einen begnadeten Dichter (Szlezák, a.a.O., S. 59). „Offenbar spielte [Dionysios I.] bei dem Besuch [Platons] nur eine Nebenrolle; er hatte nichts weiter zu tun als ja zu sagen, als sein jugendlicher Verwandter Dion, der sich bei dem Tyrannen hoher Schätzung erfreute und an den Staatsgeschäften teilnahm, ihn um die Erlaubnis bat, den reisenden Philosophen, der ohnehin nach Syrakus kommen wollte oder schon dort war, einzuladen. […] Wenn Dion, wie wir annehmen, die Begegnung mit Platon gewünscht und herbeigeführt hat, die eigene und die des Dionysios, dann hat er schon etwas von Platon und seiner Philosophie gewußt; entscheidend für seine Hinwendung zur platonischen Lehre wurde allerdings, nach der Erzählung des Meisters, erst die persönliche Bekanntschaft. […] Nicht Platon also war es und natürlich noch viel weniger Dionysios, sondern Dion, der damals zuerst auf den Gedanken kam, platonische Philosophie in Syrakus zu verwirklichen.“ (Lothar Wickert: Platon und Syrakus, in: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge, 93. Bd., 1. H. (1949), S. 27-53, hier: S. 28-29). Sizilien war damals für sein Luxusleben bekannt, die schwelgerische Lebensweise war in dieser Hinsicht sprichwörtlich. Platon sieht darin einen Grund für die politische Instabilität der dortigen Gemeinden (Michael Erler, a.a.O., S. 50).
Was mir aber bei meinem ersten Auftreten höchst mißfiel, das war das dort so genannte glückselige Leben, bestehend in der italischen und syrakusischen Völlerei, nämlich in der Gewohnheit, des Tags zwei schwelgerische Mahlzeiten zu halten, des Nachts nicht allein im Bette zu liegen, und überhaupt die mit solchem Leben zusammenhängenden Liebhabereien zu treiben. Denn kein Mensch unter dem Himmel vermag unter solchen Gewohnheiten, wenn er von Jugend auf darin sein Leben treibt, zu einem besonnenen und klugen Manne heranzureifen, noch weniger wird es ihm einfallen, nach der Fertigkeit eines in jeder Beziehung weisen Lebens zu streben, und dieselbe Behauptung gilt natürlich auch von den übrigen Tugenden. Ferner kann auch kein Staat selbst unter der besten Verfassung zum Glücke des inneren Friedens gelangen, wenn seine Bürger einerseits glauben, alles in übermäßiger Verschwendung durchbringen zu müssen, wenn sie andererseits es für richtig halten, sich weder in körperlicher noch in geistiger Beziehung einer Anstrengung unterziehen zu dürfen, außer wenn es gilt, sich bei schwelgerischen Eß- und Trinkgelagen sowie im Bette der Wollust zu zeigen. Solche Staaten stehen bald unter einem absoluten Tyrannen, bald unter der Herrschaft der Oligarchen, bald unter einer Pöbelherrschaft, und kommen aus diesen Revolutionen gar nicht heraus... (Platon, Siebter Brief 326b-d).
Insel Ortygia, wie sie sich heute darstellt. Foto: Agostino Artnoir Sella, ccbysa2.0
Das historische Zentrum der Stadt Syrakus ist die Insel Ortygia. Als Gast wohnt Platon auf dieser 40 ha großen „Wachtelinsel“, die durch ein System ringförmiger Befestigungen von Dionysos I. zu einem Tyrannensitz mit Palast, Garten und geheimem Hafen ausgebaut worden ist (Wolfram Hoepfner: Philosophenwege. Xenia, Heft 52, 2018, S. 28 ff.). In einer Diskussion erklärt Platon freimütig, dass er den Tyrannen nicht für den glücklichsten Menschen halte. Der Tyrann solle nicht nach dem bloßen Nutzen trachten. Er solle besser den inneren Tugendwert zum Maßstab seines Handelns machen. „In einer zornigen Aufreizung erwidert [Dionysios]: Deine Worte schmecken nach Altersschwäche. Darauf Platon: Und deine nach Tyrannenlaune“ (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 18). Platon überwirft sich mit Dionysios I., schließt aber Freundschaft mit dem schwerreichen Dion, dem Schwager und späteren Schwiegersohn des Tyrannen. Dieser ist etwa 20 Jahre alt.
Dion war, als ich mit ihm zusammen kam, noch jung, und ich trug ihm die zum Heile der Menschheit führenden moralisch-politischen Grundlehren theoretisch vor, außerdem gab ich ihm auch Anleitung zur praktischen Durchführung derselben, dadurch war ich wohl auf gewisse Art ohne Wissen und Willen das unschuldige Werkzeug zur späteren Auflösung der despotischen Zwangsherrschaft. Denn Dion, welcher bekanntlich eine sehr große Lernfähigkeit hatte, war überhaupt, insbesondere aber bei dem Vortrag meiner Ideen über die moralisch-politische Verbesserung der Menschheit, ein so aufmerksamer und fleißiger Zuhörer wie keiner der jungen Leute, welche ich unterrichtete, auch die Praxis seines übrigen Lebens beschloß er ganz anders einzurichten als das der meisten Italer und Sizilier, indem er das Leben eines tugendhaften Mannes weit lieber gewann als das des sinnlichen Vergnügens und der übrigen vornehmen Üppigkeit. (Platon, Siebter Brief 327a-b)
Die erste Sizilienreise endet in der antiken Überlieferung mit einer typischen Tyrannenanekdote. Dionysios I. erteilt dem Spartaner Pollis den Auftrag, Platon zu beseitigen. In einer Variante der Erzählung wird Platon direkt ausgeliefert, in einer anderen Variante wird das Schiff auf dem Weg von Syrakus nach Athen von den Spartanern gekapert. Platon wird auf dem Sklavenmarkt von Ägina an Annikeris aus Kyrene verkauft, der ihm die Freiheit schenkt. Als Dion dies hört, erstattet er Annikeris das Lösegeld, der es aber nicht annehmen will und an Dion zurückschickt. Die Summe von 20 bis 30 Minen fließt dann in den Kauf des Akademiegartens (vgl. Konrad Gaiser: Der Ruhm des Annikeris (1983), in: ders.: Gesammelte Schriften, 2004, S. 597–616).
Forschung und Lehre an der Akademie
Nach seiner Rückkehr gründet Platon in Athen um 387 v. Chr. im heiligen Hain des Heros Akademos die nach diesem benannte Akademie. Sie liegt außerhalb der Stadtmauern in der Nähe des Flusses Kephisos. Die Akademie ist ein parkartiges Gelände mit einem Hauptgebäude, dem Museion, und dem Gymnasion, einer Trainings- und Sportstätte. Östlich des Geländes erwirbt Platon mit der finanziellen Unterstützung Dions ein privates Gartengrundstück mit einem Haus am Kolonos Hippios (Reiter-Hügel). Dieser Hügel grenzt an die Akademie. Platons eigenes Haus ist klein und besteht nur aus einem einzigen Raum, der auch dem Unterricht dient.
Ansprechend hat man vorgeschlagen, dass der Raum innen an der Wand zwei Gemälde hatte: ein Bild mit der Szene aus dem Protagoras (335c-d), als Sokrates gehen und Kallias ihn zurückhalten will; auf der anderen Seite wird Sokrates am Todestag dargestellt, umgeben von seinen Freunden (Phaidon). Wir erfahren schließlich von einer weißen Tafel, einem Himmelsglobus und Karten. Wir hören zudem, dass Platon eine Nachtuhr konstruiert haben soll (Michael Erler, a.a.O., S. 53).
Auf dem Grundstück der Akademie sind Gebäude aus der klassisch griechischen, hellenistischen und römischen Epoche ausgegraben worden, zwei davon werden zur Schule Platons gerechnet. Philosophie sieht Platon als Musenkunst. Auf dem Akademiegrundstück ist ein Altar den Musen geweiht, ein anderer dem Gott Apollon. Angeblich befand sich am Eingang der Akademie ein Altar des Eros, wobei dieser eher für das Verlangen nach allem Schönen und Guten als für die körperliche Liebe steht (vgl. auch Erler, a.a.O., S. 52, 372).
Im Süden des Ausgrabungsgeländes fand man ein rechteckiges Peristyl, einen von Säulen umgebenen Innenhof mit angrenzenden Räumen. Dabei handelt es sich vermutlich um das Museion. Zu diesem Hauptgebäude als Institut für Forschung und Lehre gehörten im Innenhof Statuen der neun Musen auf Sockeln in einem Wasserbecken, dahinter eine große Bibliothek zum Studium, eine Exedra für die Vorlesungen sowie ein Saal für gemeinsame Mahlzeiten mit ausreichend Platz für sieben Klinen (Speisebetten). Exedra und Speisesaal liegen symmetrisch an den Seiten der Bibliothek und öffnen sich wie diese zur nördlichen Halle des Peristyls. Möglicherweise handelt es sich bei diesen beiden Seitenräumen aber auch um zwei zusätzliche Depots für die weniger wertvollen Schriftrollen. Bei den langen nördlichen Eckräumen mit 5,20 m x 15 m könnte es sich um die Hörsäle handeln. Diese beiden länglichen exedrai sind gedeckte Räume, die an einer Seite offenstehen. Hier fanden auf Bänken mehr als 100 Personen Platz. Die Säulenhallen an den Seiten sind 44,40 m lang und 5,20 m tief, der Hof selbst ist 23,40 m breit. Die Säulen waren vermutlich aus Holz, Steinsockel für die Säulen sind nicht erhalten. Da in den östlichen, westlichen und südlichen Säulenhallen quadratische Fundamente für gemauerte Tischsockel gefunden wurden, kann von Lesesälen mit insgesamt über 40 Tischen ausgegangen werden. Zwischen den Säulen könnten Brüstungen aus Holz und Vorhänge die Leser vor Sonne und Wind geschützt haben. Dieses Hauptgebäude der Schule Platons stammt aus dem 4. Jh. v. Chr. und wurde in der Kaiserzeit erneuert. 240 m nördlich davon wurde ein quadratisches Peristyl mit 40 m Seitenlänge und einem daneben befindlichen isolierten Saal ausgegraben, der 12,70 m x 8,70 m groß ist. Bei diesem Gebäudekomplex handelt es sich wohl um das Akademie-Gymnasion. Archaische Dachziegel, die hier gefunden wurden, weisen auf das hohe Alter der Anlage hin. Sie stammt vermutlich aus dem 6. Jh. v. Chr. und wurde im 4. Jh. v. Chr. erneuert (Wolfram Hoepfner: Philosophenwege. Xenia, Heft 52, 2018, S. 38 ff.; ders.: Platons Akademie. Eine neue Interpretation der Ruinen, in: ders. (Hrsg.), Antike Bibliotheken, 2002, S. 58 ff.).
Blick von der nordöstlichen Ecke über die Fundamente des Hauptgebäudes; das Wasserbecken für die neun Musen im Hof hat eine zeitgenössische Schutzüberdachung erhalten; die große Bibliothek oben rechts im Bild wird von den Zweigen eines Baums verdeckt.
Platon übt seine Lehrtätigkeit sowohl in seinem Garten als auch in der Akademie aus. Für die Teilnahme an den Lehrveranstaltungen verlangt er keine Bezahlung. Die Akademie wird privat finanziert, auch aus dem Vermögen Platons. Um sich erfolgreich zu bilden, sind bestimmte Eigenschaften erforderlich: ein gutes Gedächtnis, erkenntnisdurstige Lernbegierde, eine hochsinnige und edle Denkart, Anmut mit Sinn für Schönheit sowie eine geistige Verwandtschaft und Neigung zu Wahrheit, Gerechtigkeit, mannhafter Tapferkeit und Sophrosyne (selbstbeherrschte und maßvolle Besonnenheit in einer harmonischen Ordnung der Seele unter der Herrschaft der Vernunft, vgl. Platon, Politeia VI, 487a). Für Belehrungen muss eine entsprechende Disponiertheit des Schülers vorliegen, unbeherrschte Triebe sind dialektisch nicht kontrollierbar (Platon, Gorgias 493a-c; 505c, Michael Erler, a.a.O., S. 134). Der lange dauernde Bildungsprozess in der Seele des einzelnen kann nicht übersprungen und durch nichts ersetzt werden. Die meisten verstehen das, was sie von Platon in der Jugend hörten, erst im Alter, und auch dann noch kaum (Plutarch, Moralia 79 A).
Die Mitarbeiter und Schüler Platons genießen in der Akademie eine große Freiheit und dürfen auch eigene Schüler und Mitarbeiter haben (Döring, a.a.O., S. 6). Der akademische Wissenschaftsbetrieb ist geprägt von der Überordnung der Seinslehre über die Einzeldisziplinen. Es werden bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse gefördert wie zum Beispiel die Kugelform der Erde (Erler, a.a.O., S. 53-54). Das Studienprogramm der Akademie kann mittelbar über die Schriften Platons erschlossen werden.
Was von [dem] Lehr- und Wissenschaftskonzept des platonischen Staates und des Siebten Briefes ist auf die Akademie übertragbar? […] Da ist einmal der Gedanke der Auswahl, des kleinen elitären Kreises der verwandten Seelen, um einen Ausdruck des Phaidros zu gebrauchen, wobei „verwandt“ auf den Erkenntnisgegenstand bezogen ist, auf die Idee, das Gute, und die freundschaftstiftende Gleichheit der Gefährten [, die] sich erst über die gemeinsam anerkannte Norm herstellt. Zum zweiten wird man die Unterrichtsfächer der Lehr- und Lernstufe auch für das Unterrichtsprogramm der Akademie voraussetzen dürfen, also Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Harmonielehre, deren Sequenz sich nach dem Prinzip der wachsenden Dimensionen organisiert. Der Mathematik, als dem einigenden Band dieser Einzelfächer und als Vorbereitungsdisziplin für die eigentliche Philosophie, die Platon Dialektik nennt, muß in der Akademie eine besondere Bedeutung zugekommen sein. [Die Mathematik ist] bei Platon das eigentliche Medium der Wissenschaftlichkeit [und besitzt] für Ontologie, Physik, Politik und Ethik die Funktion eines durchgängigen Strukturmodells […]. Zum dritten zeigt die Zuordnung bestimmter Lern- und Erkenntnisstufen zu unterschiedlichen Abschnitten des Lebensalters, daß auch bei einer Beschränkung auf die Lernphase ab dem 20. Lebensjahr das Akademieprogramm kein Schnellkurs gewesen sein kann, sondern die Zugehörigkeit zur Schule Platons vielfach eine Lebensentscheidung bedeutet haben muß. […] Schließlich ein Viertes: Im Unterrichtsprogramm der Politeia, das für den kleinen Kreis derjenigen, aus dem einmal die künftigen Regenten des Staates hervorgehen sollen, gilt, ist wenig von dem, was wir unter Politikwissenschaft verstehen, die Rede, um so mehr von Zahlen, Proportionen und der Idee des Guten. Für Platon hängt im Bereich der Wissenschaft alles mit allem zusammen. Die Allverwandtschaft der Welt, von der im Menon die Rede ist und die ein methodisches Fortschreiten der Erkenntnis erlaubt, wenn man nur einen Zipfel des Ganzen in der Hand hält, gilt auch für Platons Wissenschaftskonzept. Das Erkenntnisziel des platonischen Philosophen ist eine Allkompetenz für alle Einzeldisziplinen unter dem Aspekt des Guten (Carl Werner Müller: Platons Akademiegründung; in: Hyperboreus 1 (1994), S. 56-73, hier S. 64-65).
Bedeutende Philosophen wirken an Platons Akademie wie zum Beispiel Platons Neffe Speusippos, der auch sein Nachfolger wird, und Xenokrates, der nach Speusippos die Schulleitung übernimmt. 367 v. Chr. kommt Aristoteles im Alter von 17 Jahren nach Athen. Er wird 20 Jahre bis zum Tod Platons Mitglied der Akademie bleiben. Die Philosophie seines Lehrers führt er teils fort, teils kritisiert und verändert er sie. Die Akademie ist ein Ort intellektueller Offenheit und Toleranz. Platons Kollegen und Schüler folgen ihm bei der Ideenlehre und der Prinzipienlehre nicht. In einer eher lockeren Gemeinschaft huldigt man dem Ideal der Wahrheitssuche im Dialog. Das wahre Wesen des Menschen erfüllt sich in der zweckfreien Erkenntnis. In der philosophischen Gesprächsgemeinschaft bevorzugt Platon Xenokrates und Speusippos. Dass sich Aristoteles mit vielen Ringen schmückt und aufwendig kleidet, missfällt ihm. Platon selbst lebt nämlich schlicht und ernährt sich vegetarisch. Er bemüht sich nicht darum, durch Charme und Nettigkeit zu gefallen, sondern gilt als mürrisch, finsterblickend und erhaben (Szlezák, a.a.O., S. 72, 90-91).
In der Akademie wird auf so unterschiedlichen Gebieten geforscht wie der Mathematik, der Botanik, der Rhetorik und der Poetik. Es gibt gemeinsame Mahlzeiten und Schulfeste. Die Lehr- und Forschungstätigkeit wird gelegentlich durch Symposien aufgelockert, kultische Trinkgelage zu Ehren der Götter. Die Speisen und Getränke sind einfach, manchmal werden Gäste dazu eingeladen (Döring, a.a.O., S. 7). Bei den Symposien der Aristokraten wird von jeher auch gesungen. Es gibt eine reiche Literatur von Trinkliedern für diesen Anlass. Dabei ist es normal, sich mit der Kithara selbst zu begleiten. Vielleicht wird diese Tradition auch an der Akademie gepflegt. Zudem werden Bücher hergestellt. Nicht nur die Dialoge Platons werden verbreitet, sondern auch andere Abhandlungen der wissenschaftlich tätigen Mitglieder (Szlezák, a.a.O., S. 39, 63).
Platons Akademie, von links nach rechts: Herakleides Pontikos, Speusipp mit Schriftrolle, Platon mit Zeigestock, ein Hinzukommender verhüllt die Arme, Eudoxos von Knidos stützt das Kinn auf die Hand, Xenokrates mit Schriftrolle, Aristoteles mit Schriftrolle. Die Sitzbank mit den Löwenfüßen ist die Exedra vor einem Ölbaum. Die Vierzahl der geweihten Kessel auf dem Querbalken des Epistyls erinnert vielleicht an die mathematischen Musenkünste Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie. Im Vordergrund links ein als Bibliotheke dienendes Kästchen und rechts ein Himmelsglobus (Konrad Gaiser: Das Philosophenmosaik in Neapel, 1980, S. 60-67).
Ganz in der Tradition seines Lehrers Sokrates beruht das philosophische Denken Platons auf der Freude daran, durch das Offenhalten von Fragen auf eine Entdeckungsreise zu gehen, die sich dialogisch ereignet. Wie Platons Schüler Aristoteles bestätigt, schließt dies jedoch ein systematisierendes Prinzipiendenken keineswegs aus. In allen Bereichen des Seins sind für Platon analoge Strukturen maßgebend. Überall lässt sich das Gegensatzverhältnis von Einheit und Vielheit, Identität und Diversität, dem Einen und der unbestimmten Zweiheit nachweisen. Trotzdem ist das platonische System offen, es soll nicht der Gefahr einer dogmatischen Verabsolutierung ausgesetzt sein. Es bleibt für Platon ein „abbildhafter Ausdruck der Wahrheit, logische Vergegenwärtigung des an sich nicht Sagbaren, ein Entwurf, der in seiner Weise notwendig, streng folgerichtig und verbindlich war (nicht nur ein beliebiger Versuch neben anderen), aber schon allein wegen der unausdenkbaren Gegensätzlichkeit der Prinzipien nicht als geschlossen, sondern als über sich hinausweisend verstanden werden muss“ (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 336).
In seiner Forschung und Lehre an der Akademie bemüht sich Platon, Seiendheit, Gutsein und Wahrheit im Eins‐sein und zuletzt in dem Einen als dem Urgrund zu gründen. Er lehrt, die Arete (Gutsein, Bestform, Tauglichkeit) als das wahrhaft Seiende zu denken und als Seiendes in ihrem wesenhaften Bestand auf das Eine als den Seinsgrund, das Maß, die Norm aller Dinge, zurückzuführen (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 564). Das höchste Maß und seine Harmonie walten auch im Universum. Die göttlich-kosmische Ordnung ist eine Welt der Proportionen. Das Maß gründet die harmonische Ordnung, das Proportionsgefüge, die richtige Zuordnung der Teile, den Zusammenhalt. Es ist das Wesen der Einheit, als Maß zu erscheinen. Erkennbar und seiend ist nur, was Einheit ist. Harmonie entsteht durch die Ordnung und die Ausgewogenheit der Proportionen (Maßverhältnisse). Die Gesundheit des Körpers ist ein Beispiel für das geheimnisvoll Zusammenstimmende von allem in der Maßbestimmtheit des harmonischen Zustands (Platon, Philebos 25e). Sie ist ein Beispiel für die innere Gemessenheit, das in den Dingen liegende richtige Maß. Das Eigentliche, worauf es ankommt, ist das Angemessene, das Rechte, das Geziemende, die richtige Anpassung an das Gebot der Stunde, das im rechten Augenblick Richtige, die zum guten Zustand führende Harmonisierung der Teile. Alles Gute ist schön, das Schöne ist nicht disproportioniert, Schönheit gibt es nicht ohne das rechte Maß (Platon, Timaios 86c).
Als Orientierungsverhältnis erfüllt das Maß eine sinngebende Funktion. Maß, Ordnung und Proportion bestimmen über den Grad der Vollkommenheit. Der Einklang der harmonischen Proportion ist zugleich die Schönheit. Das Gute wird deshalb auch als schön gerühmt. Die Frage nach dem Gutsein des Menschen und der Dinge zieht sich durch das gesamte Werk Platons. Das Gutsein ist das Maßvolle und Mittlere, das richtige Verhältnis zwischen Überschuss und Mangel, das Zusammenspiel von Ganzem und Teil. Das Maß begründet überall die Proportion, die Ordnung und das Eidos (Form, Idee) als Maß- und Wasbestimmtheit. Es ist zugleich Ursache und Inbegriff des Gutseins. Das Gute ist nichts anderes als das einzige, höchste, exakteste und göttliche Maß, der göttliche Grund der Ordnung und des Seins, das Prinzip der Einheit (Konrad Gaiser: Platon und die Geschichte, 1961, S. 25). Die richtige Mitte nimmt den Charakter eines Weltprinzips an: „Das Maß aller Dinge ist die Gottheit“ (Platon, Nomoi 716c). Gott hält als Gegenwärtiger auch seine Mitte. Wer das Maß der göttlichen Vernunft hat, der ist Gott ähnlich. „Wenn der Mensch den Zwiespalt seiner Seele zur Ordnung und zur Eintracht bringt, so tritt er in das ihm vorgezeichnete Maß; er wird, wie die Griechen sagen, maßhaft – [metrios]; die Einheit des Gottes kommt in ihm zur Erscheinung. Die europäische Philosophie nennt die im Menschen erscheinende Einheit des Gottes ‚Vernunft‘. Dann ist der Mensch wie der Kosmos ein Götterbild“ (Georg Picht: Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, 1990, S. 320). Es ist die Pflicht des Menschen, das göttliche Ebenmaß auch im eigenen Leben darzustellen. Wer selig werden will, der folge demütig dem Gott nach in einem geordneten Lebenswandel und in dem Bemühen, Gerechtigkeit als Maßbestimmtheit im Leben zu verwirklichen (Platon, Nomoi 716a-d). Gott folgen und der Vernunft gehorchen sind ein und dasselbe. Das Ziel ist die Vollendung des Menschen, seine Angleichung an Gott.
Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das wahrhaft Seiende richtet, [...] hat ja wohl nicht Zeit, hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen und im Streit gegen sie sich mit Eifersucht und Widerwillen anzufüllen; sondern auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes schauend, was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung und Regel sich verhält, werden solche auch dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme? [...] Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Menschen möglich ist. (Platon, Politeia 500c-d). [...] So müssen wir demnach denken von dem gerechten Manne, mag er nun in Armut leben oder in Krankheit oder was sonst für ein Übel gehalten wird, daß ihm ja auch dieses zu etwas Gutem ausschlagen werde im Leben oder auch nach dem Tode. Denn nicht wird wohl der je von den Göttern vernachlässigt, der sich bemühen will, gerecht zu werden und, indem er die Arete übt, soweit es dem Menschen möglich ist, Gott ähnlich zu sein. (Platon, Politeia 613a). [...] Das Böse [...] kann weder ausgerottet werden, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch kann es bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber, und in dieser [unserer irdischen] Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß. Deshalb muß man auch danach trachten, schleunigst von hier dorthin [in die göttliche Sphäre] zu entfliehen. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung [erfolgt dadurch], daß man gerecht und fromm wird auf der Basis von vernünftiger Einsicht. (Platon, Theaitetos 176a-b).
Platon im Museo Pio Clementino, Inv.nr. 305, Mitte 1. Jh. n. Chr. Die Büste basiert wahrscheinlich auf einer Statue des Bildhauers Silanion, Mitte 4. Jh. v. Chr. Das Museo Pio Clementino ist eines der Vatikanischen Museen und Ausstellungsort der bedeutendsten römischen und griechischen Kunstwerke des Vatikans.
Die Gründung des Idealstaats scheitert
366 v. Chr. unternimmt Platon eine zweite Reise nach Syrakus auf Einladung des jungen Tyrannen Dionysios II., der seinem Vater Dionysios I. nachgefolgt ist. Dion hat den Sohn seines Schwagers dazu veranlasst, Platon als philosophischen Ratgeber einzuladen. Während Platons zweiter Sizilienreise leitet der Mathematiker und Astronom Eudoxos stellvertretend die Akademie, der dort offenbar eine herausgehobene Rolle spielt. „Was [Platon] in Syrakus erwartete, war ein mächtiger Herrscher, ungeformt, aber der Bildung fähig und bereit, sich bilden zu lassen, an der Spitze eines Staates, der ebenfalls noch der Formung harrte, und beraten von einem Manne, der nicht nur selbst vom Werte der Lehre Platons durchdrungen war, sondern dessen hohe Eigenschaften wenigstens zu Anfang von dem jungen Herrscher geschätzt und bewundert wurden (Plut. Dion 7, 1). Dieses Zusammentreffen günstiger Bedingungen, ein Kairos im wahren Sinne, berechtigt uns zu der Behauptung, daß Platon, hätte er zu wählen gehabt, in der ganzen griechischen Welt zu dem damaligen Zeitpunkt schwerlich einen Ort gefunden hätte, der für die Realisierung seiner Gedanken geeigneter gewesen wäre als Syrakus“ (Lothar Wickert, a.a.O., S. 45-46). Platon versucht erfolglos, den Machthaber dafür zu gewinnen, einen idealen Staat auf der Grundlage einer konstitutionellen Monarchie zu verwirklichen. Dionysios II. löst sein zunächst erteiltes Versprechen letztlich doch nicht ein, Land und Leute für das Experiment eines solchen philosophischen Idealstaats zur Verfügung zu stellen (Erler, a.a.O., S. 55). Der junge Tyrann ist nur oberflächlich an Philosophie interessiert. Die Ausschweifungen am Hofe in Syrakus und der vielfach belegte Alkoholismus bringen Dionysios II. in einen problematischen Zustand, in dem ein ernsthaftes Studium der Philosophie wenig aussichtsreich erscheint. Er ist nicht dazu bereit, eine Lebensform zu wählen, die ihm intensive geistige Arbeit ermöglicht. Gleichwohl bescheinigt ihm Platon eine gewisse Begabung und Ehrgeiz. Tiefergehende philosophische Lehrgespräche finden nicht statt.
Dann kommt es zu einem für Platon peinlichen Vorfall. Dion nimmt hinter dem Rücken des Herrschers direkt Kontakt zu den feindlichen Karthagern auf. In einem Brief bittet er sie, nicht mit Dionysios II. zu verhandeln, ohne ihn vorher unterrichtet zu haben. Durch ihn würden sie alles zuverlässig erreichen (Helmut Berve: Dion, 1956, S. 36). Der junge Tyrann bewertet dies als verräterische Bevormundung. Dion wird deshalb dazu gezwungen, Sizilien auf einem kleinen Schnellsegler in Richtung Italien zu verlassen. Dionysios II. lässt ihm jedoch den wirtschaftlichen Nutzen seines beträchtlichen Vermögens. Dion wirbt für seine politischen Ziele in Korinth, der Mutterstadt von Syrakus. Sparta verleiht ihm sogar das Bürgerrecht. (Szlezák, a.a.O., S. 76-81)
Als ich aber ankam, so fand ich, um mich kurz zu fassen, die Umgebung des Dionysios voller Zwietracht, und den Dion vom Verdacht belastet, er strebe nach dem Throne. Ich meinerseits suchte ihn nun nach Kräften zu verteidigen, ich richtete aber wenig aus, und kaum etwa nach dem ersten Vierteljahr meines Dortseins ließ Dionysios den Dion unter dem angeblichen Grunde, daß dieser ihm nach dem Throne strebe, in ein kleines Boot schaffen und schickte ihn in die Verbannung. Ich mit allen Freunden Dions hatte hierauf große Besorgnis, Dionysios möchte aus irgend einem Vorwande auch gegen einen von uns, als angeblichen Mitschuldigen an Dions Anschlag, seine Maßregeln ergreifen, und über mich ging auch in Syrakus ein Gerede, als sei ich, der Urheber aller jener damaligen politischen Vorgänge, von Dionysios hingerichtet worden. Als derselbe aber von dieser unserer Stimmung Kenntnis bekam, so empfing er uns alle, aus Besorgnis, daß unsere Furcht zu etwas Ärgerem führen möchte, sehr gnädig und sprach sonach insbesondere mir Beruhigung und Mut ein, ermunterte und bat sogar, daß ich auf alle Weise bleiben möchte. Denn wenn ich floh, so konnte ihm daraus nichts Gutes erwachsen, wohl aber aus meinem Verbleiben. Daher er denn auch so sehr gnädig geruhte mich zu bitten. Aber von den Bitten der Tyrannen wissen wir, daß sie mit Befehlen gesalzen sind. Zu diesem Ende gebrauchte er nun eine List und machte mir die Abfahrt unmöglich dadurch, daß er mich auf die Burg versetzte und da ein Quartier anwies, von wo gar kein Schiffer gegen den Befehl Dionysios, ja nicht einmal ohne Zusendung eines allerhöchsten Befehls, von ihm mich fortgeführt haben würde. Hätte ich aber allein fortreisen wollen, so würde der Herr jedes Handelsschiffes oder der nächste Hafenbeamte mich erwischt, festgenommen und schnell wieder zu Dionysios zurückgeführt haben, zumal da bereits von dem früher einmal ausgesprengten Gerüchtvon meiner angeblichen Hinrichtung gerade wieder das Gegenteil verbreitet war und überall erzählt wurde, wie huldvoll Dionysios den Platon jetzt behandle. Was war aber an diesem letzteren Gerüchte? Das will ich euch sagen, denn die Wahrheit darf man nicht verschweigen. Dionysios wurde immer zutraulicher, je länger er in unserem Umgang mein Benehmen und meine Lehre kennen lernte, aber er hatte dabei die Laune, daß ich ihn mehr loben sollte als den Dion, und daß ich ihn als Freund entschieden höher achten sollte als diesen, und in Beziehung auf so eine Äußerung von mir war er außerordentlich empfindlich. In dem Benehmen dagegen, durch welches seine Absicht, sofern sie erreichbar gewesen wäre, am besten hätte erreicht werden können, war er lässig. Dies Benehmen hätte aber selbstbegreiflich darin bestanden, daß er durch Studieren und Hören meiner philosophischen Lehre sich mir innig und häufig genähert hätte. Das tat er aber nicht aus Furcht, er möchte etwa, wie Verleumder ihm zugeflüstert hatten, auf irgendeine Weise sich hinters Licht führen lassen, und dann sei natürlich die Absicht Dions erreicht. Ich dagegen ertrug alle diese Unannehmlichkeiten ruhig und hielt fest an dem Hauptgedanken, mit welchem ich anfangs hingekommen war, beharrlich alles versuchend, ob nicht auf irgendeine Weise ein Verlangen nach dem philosophischen Leben bei ihm entzündet werden könnte. Er aber besiegte durch Widerstreben meine Beharrlichkeit. (Platon, Siebter Brief 329b-330c)
Platon kehrt im Frühjahr 365 nach Athen zurück. Dion hält sich während der vielen Jahre seiner Verbannung dort häufig auf, um mit Platon gemeinsam in der Akademie zu philosophieren. In Athen wohnt Dion im Hause des Kallippos, der ebenfalls der Akademie als Schüler angehört und mit dem ihn die gemeinsame Teilnahme an den geheimen Mysterien von Eleusis zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter verbindet.
Die dritte Reise nach Syrakus
361 v. Chr. reist Platon zum dritten Mal nach Sizilien, Speusippos und Xenokrates begleiten ihn. In ganz Griechenland wird es als Sensation empfunden, dass Dionysios II. ein großes und schnelles Kriegsschiff (Triere) aussendet, um Platon zu sich zu holen, der als Kritiker der tyrannischen Herrschaftsform bekannt ist (Szlezák, a.a.O., S. 78). Die Akademie wird in dieser Zeit von Herakleides Pontikos stellvertretend geleitet.
Platon hofft, ein gutes Wort für den verbannten Dion einlegen zu können. Doch zeigt sich Dionysios II. weiter unbelehrbar. Platon gibt dem jungen Tyrannen einen gedrängten und möglichst eindringlichen Überblick über den philosophischen Bildungsgang und das methodische Problem allmählicher geistiger Aneignung, die ein organisches inneres Wachstum der Seele erfordert. Dabei gehört es zu seiner Methode, auch auf die besonderen Schwierigkeiten hinzuweisen, was auf Ungeeignete abschreckend wirken mag. So sollen die philosophisch Begabten von den Unbegabten und den Überheblichen gesondert werden, die alles schon zu wissen glauben. Dionysios gibt vor, viel und sogar das Höchste schon zu wissen. Vermutlich hat er bereits einiges mittelbar über Berater seines Hofes von Dion gehört, der als Angehöriger der Akademie über die Lehre Platons einigermaßen Bescheid weiß und für sie wirbt. Die Überheblichkeit des Dionysios führt allerdings dazu, dass er an weiteren Lehrgesprächen wenig Interesse zeigt (Krämer, a.a.O., S. 402). Platon vermittelt ihm durch mündliche Unterweisung zumindest einige Grundgedanken über die „größten Dinge“, wie er selbst berichtet: „Ich hielt ihm nämlich einen Vortrag, wie ich schon erwähnte, jedoch nur einen einzigen, nachher aber niemals mehr“ (Platon, Siebter Brief 345a). Platon fühlt sich später tief verletzt, als der junge Tyrann Inhalte persönlicher Lehrgespräche ohne Autorisierung in einer eigenen Schrift veröffentlicht; dies sei ein schändlicher Ehrgeiz. Platons Bemühungen, den idealen Staat zu verwirklichen, sind vergeblich.
Auf dem Rückweg nach Athen trifft er 360 v. Chr. seinen Freund Dion in Olympia und wird über dessen Vorbereitungen zu einem Kriegszug unterrichtet. Dieser greift mit seinen Anhängern zur Gewalt und stürzt den Tyrannen. Platon unterstützt den Putsch gegen Dionysios II. nicht, aber er hält still und duldet es, dass Mitglieder der Akademie sich der Truppe anschließen. Dion erringt 357 v. Chr. die Macht in Syrakus, verliert sie aber wieder vor der Einnahme der Tyrannenfestung durch Aktionen seiner früheren Mitstreiter Theodotes und Herakleides (militärischer Befehlshaber und demokratischer Politiker von Syrakus, nicht zu verwechseln mit dem Philosophen Herakleides Pontikos). 356/355 v. Chr. nimmt Dion Syrakus samt Ortygia ein und vergibt Herakleides und Theodotes. Bei der Neuordnung der Verhältnisse in Syrakus erweist sich Dion als wenig erfolgreich. Ihm fehlt die Gabe, sich beim befreiten Volk beliebt zu machen. Seine herbe Art wird als Hochmut aufgefasst. Bald wirft man ihm vor, selbst nach der Tyrannis zu streben, obwohl ihm tatsächlich eine dorische Mischverfassung vorschwebt. Dion habe die Tyrannenburg nicht zerstört. Er habe dem Volk verwehrt, das Grab des Tyrannen Dionysios I. zu zerstören und dessen Leichnam herauszureißen. Den Intrigen des Demagogen Herakleides ist Dion nicht gewachsen (Berve, a.a.O., S. 106; Szlezák, a.a.O., S. 83). Es wird weiter ein Komplott gegen ihn geschmiedet, sein Umfeld lässt deshalb Herakleides töten. 354 v. Chr. wird Dion als Regent auf Veranlassung seines eigenen Parteigängers Kallippos ermordet, der damit den Tod seines Freundes Herakleides rächt und selbst die Herrschaft an sich reißt. Im Herbst 353 v. Chr. vertreiben Dions Anhänger Kallippos. Zwei Jahre regiert Hipparinos II. in Syrakus, ihm folgt sein Bruder Nysaios. In der Folge erlangt Dionysios II. von 346 bis 344 v. Chr. wieder selbst die Herrschaft. Ein Epigramm Platons zeugt für das innige Verhältnis zu dem verstorbenen Freund (vgl. Szlezák, a.a.O., S. 86 ff.).
Tränen spannen die Moiren als Gabe der Hekabe und den Troerinnen zu schon vor der Geburt. Du, Dion, standest im Siegerkranze als ein Gott dir plötzlich entriss die Früchte glanzvoller Hoffnung. Nun ruhst du in heimischer Erde von deinem Volk verehrt, und rasend gemacht aus Liebe hast du mein Herz.
Die letzten Jahre
Der Versuch, Politik und Philosophie in einem idealen Staat zu vereinigen, ist endgültig gescheitert. Platon hat nie geheiratet und auch keine Kinder gezeugt (Döring, a.a.O., S. 4). Seine letzten 13 Lebensjahre verbringt er als Philosoph in der von ihm geführten Akademie. Er vollendet bedeutende Werke wie die Dialoge Philebos und Timaios. Sein staatstheoretisches Werk Nomoi kann er nicht mehr fertigstellen, er stirbt 347 v. Chr. Platon soll der Legende nach am Geburtstag seines Gottes Apollon nicht nur geboren, sondern auch gestorben sein (Michael Erler, a.a.O., S. 57). Die Beerdigung findet unter großer Anteilnahme der Athener statt, das Grab liegt in der Nähe der Akademie. Platons Brüder sind bereits tot. Erbe wird sein Großneffe Adeimantos, der Enkel des gleichnamigen Bruders Platons. Sein Neffe Speusippos, der Sohn seiner Schwester Potone, übernimmt als Nachfolger die Leitung der Akademie. Bei dessen Wahl ist Aristoteles nicht anwesend.
Laut seinem Testament hinterlässt Platon zwei Grundstücke und zwei Minen Silber. Denselben Betrag schuldet ihm noch der Steinmetz Eukleides. Neben diversen Gebrauchsgegenständen werden auch zwei silberne Trinkgefäße, ein goldener Ring und zwei Ohrringe aufgeführt. Am Schluss werden vier Haussklaven genannt, was damals nicht viel ist für einen griechischen Haushalt, und eine Sklavin, die Platon in die Freiheit entlässt (Szlezák, a.a.O., S. 92). Der Perser Mithridates stiftet der Akademie eine Platon-Statue des Bildhauers Silanion mit Inschrift (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 25). 339 v. Chr. verliert Herakleides Pontikos ganz knapp die Wahl zum Scholarchen gegen Xenokrates. Der Unterrichtsbetrieb dieser ersten Athener Philosophenschule dauert bis ca. 86 v. Chr., bei der Belagerung Athens durch den römischen Feldherrn Sulla wird der Hain der Akademie möglicherweise zerstört. Jedenfalls ist die Akademie verwaist und es wird dort keine Philosophie mehr gelehrt, als Cicero 79 v. Chr. den Ort besucht (Cicero: De finibus bonorum et malorum 5, 1-4; Erler, a.a.O., S. 524). Möglicherweise ist die Zerstörung der Akademie auch die Ursache dafür, dass die vollständigen akademischen Schulschriften nicht erhalten sind (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 451). Eine spätantike Neugründung wird von dem oströmischen Kaiser Justinian I. im Jahre 529 n. Chr. geschlossen.