In der gesamten Antike galt Platon als Meister des Dialogs; seine Dialoge wurden mehr geschätzt als die wohl ähnlich gestalteten, ebenfalls für eine breitere Leserschaft bestimmten Dialoge des Aristoteles, die nicht erhalten geblieben sind. Inhaltlich beginnt schon bei den unmittelbaren Schülern Platons eine Vermischung von Platonismus und Pythagoreismus. Deshalb wird bei späteren Autoren platonisches Lehrgut häufig als pythagoreisch ausgegeben. Zur Eigentümlichkeit der platonischen Lehre gehören aber insbesondere die ontologische Verselbständigung der Prinzipien und die Mittelstellung der Mathematika. „Kriterien zur Unterscheidung zwischen genuin platonischen und älteren pythagoreischen Elementen, zugleich aber auch zur Abgrenzung des ursprünglich Platonischen von der Lehre der Schüler, ergeben sich daraus, dass Platon eine ontologische Differenz zwischen den gegensätzlichen Prinzipien ansetzte und dass er in strenger Weise den Gesamtbereich der mathematischen Logoi als Strukturmodell der allgemeinen Ontologie auffasste, wogegen die pythagoreischen Lehren als spekulativ oder als additiv-kombinatorisch zu bezeichnen sind“ (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 475).
Nach dem Tod Platons 348/347 v. Chr. übernahm sein Neffe Speusipp, der Sohn seiner Schwester Potone, die Leitung der Akademie. Speusipp lehnte die Ideenlehre ab und bevorzugte mathematische Zahlen und geometrische Größen als transzendente Wesenheiten. Speusipp setzte das Gute nicht an der Spitze der Seinspyramide an, sondern bei den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen (Gaiser, a.a.O., S. 310). Ihm folgte Xenokrates 339/338 v. Chr. in die Leitung der Akademie. Er identifizierte die mathematischen Zahlen mit den Ideen. Xenokrates betrachtete monas und dyas als die obersten Götter im Kosmos. Sie verhalten sich wie das Männliche zum Weiblichen, wie der Nous zur Seele. Die dyas herrscht über den untergeordneten Seinsbereich (Gaiser, a.a.O., S. 310-311). In der Folge trat die kosmologische Betrachtung an der Akademie in den Vordergrund.
Die Akademie war der institutionelle Träger der Philosophie Platons. Ob die Systematisierung der Lehre Platons bereits von ihm selbst in der sogenannten ungeschriebenen Lehre vorangetrieben wurde oder erst durch Speusipp und Xenokrates erfolgte, ist in der Forschung weiterhin umstritten. Insbesondere die Tübinger Schule mit ihren Hauptvertretern Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser sowie der Heidelberger Jens Halfwassen gehen nach einer umfangreichen Schwerpunktforschung zu dieser Problematik davon aus, dass die Systembildung bereits von Platon selbst vorgegeben war. Nach der gegenteiligen Auffassung entwickelten erst Platons Nachfolger in der „Alten Akademie“, die bis 268/264 v. Chr. dauerte, eine systematische Lehre.
Skeptische Akademie
In der von Arkesilaos von Pitane (315 - 241/240 v. Chr.) begründeten „Mittleren Akademie“ (auch „Jüngere Akademie“ genannt) erfolgte eine Rückbesinnung auf den sokratischen Begriff des aporetisch-bewußten Nichtwissens als Fortschritt gegenüber dem vorherigen, nur vermeintlichen Wissen, bei dem es sich tatsächlich um ein unbewußtes Nichtwissen handelt. Die dogmatischen Positionen und damit insbesondere die Ideenlehre wurden aufgegeben. Die Mittlere Akademie verstand die Aporetik der platonischen Dialoge als Negation von Erkenntnis- und Entscheidungsmöglichkeiten (Skeptizismus). Platon habe keine dogmatischen, also eindeutig als wahr behaupteten Auffassungen gehabt. Ein konkretes Beispiel für die Textinterpretation der Skeptischen Akademie ist nicht erhalten.
Schule des Antiochos
Schon vor dem durch die Kriegswirren verursachten Untergang der Mittleren Akademie (86 v. Chr.) hatte Antiochos von Askalon aus Protest gegen deren Skeptizismus eine eigene Akademie gegründet, die er im Sinne einer Rückkehr zur ursprünglichen Schule Platons selbst „Alte Akademie“ nannte. Unter Antiochos von Askalon trat wieder der Dogmatismus in den Vordergrund. Er bemühte sich um eine Verbindung von platonischen, aristotelischen und stoischen Elementen (Synkretismus).Zu den Schülern dieser stark von stoischem Gedankengut beeinflussten Akademie gehörte Cicero während seines halbjährigen Aufenthalts in Athen 79/78 v. Chr.
Mittelplatonismus
In der römischen Kaiserzeit waren Alexandria und Rom neben Athen die wichtigsten Zentren des Platonismus; die Schulen außerhalb von Athen trugen aber nie die Bezeichnung „Akademie“. Das erste und das zweite Jahrhundert n. Chr. war die Zeit des Mittelplatonismus, dessen Vertreter sich insbesondere mit theologischen und kosmologischen Fragen auseinandersetzten. Die Mittelplatoniker griffen zum Teil auch stoische und aristotelische Gedanken auf; es gab aber auch eine von Numenios vertretene Richtung, die zur ursprünglichen Lehre Platons zurückkehren und den Platonismus von skeptizistischen, stoischen und aristotelischen „Irrlehren“ reinigen wollte.
Neuplatonismus
Im 3. Jh. n. Chr. begründete Plotin (205 - 270 n. Chr.) das System des Neuplatonismus, der sich insbesondere auf das Sonnengleichnis sowie den Dialog Parmenides stützt. Prominente Vertreter waren Plotins Schüler Porphyrios sowie Iamblichos von Chalkis. Eine letzte Blüte erlebte der Neuplatonismus im 5. und frühen 6. Jahrhundert; von den damaligen Neuplatonikern war Proklos eine starke Nachwirkung beschieden. Nach Proklos soll die Seele alles in sich vereinigen, besonders auch Gegensätze wie Einheit und Vielheit, Peras und Apeiron, noetische Einsicht und sinnliche Wahrnehmung (Gaiser, a.a.O., S. 348).
Das Eine (hen)
Plotin lehrte das Bestehen eines unbeschreiblichen Einen und als dessen Emanation (Ausströmung) das Universum (wörtlich: zum Einen Gewendetes) als Abfolge von Entitäten, die dem Einen mehr oder weniger nahe sind: Das oberste Urprinzip des Seins ist das alles umgreifende „das Eine“. Es ruht in sich selbst und übersteigt alle Vorstellungen. Es ist zugleich das Schöne und Gute. Es steht jenseits aller Gegensätze und aller Fassbarkeit. Es kann eigentlich nur negativ umschrieben werden dahingehend, was es nicht ist. Das Eine ist weder ein diffuses Einerlei noch die absolute Leere. Die Welt ist nicht durch den Willensakt eines Demiurgen in einem Schöpfungsakt erschaffen worden. Das Eine strömt vielmehr über, und seine Überfülle erschafft alles andere. Das Eine ist die Möglichkeit des Allen (dynamis panton). Das Eine ist weder Geist noch ein Gegenstand der Vernunft (weder nous noch noêton). Es ist ein Übervernünftiges (hyperbebêkos tên nou physin). Es verhält sich zum Geist wie das Licht zum Auge. Das Eine ist die Quelle und Kraft, aus der das Seiende erst stammt. Es ist die aktive Möglichkeit zu allen differenzierten Formen in der Sphäre des Geistes (nous).
Der Geist (nous)
Aus dem Einen als der Quelle des Seins geht der Geist (nous) hervor. Er setzt ein Erkennendes und ein Erkanntes, ein Bewusstsein und dessen Gegenstände voraus. Damit ist der Geist im Gegensatz zum Einen schon mit der Zweiheit behaftet. Er umfasst als Erkanntes den ganzen Kosmos der Ideen (noetos kosmos). Dieser ist das wahre Sein. Die Ideen sind zugleich Urbilder und dynamische Kräfte. Die fünf Kategorien, in denen der Geist denkt, sind:
Sein
Beharren
Bewegung
Identität (tautotês)
Verschiedenheit (heterotês)
Die Seele (psyche)
Weltseele
Die dritte Stufe bildet die (Welt-) Seele (psyche). Sie wird durch den Geist als sein Abbild durch Ausstrahlung erzeugt. Sie steht zwischen dem wahren Sein und der Materie. Sie empfängt vom Geist die Ideenwelt und formt nach diesen Urbildern aus der Materie die Sinnenwelt. Die immaterielle Weltseele strahlt die gestaltende Naturkraft (physis) aus, die aus feinstem Äther besteht und mit dem Weltkörper verbunden ist - so wie die menschliche Seele mit dem menschlichen Körper ebenfalls verbunden ist.
Menschliche Seele
Die menschliche Seele ist ihrem eigentlichen Wesen nach ein Teil der (Welt-) Seele (psyche) und gehört damit dem wahren Sein an. Die ganze (Welt-) Seele ist in jeder einzelnen menschlichen Seele gegenwärtig. Die menschliche (Teil-) Seele trägt deshalb das Ganze in sich:
Jede Seele muss bedenken, dass sie es war, die alle Wesen erschaffen und ihnen Leben eingehaucht hat. Sie selbst hat erschaffen den großen Himmel, die Sonne und die göttlichen Gestirne, die Ordnung ihrer Kreisbewegungen, die Luft, das Meer und alles, was die Erde ernährt. Die Seele ist von noch höherer Natur als alles, was sie ordnet, bewegt und beseelt. (Plotin, Enneaden, V, 1, 2)
Durch die Verbindung mit dem Körper ist die menschliche (Teil-) Seele aber in das Materielle und Schlechte verstrickt:
Was hat die menschliche Seele veranlasst, das Eine - an dem sie Anteil hat und dem sie ganz angehört - zu vergessen und mit ihm sich selbst nicht mehr zu kennen? Die Überhebung und der Drang zum Werden, der Zwiespalt und der Wille, sich selbst anzugehören, waren der Beginn des Unheils. (Plotin, Einleitung zur fünften Enneade: Enneaden, V, 1, 1)
Die Materie (hyle)
Die Materie ist der Inbegriff des Schlechten, Finsteren und Bösen. Sie ist die unvollkommenste Ausstrahlung des Einen. Die Materie ist nicht körperlich, sie ist vielmehr das Form- und Bestimmungslose. Die Erscheinungen sind trügerische Abbilder des wahrhaft Seienden. Die Schönheit in der Welt der Erscheinungen beruht auf der Formung des Stoffes durch die Idee, dem Durchschimmern des Idealen in der sinnlichen Erscheinung. In der Welt der Erscheinungen tritt die Vielheit an die Stelle der Einheit und die Zeitlichkeit an die Stelle der Ewigkeit. Das Böse liegt in der Abkehr vom wahren Sein hin zum Nichtigen und Kraftlosen. Das Böse besteht aber nirgends rein für sich, es hat seine Ursache nur in dem Fehlen des Guten.
Das Einswerden mit dem Einen
Das Streben der menschlichen Seele ist darauf gerichtet, sich vom Materiellen zu lösen und zu ihrer wahren Natur, nämlich der Welt des reinen Geistes, aufzusteigen. Der Weg dahin ist ein geistiger und führt durch eine vollkommene Versenkung in das Innere des Menschen. Dazu muss das bessere Selbst von der Sinnlichkeit befreit werden (Reinigung, katharsis):
Wenn aber jemand nicht zum Schauen gelangt und seine Seele des Glanzes dort oben nicht inne wird, wenn er nicht erschüttert wird von einer inneren, gleichsam erotischen Erschütterung beim Schauen - so wie ein Liebender, der ausruht im Geliebten - wenn er aber vielleicht doch ein wahres Licht aufnimmt, das die ganze Seele erleuchtet, dann ist er zwar ganz in die Nähe des Einen gelangt, aber beim Aufstieg wurde er noch durch eine Last bedrückt, die der Schau hinderlich wurde, er stieg nicht allein hinauf, sondern nahm etwas mit, was ihn von dem Einen trennen musste, oder hatte sich noch nicht zu einer Einheit gesammelt. (Plotin, Enneaden, VI, 9, 9)
Gelingt es der menschlichen Seele, alles Irdische abzuschütteln, so kann sie sich mit dem Geist (nous) wieder vereinigen. In den seltenen Momenten einer mystischen Erfahrung ist sogar das Einswerden mit dem Einen (hen) möglich. Dieser Zustand überschreitet dann alle Formen des reinen Erkennens. Das Einswerden der menschlichen Seele mit dem Einen ist kein denkendes, sondern ein liebendes Schauen. In der mystischen Ekstase (ekstasis) ist der Mensch außer sich, ohne in das Schwärmerische zu verfallen. Es ist die Ruhe der Seele in dem Einen, das sie unmittelbar erfasst:
Wer das Eine aber geschaut hat, der weiß, was ich sage, dass nämlich die Seele alsdann, indem sie herannaht und endlich anlangt und an ihm Teil erhält, ein neues Leben empfängt und aus diesem Zustand heraus erkennt, dass hier der Spender des wahrhaften Lebens bei ihr ist und sie keines Dinges mehr bedarf, dass es vielmehr gilt, alles andere von sich abzutun und in ihm allein stille zu stehen, es zu werden in reinem Alleinsein, alles übrigen uns entschlagend, was uns umkleidet. (Plotin, Enneaden, VI, 9, 9)
Einfluss auf das Christentum
Siegeszug des Neuplatonismus
Platoniker wie Numenios, Kelsos, Amelios und andere Philosophen beschäftigten sich bereits seit dem 2. Jh. n. Chr. mit den Lehren christlicher Autoren. Ursprünglich war die christliche Religion eher für die sozial schwächeren Schichten interessant. Die frühe christliche Literatur reagierte auf die Ideenlehre noch mit Distanz, Spott oder Ablehnung (Matthias Baltes: Idee (Ideenlehre), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, 1996, Sp. 238 f.).
Zu Beginn des 3. Jahrhunderts leitete der Siegeszug des Neuplatonismus ein Umdenken ein. Mit der Etablierung einer anspruchsvolleren christlichen Philosophie wurden von christlicher Seite platonische Denkmuster sowie Methoden der Textexegese übernommen. Signifikant dafür sind zum Beispiel die Werke der Kirchenväter Clemens von Alexandria (150 - 215 n. Chr.) und Origenes (185 - 254 n. Chr.). Die Ideen sind im Denken Gottes noch vor der Erschaffung der Welt. Gott wird mit der Idee des Guten und das Reich der Ideen wird mit dem Reich, das nicht von dieser Welt ist (Joh. 18, 36) und in das der Sohn Gottes zurückkehrt, identifiziert (Baltes, a.a.O., Sp. 240 f.). Die Reinigung der Seele soll sich in der Abkehr von der Sinnenwelt vollziehen. Das Ziel ist die Angleichung der Seele an das Intelligible und die Gottheit. Das geistige Übersteigen der sichtbaren Wirklichkeit gipfelt in einer mystischen Schau. Dann steigt die Seele aus Schlaf, Tod oder Nacht zu Licht und Leben auf (Baltes, a.a.O., Sp. 244 f. mit zahlr. Nachw. insbes. zu Origenes und Clemens).
Gregor von Nyssa
Der Einfluss neuplatonischen Denkens auf das Christentum ist vielfältig, beispielhaft soll eine frühe Weichenstellung näher betrachtet werden. Gregor von Nyssa (335/340 - 394 n. Chr.) war mit den philosophisch-theologischen Strömungen seiner Zeit bestens vertraut. Sein Bildungserbe war nicht nur angelernt, sondern ein lebendiger Besitz, der eine fruchtbare Synthese ermöglichte zwischen dem christlichen Erbe und der überkommenen Philosophie. Er besaß ein großes Feingefühl für die philosophischen und ästhetischen Werte der griechischen Überlieferung (Werner Jaeger: Das frühe Christentum und die griechische Bildung, 1963, S. 74). Gregor hat die neuplatonische Philosophie so modifiziert und korrigiert, dass sie sich in den christlichen Glauben einfügen konnte. Die von ihm verwendeten Quellen gibt er fast nie an. Die Gedanken und Metaphern, die er übernimmt, verarbeitet er häufig in einem neuen Zusammenhang. Aufgrund seines rhetorischen Talents ist es ihm möglich, in der biblischen Sprache, in der Fachsprache der Platoniker oder in einer eigenen Ausdrucksweise zu schreiben, die durch keine Modelle vorgeprägt ist. Sein Kommentar zum Hohelied wurde zur Zeit der Kirchenväter als die Metaphysik der christlichen Philosophie angesehen.
Materielles und intelligibles Sein
Gregor unterschied in der platonischen Tradition zwischen einem materiellen und einem intelligibel-immateriellen Sein. Das materiell Seiende ist durch Zeitlichkeit und die Grenzen der kategorialen Bestimmtheit gekennzeichnet. Es kann nicht aus sich heraustreten. Es hat sein Sein in den naturhaft vorgegebenen Grenzen. Jedes Einzelne, das in den eigenen natürlichen Grenzen verharrt, ist nur, solange es innerhalb der eigenen Grenzen bleibt. Wenn es aber außerhalb seiner selbst tritt, wird es auch außerhalb des Seins sein. Das Böse ist das Verlassen der Grenzen des Seienden. Wenn etwas vom Seienden abfällt, ist es auch nicht mehr im Sein. Die Schlechtigkeit an sich gibt es gar nicht. Nur die Nichtexistenz des Schönen wird zur Schlechtigkeit. In der Schlechtigkeit ist kein eigentliches Sein. Der im Nichts Werdende - dies ist eigentlich die Schlechtigkeit - wird vernichtet. Die Erschaffung der materiellen Welt aus der reinen Geistigkeit Gottes erklärt Gregor dadurch, dass er alles Körperliche in geistige, intelligible Elemente auflöst. Das Intelligible ist als das Grenzenlose zu verstehen. Gregor unterschied dabei zwischen der ungeschaffenen und der geschaffenen intelligiblen Natur. Damit begründete er metaphysisch eine spezifisch christliche Unterteilung alles Seienden in Geschaffenes und Ungeschaffenes. Die ungeschaffene Natur besitzt alle Vollkommenheiten aus sich selbst heraus. Sie ist die Vollkommenheit und Güte selbst. Sie ist unwandelbar und unbeschränkt. Deshalb lässt sie keine Stufen des mehr oder weniger sowie des früher oder später zu (Ekkehard Mühlenberg: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa, 1966). Die ungeschaffene intelligible Natur ist das, was im Sinne des wahren Seins eigentlich ist. Es entzieht sich aller menschlichen Erkenntnis, Sprache und Auslegung. Es ist über jede Hinzufügung erhaben und gegenüber jeder Verringerung unempfänglich. Es ist sich stets gleichbleibend und wahrhaft seiend. Es ist in einem ausgezeichneten Sinn das Grenzenlose als ein aktuell Unendliches. Dagegen ist das Sein der menschlichen Seele ein geschaffenes intelligibles Sein. Dieses strebt unaufhörlich und begierdevoll zu dem göttlichen, wahrhaft seienden grenzenlosen Sein. Damit kommt dann auch der Seele in gewisser Hinsicht der Charakter der Grenzenlosigkeit zu. Gregor verwarf die Lehre des Origenes von der Präexistenz der Seele. Auch den Gedanken einer Seelenwanderung lehnte er systematisch ab. Die Seele sei eine immaterielle, einfache Substanz (haplê kai asynthetos physis). Sie sei ganz in ihrem Leib und werde mit ihm zugleich geschaffen. Sie durchdringe den Leib und er sei in ihr. Bei der Auferstehung vereinige sich die Seele wieder mit ihrem Leib.
Unendlichkeit Gottes
Gregor von Nyssa hat mit ungewöhnlichem Nachdruck die Unbegreiflichkeit Gottes vertreten. Zu diesem Zweck hat er alle ihm bekannten Abwandlungen des Unendlichen herangezogen. Er hat den horror infiniti des klassischen Griechentums vollständig überwunden (Werner Elert: Der Ausgang der altkirchlichen Christologie, 1957, S. 45 f.). Die Unendlichkeit wird bei Gregor zum Zentrum der Gotteslehre. Er bezieht als erster den Begriff des Unendlichen in einer zentralen Bedeutung auf die unendliche Wirklichkeit Gottes. Diesem Begriff setzt er dann die geschaffene Welt entgegen (Ekkehard Mühlenberg, a.a.O., S. 26). Die vom Neuplatonismus entwickelte durchgängige Seinshierarchie hat er damit durchbrochen. Indem Gregor im Gedanken des Unendlichen die Grundform des Gottesgedankens erkannt hat, erbrachte er einen epochalen Beitrag zur Gotteslehre. Die Grundform des Gottesgedankens ist entgegen seinen arianischen Gegnern nicht mehr im Begriff einer ersten Ursache zu suchen. Die Erstursächlicheit wird zu einem untergeordneten Moment, ohne allerdings aus dem Gottesgedanken zu entschwinden (Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 1, 1988, S. 427). Unendlichkeit ist schrankenlose Vollkommenheit. Sie ist undurchschreitbar für das menschliche Denken. Das Unendliche sperrt sich gegen die Gesetze der Vernunft und lässt sich nicht von ihr einfangen (Ekkehard Mühlenberg, a.a.O., S. 19). Deshalb begründet die Unendlichkeit die Unbegreiflichkeit Gottes. Die Unendlichkeit Gottes führt dazu, dass die Bewegung des Denkens ins Unendliche läuft, wenn sie Gott zu ihrem Ziel macht. Damit ist Gott während jeder möglichen Erkenntnisstufe unendlich weit entfernt. Jede gewonnene Erkenntnis wird zu einem Ausgangspunkt für eine noch größere Erkenntnis (Ekkehard Mühlenberg, a.a.O., S. 156).
Trinität
Gregor beteiligte sich an der Entwicklung der Trinitätslehre, wobei er sich auf die Gotteslehre seines Bruders Basilius und ihres gemeinsamen Freundes Gregor von Nazianz stützte. Für die drei Kappadokier liegt der Sachgrund der Trinitätserkenntnis in der parataktischen Offenbarung der drei Namen im Taufbefehl (Mt. 28, 19). Gregor betont dabei die Wesenseinheit Gottes. Gott ist das einheitliche Wesen, das sich in drei Personen, den Hypostasen, darstellt:
Vater als Ursprung, seinerseits ursprungslos und ungezeugt;
Sohn, der vom Vater gezeugt ist;
Heiliger Geist, der aus dem Vater hervorgegangen und zugleich Geist Christi ist.
Die Art und Weise des Eigenstands von Sohn und Heiligem Geist über die Benennungen „Zeugen“ und „Hervorgehen“ hinaus ist als unergründliches Glaubensgeheimnis nicht weiter zu hinterfragen. Gregor vergleicht die Trinität mit einer in drei Lichtern leuchtenden Flamme. Dabei ist die Ursache des dritten Lichts die erste Flamme, die aufgrund der Austeilung auf die mittlere die äußerste entzündet. Der Heilige Geist hat den Grund seines Eigenstands aus dem ursprünglichen Licht. Gleichwohl leuchtet er durch den Sohn hervor. Durch die Verwendung dieser Licht-Metaphorik erläutert Gregor seine Lehre vom Hervorgang des Geistes durch den Sohn: Der Geist hat das Sein aus dem Vater und ist zugleich der Geist des Sohnes. Die zweite Person, der Logos, ist ewiges Leben, dem Willens- und Schöpferkraft zukommt. Mit den Vernunftkräften (sophoi te kai technikoi logoi) durchdringt Gott alles. Das Schöpfungs- und Heilswirken der drei Personen kann nicht als voneinander getrennt gedacht werden. Die ökonomischen Heilswirkungen Gottes, seine energeiai, kommen allen drei Hypostasen gemeinsam zu. Aus ihnen kann die trinitarische Distinktion deshalb nicht abgelesen werden. Das Wort Gott bezeichnet nach Gregor geradezu die eine Bewegung göttlichen Handelns, die vom Vater durch den Sohn und den Geist auf die Geschöpfe zukommt. Vater, Sohn und Geist bilden demnach bildlich gesprochen einen einzigen Strahl, der auf die Geschöpfe trifft (Wolfhart Pannenberg, a.a.O., S. 416 unter Berufung auf MPG 36, 149a). Die Trinität erweist sich bei Gregor als eine Vermittlung zwischen der heidnischen Vorstellung von einer Vielheit der Götter und dem jüdischen Glauben an die Einheit Gottes. Das Christentum verbindet nach Gregor beide Vorstellungen dialektisch miteinander, wobei es ein undurchdringliches Glaubensgeheimnis bleibt, wie die Hypostasen untereinander verschieden sein können und dennoch die Wesenseinheit bewahrt wird:
Hast du die Unterscheidung in ihnen [Anm. den Hypostasen] erkannt, so gestattet wieder die Einheit der Natur die Zerteilung nicht, so dass weder die Macht der Alleinherrschaft zerspalten wird durch Zerlegung in verschiedene Gottheiten, noch mit der jüdischen Auffassung unsere Lehre zusammentrifft, sondern mitten durch beide Ansichten die Wahrheit hindurchgeht... Denn gleichsam ein Heilmittel ist für die bezüglich der Einheit Irrenden die Dreizahl, für die in die Vielzahl Zersplitterten aber die Lehre von der Einheit. (Gregor von Nyssa, Logos katechetikos ho megas)
Aufstieg zu Gott
Gregor von Nyssa widmete sich in der mystischen Kontemplation der einen geistigen Schönheit, die als göttliches Urbild aller schönen Dinge durch seine irdischen Abbilder hindurchschimmert. Er verband Platons Auffassung von Philosophie als Verähnlichung mit Gott und die christliche Auffassung des Menschen, den Gott nach seinem Bilde schuf (Jaeger, a.a.O., S. 74). Die Mystik Gregors zielt nicht auf eine Vereinigung, sondern auf eine Verähnlichung mit Gott (homoiosis). Gott sei die unendliche Fülle des Guten. Das wahre Leben des Menschen bestehe in der Teilhabe an Gott und seiner Güte. Gregor interpretiert die Ebenbildlichkeit und die Angleichung an Gott vom Gedanken der Teilhabe her (David L. Balás: Gregor von Nyssa, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 14, 1985, S. 178). Die Vollkommenheit des Menschen bestehe in dem beständigen Fortschritt der Teilhabe an Gott. Diese Teilhabe schließt zumindest in ihrer volleren Entfaltung eine beglückende Gemeinschaft mit Gott wesentlich ein (vgl. dazu In Canticum canticorum homiliae). Der fortschreitende Aufstiegsweg zu Gott führt über drei Stufen:
Reinigung, entspricht als Grunderfahrung bei Moses dem brennenden Dornbusch (Ex 3, 2);
Erleuchtung, entspricht der Führung in der Wüste durch die lichte Wolke bzw. die Feuersäule (Ex 13, 21);
Einigung, entspricht dem Einswerden mit Gott in der blendenden Finsternis der dichten Wolke auf dem Berg Sinai (Ex 24, 16; Dtn 4, 11).
Diesen drei Stufen werden die Sakramente Taufe, Firmung und Eucharistie zugeordnet. Gregor hat das mystische Erleben als ἀπόλαυσις ϑεοῡ, also als ein Gottgenießen, beschrieben. In der Ekstase tritt die Seele als geschaffenes Sein aus den eigenen Grenzen. Sie dringt immer tiefer in die göttliche Wesenheit, ohne aber jemals an ein definitives Ende zu gelangen.