Alles hat seine natürliche Ordnung und Angemessenheit in der Zeit. Platon erschöpft sich nicht in abstrakten, inhaltsleeren Definitionen. Er trifft tatsächlich Aussagen über das, was ist. Es ist einer der großartigen Denkfehler Platons, dass er der Idee/Form (eidos) den Charakter des Unveränderlichen, Unvergänglichen und Selbstidentischen zuspricht. Er behauptet zum Beispiel das Bestehen eines unveränderlichen Eidos des Pferdes jenseits der Zeit. Zweieinhalbtausend Jahre später sind wir aufgrund der Evolutionstheorie weiter als Platon. Die Arten und Gattungen begreifen wir als veränderliche und vergängliche Erscheinungsformen in der Evolutionsgeschichte und damit in der Zeit.
Evolution ist ein Vorgang der Abänderung der Phänomene in der unbelebten und in der belebten Welt: „In der Biologie ist mit Evolution jener Prozess charakterisiert, der dazu führt, dass im Laufe langer Generationenfolgen Tier- und Pflanzenarten verglichen mit früheren Formen (ihren Vorfahren) andersartig werden. Evolution bedeutet also in der Biologie die Veränderung der Arten in der Zeit: Alle Arten, ob Pflanzen oder Tiere — und ebenso der Mensch — sind veränderlich. […] Jede Art ist durch ein spezifisches genetisches Programm gekennzeichnet, das von Generation zu Generation weitergegeben und in der Entwicklung jedes Individuums der betreffenden Art entschlüsselt wird. Evolution, die Veränderung der Arten, bedeutet demnach die Veränderung der Erbprogramme und die Entstehung immer neuer (genetischer) Information. Stirbt eine Art aus, dann bedeutet dies, dass (genetische) Information, dass ein spezifisches Erbprogramm ein für allemal verlorengegangen ist. Die gesamte Evolution des Lebenden ist ein ständiges Entstehen, Werden und Vergehen von Arten. Allerdings spielen sich diese Vorgänge in so langen Zeiträumen ab, dass sie sich der Alltagsbeobachtung entziehen“ (Franz M. Wuketits: Evolutionstheorien. Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik, 1988, S. 7). Auch die Herausbildung von Geist und Bewusstsein ist ein Ergebnis der Evolution. Dabei sind Geist und Bewusstsein an lebende Systeme gebunden, die materiellen und energetischen Träger kommen und vergehen.
Das Eidos einer Art ergibt sich aus dem Erbprogramm. Materieller Träger dieser genetischen Information ist die Desoxyribonukleinsäure. Die Erbprogramme der Arten verändern sich in der Zeit durch Mutation, Selektion und Zufallswirkungen wie den Gendrift. Die Vorstellung Platons von einer zeitlos-urbildhaften und unveränderlichen Idee/Form (eidos) des Pferdes ist deshalb heute überholt. Das Eidos des Pferdes kann nicht unveränderlich sein, weil das Pferd evolutionsgeschichtlich mit einem sich verändernden Eidos in der Zeit ist. Es fragt sich dann, was aus heutiger Perspektive tatsächlich nicht in der Zeit steht: vielleicht, aber auch nur vielleicht die Aussagen der Mathematik und der formalen Logik.
Platon betrachtet das Universum als kosmos, also als eine gut gelungene Anordnung von Teilen zu einem Ganzen, und nicht als Ungeordnetheit oder Zügellosigkeit. Die Regelförmigkeit der Kreisumläufe der Himmelskörper sei das Ergebnis einer göttlichen Vernunft, die darauf aus sei, das Gute zu verwirklichen. Die Ordnung des Kosmos verhalte sich stets gleich, es gebe kein Unrechttun und kein Unrechtleiden. Die menschliche Seele solle sich daran orientieren. Doch entspricht diese harmonische Betrachtung des Himmels nicht der modernen Astrophysik. In den ersten Augenblicken war das Universum ein ungemein dichter und heißer Feuerball, der sich rasend schnell ausdehnte: Big Bang vor 14 Milliarden Jahren. Aus dieser Ursuppe entwickelten sich nach und nach die ersten Atome, Sterne und Galaxien. In einer dieser Galaxien entstand ein Planet namens Erde. Auch das Universum ist also in der Zeit und wird sich wie alles weiter verändern. Nach der veralteten Big Crunch-Theorie wird sich das Universum in Milliarden Jahren wieder zusammenziehen, weil die Gravitationskraft die Expansion des Universums abbremst und in eine Kontraktion umkehrt. Die Sterne und Planeten verdampfen, die atomare Materie wird in ihre Bestandteile zerlegt. Doch nach dem aktuellen Stand der Forschung beschleunigt sich die Ausdehnung des Universums, weil die alles beherrschende dark energy eine Art Unterdruck erzeugt und der Gravitationskraft entgegenwirkt. Der Raum zwischen den Galaxien vergrößert sich. Im Big Freeze-Szenario wird der Kosmos wegen der dunklen Energie mit immer größerer Geschwindigkeit expandieren. Irgendwann wird diese Ausdehnung jede Art von Materiezusammenballung verhindern, womit auch keine neuen Sterne mehr entstehen können. Das Universum endet dann als dunkler, kalter und toter Raum. Im Big Rip-Szenario wird in 50 Milliarden Jahren alles, was sich im Universum befindet, von außen zuerst und dann nach innen zerrissen: Galaxienhaufen, Galaxien, Milchstraße, Sonnensystem, Erde, Atome, Atomkerne und Elementarteilchen (vgl. Katie Mack: Das Ende von allem - astrophysikalisch betrachtet, München 2021. Der Nobelpreis für Physik 2011 ging an Saul Perlmutter, Brian P. Schmidt und Adam G. Riess „für die Entdeckung der beschleunigten Expansion des Universums durch Beobachtungen entfernter Supernovae“). Zügellos wirkt auch Sagittarius A*, das supermassereiche Schwarze Loch im galaktischen Zentrum unserer Milchstraße. Es verschluckt sogar das Licht, wenn es ihm zu nahe kommt, und hat eine Masse von 4,31 Millionen Sonnen (die Königlich Schwedischen Akademien zeichneten dafür Reinhard Genzel, Roger Penrose und Andrea Ghez mit dem Nobelpreis für Physik 2020 aus). Es ist etwa 26.700 Lichtjahre von der Erde entfernt.
Nach Platon ist der Mensch von den jungen Göttern geschaffen. Diese erhalten von ihrem Vater, dem Demiurgen, den unsterblichen Keim des göttlichen Seelenprinzips und erfüllen dann ihre Aufgabe. Sie formen aus Teilchen von Feuer, Erde, Wasser und Luft jeden einzelnen Körper. Dieser Leib befindet sich in einem Zustand beständigen Zu- und Abflusses durch Ernährung. In sein Inneres fesseln die jungen Götter die kreisförmigen Umläufe der unsterblichen Seele, die aber durch Sinneseindrücke und Wahrnehmungen erschüttert und gestört werden, wodurch die Seele unverständig wird (Platon, Timaios 43a ff.). Doch entspricht diese Auffassung nicht der modernen Biologie. Tatsächlich ist auch der Mensch wie das Pferd das Ergebnis der Evolutionsgeschichte und steht mit seinem veränderlichen Eidos in der Zeit. Die Menschen sind am nächsten mit heute lebenden Menschenaffenarten wie Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Gibbons verwandt. Der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse lebte vor etwa sechs bis sieben Millionen Jahren in Afrika. Die erste Gruppe von Homininen, die Afrika vor etwa 1,9 Millionen Jahren verließ, war der Homo erectus. Vor etwa 500.000 bis 300.000 Jahren verließen die Vorfahren des Neandertalers Afrika. Auch der moderne Mensch stammt aus Afrika. Die ältesten Homo-sapiens-Fossilien finden sich auf dem gesamten afrikanischen Kontinent: Jebel Irhoud in Marokko (300.000 Jahre), Florisbad in Südafrika (260.000 Jahre) und Omo Kibish in Äthiopien (195.000 Jahre). Lange bevor der Homo sapiens Afrika verließ, hatte er sich bereits in Afrika ausgebreitet (Philipp Gunz: Die Ersten unserer Art. Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Forschungsbericht 2017). Der Sprung über die Meerenge Bab al-Mandab in das damals grüne Arabien erfolgte in drei Anläufen:
vor 250.000 Jahren erfolgte der erste Anlauf. In der Apidima-Höhle im Süden Griechenlands lebten vor 220.000 Jahren bereits moderne Menschen;
vor 180.000 Jahren lebten in Israel Homo sapiens in der Misliya-Höhle, vor 120.000 Jahren lebten die Bewohner der nordisraelischen Höhlen Skhul und Qafzeh (diese sind möglicherweise auch über die Nordroute Ägypten gekommen);
vor 65.000 Jahren kamen die gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Nichtafrikaner über die Meerenge Bab al-Mandab nach Eurasien.
Von dieser dritten Gruppe stammen alle heutigen Menschen außerhalb von Afrika ab. Als diese Menschen sich in Europa und Asien verbreiteten, stießen sie auf die Neandertaler. Die beiden Arten kreuzten sich offenbar, was heute noch im Genom erkennbar ist. Rund zwei Prozent unseres Genoms stammen vom Neandertaler. Vor 14500 Jahren zog der Mensch über die Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska (Johannes Krause, Thomas Trappe: Hybris. Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern, 2021). Entsprechend der platonischen Dihairese erfolgt die Einordnung des Menschen nach Gattung und Art durch eine Klassifikation. Er gehört in das Reich der vielzelligen Tiere:
Stammgruppe Neumünder,
Stamm Chordatiere,
Unterstamm Wirbeltiere,
Überklasse Kiefermäuler,
Reihe Landwirbeltiere,
Klasse Säugetiere,
Unterklasse Höhere Säugetiere,
Überordnung Euarchontoglires,
Ordnung Primaten,
Unterordnung Trockennasenaffen,
Teilordnung Altweltaffen,
Überfamilie Menschenartige,
Familie Menschenaffen (Hominidae),
Unterfamilie Homininae (Gorillas, Schimpansen und Menschen),
Tribus Hominini (bis auf den Mensch sind alle Gattungen ausgestorben wie z.B. Australopithecus),
Gattung Homo (Mensch, bis auf den Homo sapiens sind alle Arten ausgestorben wie z.B. Homo erectus, Neandertaler),
Art Homo sapiens (moderner Mensch).
Der Mensch kann nicht allein aus der Evolutionsgeschichte erklärt werden. Ob die Evolution im Ganzen und das Leben des Menschen im Einzelnen einen Sinn hat, ist für die Evolutionstheorie eine fachfremde Frage. Sie kann nicht beantworten, ob alles nur zufällig und letztlich unvernünftig oder aber die Vernunft das ursprüngliche Prinzip von allem ist. Die biologische Einordnung in das Tierreich entbindet den Menschen deshalb nicht von der Frage nach dem Wahren, Schönen, Guten. Diese drei philosophischen Zentralbegriffe bieten auf der höchsten Stufe in ihrer Einheit den Orientierungspunkt für ein gutes Leben und damit das Ziel des Menschen als vernünftiges Lebewesen. Als denkende Wesen sind wir auf die Wahrheit hin ausgerichtet, als empfindende Wesen auf die Schönheit und als handelnde Wesen auf das Gute.