Platon und die Ideenlehre
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Platons Seelenlehre

von Hans G. Müsse

 

Der Begriff Seele

Platons Begriff Seele reicht weit über die Psychologie hinaus. Platon versteht die Seele als Substanz. Sie ist kein Vermögen und keine Funktion des Körpers, sie ist keine Eigenschaft von etwas anderem und keine Relation zwischen Dingen. Die Seele ist ein an sich und von sich her existierendes Etwas, dessen Wesen klar bestimmt und nicht von anderen abhängig ist. Die Ideenwelt in ihrer Ganzheit ist das vollkommene, intelligible Lebewesen und hat als solches Leben, Denken und Seele. Der sichtbare Kosmos ist als ein Abbild der intelligiblen Welt seinerseits ein beseeltes und vernunftbegabtes Lebewesen (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 308-309). Zentrale Bereiche der Philosophie Platons wie die Ideenlehre, die Zweiweltenlehre und die Kosmologie stehen in engem Zusammenhang mit der Seelenlehre (Michael Erler: Platon, 2007, S. 378). Nicht nur Menschen haben eine Seele, sondern auch die Welt, die Götter, die Gestirne, die Dämonen, die Erde, die Tiere und die Pflanzen. Die Seele steht zwischen den Bereichen des Geistigen und des Sinnlichen, indem sie an beiden teilhat und zwischen diesen vermittelt. Sie ist ein dynamisches Bindeglied zwischen Sein und Werden (Jörn Müller: Psychologie, in: C. Horn u.a. (Hrsg.), Platon-Handbuch, 2009, S. 150). Nach Platon ist die Seele das Prinzip des Lebens. Die Seele ist die Bewegung, die sich selbst bewegen kann (Platon, Nomoi 895e-896a). Damit ist sie zugleich unsterblich, unvergänglich und unzerstörbar, denn das sich selbst Bewegende kann weder untergehen noch entstehen. Die Gegenwart der Seele ist das, was einem Körper das Leben einhaucht. Der Tod ist die Trennung der Seele vom Körper.

Diejenigen, welche die Psyche, Seele, so benannten, haben sich dieses dabei gedacht, daß sie, wenn sie sich bei, oder wie man sonst sagte, selb dem Leibe hält, die Ursache ist, daß er lebt, weil sie ihm das Vermögen des Atmens mitteilt, und ihn dadurch als ein Selbst hält und erfrischt, anapsychon, sobald aber dieses selbige fehlt, kommt der Leib um und stirbt, deshalb, glaube ich, haben sie sie Seele genannt (Platon, Kratylos 399e)

Die essentielle Aufgabe der Seele ist somit das Leben (Platon, Politeia 353d). Dabei unterscheidet Platon zwischen der Weltseele und der Einzelseele. Der Sache nach geht er dabei von einer Analogie zwischen Mensch und Kosmos aus: Der Körper des Menschen wird durch die Seele belebt, die Materie des Kosmos wird durch die Weltseele belebt. Zwischen der Weltseele und der Seele des Menschen besteht eine Wesensgleichheit (Platon, Timaios 41d - 42d; Michael Bordt: Weltseele, in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 320). Mit dem Begriff des Selbstbewegten sind Wesen und Definition der Seele angegeben. Die seelische Selbstbewegung ist der letzte Ursprung aller geordneten kosmischen Bewegung. Die Seele gehört nicht der Ideenwelt an. Sie beherrscht die Körperwelt. Sie ist das Erste und Ranghöchste von allem, was geworden ist (Szlezák, a.a.O., S. 317).

 

Weltseele

Der Demiurg erschuf die Seele durch Mischung von Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit in einem Mischkrug. Alles, was ist, hat Sein, hat seine Identität und damit seine Verschiedenheit von anderem. In jeder Prädikation sind Identität, Differenz und Sein dessen, wovon die Aussage getroffen wird, vorausgesetzt (Szlezák, a.a.O., S. 311). Der Kosmos besteht aus Materie und wird von der Weltseele umgeben und durchdrungen. Als Bindeglied von immer Seiendem (Intelligiblem, nous) und Werdendem/Vergehendem hat die Weltseele an beidem Anteil. Beides ist vermittels der Seele zu der intelligiblen Ordnung des wahrnehmbaren Kosmos gestaltet (Platon, Timaios 30ac, 69aff.; Nomoi 899b), der als ein Lebewesen (zöon) alles Lebendige wie ein Ganzes seine Teile in sich umfasst und in unaufhörlicher Rotation begriffen ist (Wolfram Brinker: Seele (psyche), in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 253). Die Vernunft des Kosmos hat ihren Sitz in der Weltseele. Die Weltseele ist von dem Demiurgen durch Mischung aus der unteilbaren, sich selbst gleichbleibenden Seiendheit der Ideenwelt und aus dem teilbaren, veränderlichen Sein der körperhaften Welt gebildet und in die Welt gepflanzt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen und es dadurch vollkommener zu machen. Sie ist die Kraft, die sich selbst und alles andere bewegt, ist durch das Weltganze verbreitet und wirkt in der Sphäre der Fixsterne und in der Sphäre der Planeten. Die kreisförmigen Gestirnbewegungen bilden das Vorbild für die innere Harmonie und Ordnung der menschlichen Seele (Jörn Müller, a.a.O., S. 145). Die Zusammensetzung der Weltseele erfolgt in vier Stufen (vgl. Platon, Timaios 35a): 

  1. Zwischen dem unteilbaren und sich immer gleich verhaltenden Sein [= Reich der Ideen] und dem im Bereich des Körperlichen entstehenden teilbaren Sein [= Welt der Erscheinungen] mischt der Demiurg aus beiden in der Mitte (en meso) eine dritte Art des Seins.
  2. Was die Natur des Selben (tauton) und die des Anderen (thateron) angeht, so macht er ebenso die Zusammenstellung in der Mitte zwischen dem Unteilbaren und dem gemäß der Körperlichkeit Teilbaren von diesen.
  3. Der Demiurg nimmt diese drei und vermischt alle zu einer einzigen Form, indem er die Natur des Anderen, die schwer zu mischen ist, mit Gewalt in das Selbe hinein zusammenfügt.
  4. Als er diese mit dem Sein gemischt und aus dreien eins gemacht hat, da zerteilt er dieses Ganze wieder in die gebührende Anzahl von Teilen, von denen jeder einzelne aus dem Selben und dem Anderen und dem Sein gemischt ist (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 41-42).
Mit dem unteilbaren Sein ist die Seinsweise der Ideen gemeint. Mit dem teilbaren Sein ist die Beschaffenheit der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen gemeint (Gaiser, a.a.O., S. 42). Die Seele ist demnach aus den Urbestandteilen (stoicheia) zusammengefügt, aus denen als Ursachen (archai) alle Dinge hervorgehen, damit die Seele grundsätzlich zu allem in Beziehung steht.
 
Auf die gleiche Weise macht aber auch Platon im Timaios die Seele aus den Urlementen (stoicheia): Denn er ist der Auffassung, es werde durch das Gleiche das Gleiche erkannt, die Gegenstände aber seien aus den Prinzipien (archai). Ebenso ist aber auch in den Ausführungen „Über die Philosophie“ festgestellt worden, das Lebewesen selbst (auto to zoon = die Ideenwelt im Ganzen) sei aus der Idee des Einen selbst und der ersten Länge, Breite, und Tiefe, das andere aber sei in ähnlicher Weise aufgebaut. Ferner wird noch auf andere Weise argumentiert: Die Vernunft/Einsicht (nous) sei die Eins, die Wissenschaft/Verstehen (episteme) sei die Zwei, denn auf einfache Weise beziehe es sich auf Eines [denn sie geht nur nach einer Richtung]. Die Zahl der Fläche aber sei Meinung (doxa). Die Zahl des Körperlichen aber sei sinnliche Wahrnehmung (aisthesis). Die Zahlen wurden als die Ideen selbst und als die Ursachen/Prinzipien bezeichnet, sie leiten sich aus den Urelementen (stoicheia) her. Die Dinge werden teils durch die Vernunft/Einsicht (nous) beurteilt, teils durch Wissenschaft/Verstehen (episteme), teils durch Meinung (doxa) und teils durch die sinnliche Wahrnehmung (aisthesis). Die genannten Zahlen aber sind die Ideen (Formursachen) der Dinge. (Aristoteles, De anima 404b 16-27 = Gaiser TP 25 A).
 
Mit dem Begriff „das Lebewesen selbst“ ist nichts anderes gemeint als die Ideenwelt im Ganzen: das ideale Urbild aller sinnlich wahrnehmbaren Lebewesen und des ganzen, wiederum als umfassendes Lebewesen verstandenen Kosmos (Gaiser, a.a.O., S. 45). Aristoteles bezeugt hier für Platon einen eigenartigen Grundgedanken: Die gleiche Struktur kommt in analoger Weise überall vor. Er vergleicht die Zahlen (1 – 2 – 3 – 4) mit den Raumdimensionen (Einheit – Länge – Breite – Tiefe, oder Einheit – Linie – Fläche – Körper) und mit den Erkenntnisvermögen (nous – episteme – doxa – aisthesis). Diese gleiche Struktur bestimmt den Aufbau der Ideenwelt, das Gefüge der Seele und den Zusammenhang aller Dinge überhaupt. Deshalb ist die Seele imstande, alles in sich aufzunehmen und zu unterscheiden (Gaiser, a.a.O., S. 45). Die Seele hat durch die Erkenntnis an der Idee teil. Sie kann die gestaltende Kraft der Idee nachahmen. So wirkt die Idee in der Welt des Körperlichen formierend weiter. Die Methexis zwischen Idee und Erscheinung wird hergestellt. Konrad Gaiser spricht deshalb davon, dass in der Seele offenbar eine „wirkliche Seinsverbindung und -vermittlung“ stattfindet (Gaiser, a.a.O., S. 25). Die Gesamtstruktur der Realität spiegelt sich in der Seele analogisch wider, wobei diese Struktur auch mathematisch fassbar ist. Die Seele und der Gegenstandsbereich der Mathematik sind in der Mitte zwischen Ideen und Erscheinungen ontologisch vereinigt, das Mathematische ist ein Aspekt der Seelenstruktur selbst (Gaiser, a.a.O., S. 546).
 

Menschliche Seele

Die Seele des Menschen ist von der Seele des Alls genommen und damit ein Teil von ihr. Nachdem der Demiurg die Weltseele gemischt hatte, goss er die Reste dieses vorigen Mischvorgangs in den Mischkrug hinein und unterteilte das Ganze in so viele Seelen wie es Gestirne gibt. Deshalb ist auch die Vernunft des Menschen von der Vernunft der Welt genommen. Seele (psyche) und Vernunft (nous), über die wir in unserer körperlichen Existenz verfügen, sind im All in viel schönerer und reinerer Form vorhanden (Platon, Timaios 30a-b). Die Bindung der Seelen an die Gestirne und ihre Wanderung durch viele Körper unterschiedlichen Ranges ist reiner Mythos und orphisch-pythagoreische Religion (Szlezák, a.a.O., S. 323). 

Die unsterbliche Seele ist das wahre Ich des Menschen. Platon stellt sich die Seele als einen Lebenshauch vor, der den Menschen beim Tod verlässt. Die vom Demiurgen erschaffene unsterbliche Denkseele hat an der göttlichen Ewigkeit teil. Die vegetative und affektive Seele ist von den Gehilfen des Demiurgen geschaffen und vergeht mit dem Körper. Die Seele ist Trägerin sittlicher Eigenschaften und damit Grundlage jeden sittlichen Handelns. Bei Verfehlungen nimmt sie Schaden. Frei wird die Seele allein durch die Ausrichtung auf das wirklich Gute. Die Seele muss sich von dem Übel der Unordnung befreien, die aus dem Körperlichen herrührt, und sich durch Konzentration auf die eigene Vernunft der göttlichen Ordnung anpassen (Michael Erler: Platon, 2007, S. 375-389).

Die Seele ist das, was das Selbst eines jeden von uns ausmacht. Das Wesen des Menschen verlegt Platon in die Seele. Sie ist wie die Weltseele unsterblich. Die Seele des Menschen ist einfach, geistig und göttlich. Die Einzelseele ist das belebende Prinzip des Körpers. Sie leitet sich von der Weltseele ab und ist wesensverwandt mit den Ideen des Wahren, Guten und Schönen. Das Wissen von diesen Ideen hat sie aus ihrem Vorleben, bevor sie in den konkreten Leib eingegangen ist (Anamnese). Die Seele ist das, was erkennt (Platon, Sophistes 248c-d). Sie ist das, wodurch der Mensch zu Wissen gelangt (Platon, Euthydemos 295e). Da die Seele mit den Ideen verwandt ist, werden diese erkannt, wenn der Mensch sich vom Sinnlichen abwendet und sie nur mit dem Denken selbst erfasst. „Dieser epistemische Modus bedingt eine Sammlung der Seele in sich selbst unter Verzicht auf den Gebrauch der Sinnesorgane, die [...] als eine epistemische Stör- und Fehlerquelle erscheinen. [...] Damit ist aber nicht gesagt, dass die Seele zu den Objekten der sinnlich wahrnehmbaren Welt in kein aktives kognitives Verhältnis treten kann. [...] Sinneswahrnehmung (aisthesis) ist eine genuin seelische Aktivität, die sich mittels der Werkzeuge der körperlichen Sinnesorgane vollzieht; die Seele ist auch der Ort, wo die Sinneseindrücke zusammenlaufen, die ansonsten bloß unvermittelt nebeneinander lägen (Tht. 184c-d). [...] Das Wesen der Lustempfindung ist die Wiederherstellung einer gestörten Harmonie bzw. die Beseitigung eines Mangels (Phlb. 31b-32a). Gemeinsam ist den über den Körper vermittelten Sinneswahrnehmungen und den sinnlichen Empfindungen von Lust und Unlust ihre Tendenz, die Seele ‚gewaltsam‘ mit Eindrücken der Außenwelt zu affizieren und in Unordnung zu bringen, indem sie von der (perfekten) kreisförmigen Bewegung abgebracht und zu (unvollkommenen) linearen Bewegungen veranlasst wird (Tim. 42a-43b) - sie wird unverständig (anous, 44b)“ (Jörn Müller, a.a.O., S. 143). Was einmal in die Seele gelangt, kann dort mitunter eine nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entfalten (Szlezák, a.a.O., S. 394). Für die Seele besteht die Gefahr, dass sie befleckt und unrein wird, wenn sie sich zu sehr dem Körperlichen hingibt, indem sie den Leib pflegt, liebt und von ihm bezaubert ist. Die Seele hat etwas, was sie schlecht macht, nämlich Ungerechtigkeit, Unmäßigkeit, Feigheit und Unwissenheit. Sie sind die konträren Gegensätze der Kardinaltugenden. Die Seele soll sich nicht von Lüsten und Begierden leiten lassen. Sonst glaubt sie womöglich noch, nur das Körperliche sei wahr. Eine solche Seele wird sich nach dem Tod nicht rein für sich absondern können. Sie ist von dem Körperlichen durchzogen und mit dem Leib gleichsam zusammengewachsen. Sie ist unbeholfen, schwerfällig, irdisch und sichtbar.

Die Seele, die [das Körperliche] an sich hat, ist schwerfällig und wird wieder zurückgezogen in die sichtbare Gegend aus Furcht vor dem Unsichtbaren und der Geisterwelt, wie man sagt, an den Denkmälern und Gräbern umherschleichend, an denen daher auch allerlei dunkle Erscheinungen von Seelen gesehen worden sind, wie denn solche Seelen wohl Schattenbilder von denen darstellen müssen, welche nicht rein abgelöst sind, sondern noch teil haben an dem Sichtbaren, weshalb sie denn auch gesehen werden. [...] Und freilich leuchtet auch ein, daß dies nicht die Seelen der Guten sind, sondern die der Schlechten, welche um dergleichen gezwungen sind herumzuirren, Strafe leidend für ihre frühere Lebensweise, welche schlecht war. Und so lange irren sie, bis sie durch die Begierde des sie noch begleitenden Körperlichen wieder gebunden werden in einen Leib. Und natürlich werden sie in einen von solchen Sitten gebunden, deren sie sich befleißigt hatten im Leben. [...] Die sich ohne alle Scheu der Völlerei und des Übermuts und Trunkes befleißigten, solche begeben sich wohl natürlich in Esel und ähnliche Arten von Tieren. (Platon, Phaidon 81d-e)

 

Die drei Seelenteile

Platon schreibt der Seele drei Teile zu: das Begehrende, das Mutartige/Tatkräftige und das vernünftig Lenkende. Dementsprechend unterscheidet er in Politeia IX 580d-581e drei Arten von Menschen:

  • Regiert das vernünftige Denken, ist der Mensch weisheitsliebend (philosophos),
  • im Fall des Mutartigen/Tatkräftigen ist er siegliebend (philonikos, ehrgeizig, streitsüchtig), und
  • wenn das Begehrende herrscht, ist er gewinnliebend (philokerdes, eigennützig, profitsüchtig).

Zu den drei Seelenteilen gehören demnach drei Arten der Lust: Streben nach Gewinn, nach Ehre und nach Erkenntnis. Allein der Liebhaber der Weisheit kann Glück erfahren. Der Ehrliebhaber und der Sensualist wissen nichts von Lust und Glück der Seele und des Geistes (Michael Erler: Platon, 2007, S. 214). Den drei Seelenteilen entsprechen zudem die drei Erkenntnisweisen Sinneswahrnehmung (aisthesis), Meinung (doxa) und Wissen (noesis). 

 

Epithymetikon und Thymoeides

Das Begehrende (to epithymêtikon, Begierde) hat seinen Sitz im Unterleib. Es entspringt der Wahrnehmung und strebt nach der sinnlichen Lust. Es ist die Basis der elementaren Lebensvorgänge Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme. Aufgrund seiner potentiellen Unersättlichkeit muss es zur Besonnenheit gezähmt werden wie ein wildes Tier (Platon, Politeia 589a-b; Timaios 70d-71a).

Das Mutartige/Tatkräftige (to thymoeides, Aggressionstrieb, das Sich-Empörende, das Sich-Ereifernde) hat seinen Sitz in der Brust und speist sich aus dem Vielerlei der Meinungen. Es strebt danach, dass der einzelne Mensch in der Gemeinschaft sich angemessen zu verwirklichen vermag, und ist auf den Erhalt einer gerechten Ordnung bedacht. Zugleich ist es die Basis des Machtstrebens. Der Hauptaffekt dieses ehrliebenden Seelenteils ist der Zorn. Thymoeides kann in Konflikt mit dem Begehrenden geraten, zum Beispiel wenn Begierden den eigenen vernünftigen Teil überwunden haben und man dann mit sich selbst schimpft und voller Zorn auf dieses Zwingende in sich ist. Das Mutartige wird dann zu einem Verbündeten der Vernunft (Platon, Politeia 440a-b). 

Thymetisches Streben ist im Erkenntnisvermögen der Meinung verwurzelt. Das Erkenntnisvermögen der Meinung bezieht sich nach Platon auf etwas, das zwar Anteil an etwas mit sich Identischem hat, aber dieses nicht nur und allein ist, sondern ein Vieles. Platon grenzt daher das meinende Erkennen als Vermögen vom Erkennen des Logistikon ab, weil jenes im Unterschied zu diesem das Identische vom Verschiedenen nicht zu unterscheiden weiß. Das Meinen ist der Erkenntnisbezirk der Hör- und Schaulustigen, Techniker oder Praktiker, die Einzelnes, d.h. Instanzen des Guten oder Schönen, und nicht, wie die Philosophen, das Gute und Schöne selbst erkennen (Resp 475b ff.). Das Thymoeides interessiert also eine Mannigfaltigkeit von Einzeldingen (etwa technische, praktische), an denen es seine Lust gewinnt, wobei es diese nach ihrem Ergon (Leistung), ihrer Tugend beurteilt. Es ist zudem, im Unterschied zum Epithymetikon, ein Seelenteil, durch den der Mensch auch auf sich selbst Bezug nehmend ein wertendes Urteil über das fällt, was er selbst im Vergleich zu anderen ist oder was ihm und anderen zusteht oder nicht zusteht, so dass er danach strebt, jenes herzustellen und aufrechtzuerhalten, dieses aber zu beseitigen (Resp 429c). Aufgrund des Thymoeides ist der Mensch daher tapfer und muthaft (thymoeides), entwickelt aber auch eine Lust an Überlegenheit, Ehre und Ansehen, weswegen dieser Seelenteil öfters das Siegliebende (philonikon) oder Ehrliebende (philotimon) heißt (Resp 581a-d). Weil sein Begriff vom Guten zwar weiter als der des Epithymetikon, aber enger als der des Logistikon ist, muss auch das Thymoeides dem Logistikon untergeordnet, d.h. zu einer richtigen Meinung über das Gute oder Schöne, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Bereich der zahllosen Einzeldinge, zu besonnenem Eifer und Mut (andreia) erzogen werden, damit seine negativen Qualitäten im Charakter eines Menschen, wie falscher Eifer, Argwohn, Verleumdungssucht, Kleinsinnigkeit, Selbstüberschätzung, Schamlosigkeit, Feigheit, ungerechte Empörung, Neid, Schadenfreude, Misanthropie, Misologie usw. nicht gegenüber den positiven, wie gerechtem Zorn, gerechter Sanftmut und Milde, Respekt und Achtung vor Göttern und Menschen, vor dem von Göttern und Menschen Geschaffenen oder der Natur, richtiger Selbsteinschätzung, Philanthropie usw. (Resp 376c-412b ff.; Phd 89d ff.) zur Entfaltung kommen können. (Wolfram Brinker, a.a.O., S. 256-257).

 

Das Logistikon als Daimonion

Das vernünftig Denkende bzw. Lenkende (to logistikon, Vernunft) hat seinen Sitz im Kopf und orientiert sich an dem Guten und Schönen. Das Logistikon erkennt das, was für die Seele zuträglich ist. Es zielt auf den Erwerb von Wissen und Wahrheit und moderiert die beiden anderen Seelenteile, indem es vorausschauend überlegt und abwägt. Nur den Menschen kommt Vernunft zu, deren Seele nach einem Mythos Gold beigemischt wurde und die Kraft der Ideenschau herrschen können (Michael Erler: Platon, 2007, S. 388). Das Logistikon ist zugleich der Sitz des persönlichen Daimon eines Menschen. Das Daimonische steht insgesamt zwischen Gott und Mensch. Eros ist der große Daimon. Das Daimonische ist dazu bestimmt, die ontologische Kluft zwischen den Bereichen aufzufüllen, so dass das All mit sich selbst verbunden ist. Die Eliminierung alles Daimonischen würde den Zusammenhalt des Alls aufheben. Gott verkehrt nicht mit dem Menschen, vielmehr erfolgt aller Umgang der Götter mit den Menschen durch Vermittlung des Daimonischen. Im Jenseits wählt die Seele selbst den persönlichen Daimon eines jeden Menschen (Platon, Politeia 617e). Oder umgekehrt: Der individuelle Daimon erlost den Menschen (Platon, Phaidon 107d). Der persönliche Daimon eines Menschen muss als das je eigene Logistikon verstanden werden, das von Gott als Daimon gegeben wird (Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 586).

Wie wir schon wiederholt bemerkten, dass drei Seelenteile von dreifacher Art in uns ihren Wohnsitz erhalten haben und dass jeder von ihnen seine besonderen Bewegungen hat, ebenso müssen wir nach Anleitung des Obigen denn auch jetzt in der Kürze hinzufügen, dass der von ihnen, der in Untätigkeit verharrt und die ihm eigentümlichen Bewegungen nicht durchmacht, notwendig der schwächste, der, welcher in Übung bleibt, aber der stärkste wird. Deshalb ist sehr darauf zu sehen, dass sich alle drei hinsichtlich ihrer Bewegung im Ebenmaß zueinander verhalten. Was den vollkommensten Seelenteil in uns betrifft, muss man nun aber urteilen, dass der Gott ihn einem jeden als einen Dämon gegeben hat. Ich meine nämlich jenen Seelenteil, von dem wir angaben, dass er in dem obersten Teil unseres Körpers wohne und uns über die Erde zur Verwandtschaft mit den Gestirnen erhebe, als Geschöpfe, die sich nicht dem irdischen, sondern dem überirdischen Ursprung zuwenden, und wir hatten recht, dies zu behaupten. Denn dorthin, von wo der erste Ursprung der Seele ausging, richtete die Gottheit das Haupt und die Wurzel des Menschen - und gab so unserem ganzen Körper seine aufrechte Stellung. Wer sich daher den Begierden oder dem Ehrgeiz hingibt und unablässig diese beiden Kräfte übt, wird notwendig nur vergängliche Meinungen in sich erzeugen. Und da er, soweit es ihm überhaupt nur möglich ist, sich dem Sterblichen zuwendet, wird er es hieran in keinem Stücke fehlen lassen, weil er eben den sterblichen Teil in sich großgezogen hat. Wer dagegen der Lernbegierde und wahrhafter Kenntnisse sich beflissen und die Kraft des Wissens vor allen anderen Kräften seiner Seele geübt hat, der wird doch wohl ebenso notwendig, wenn er überhaupt die Wahrheit erreicht, unsterbliche und göttliche Gedanken in sich tragen. Und wiederum, soweit überhaupt die menschliche Natur der Unsterblichkeit fähig ist, wird er in keinem Teil dahinter zurückbleiben und, weil er sich stets dem Göttlichen zuwendet und den göttlichen Schutzgeist, der in ihm selbst wohnt, zur schönsten Vollendung hat gedeihen lassen, vorzüglich glückselig sein (Platon, Timaios 89e-90c).
 
Das Daimonion ist also nicht nur die menschliche Stimme der Vernunft, sondern eine Kraft, die in einer nicht näher bestimmbaren Weise unabhängig von ihrem Träger ist. Sie schreitet ein, wenn er im Begriff ist, etwas Verkehrtes zu tun. Sie nimmt sich seiner an und sorgt für ihn. Die Denkseele ist im Rahmen der platonischen Seelenlehre nicht so sehr das wahrhaft Menschliche, sondern vor allem gerade das wahrhaft Göttliche, das dem Menschen wie etwas anderes, das mit ihm nicht einfach identisch ist, von Gott gegeben wird (Platon, Timaios 90a; 587).
 

Die Kardinaltugenden

Bei jedem der drei Seelenteile handelt es sich um eine Art eigenständiges Modul. Diese drei einzelnen Module können sich bei einem  inneren Streit der Seele gegeneinander wenden oder miteinander verbünden (Platon, Politeia 440e). Die drei Seelenteile befinden sich nur dann in einer angemessenen Ordnung, wenn das Begehrende (Bedürfnis, Begierde) und das Mutartige (Aggressionstrieb) durch die Vernunft gelenkt werden und jeder das Seinige tut, was ihm angemessen ist. Dabei geht es nicht um die Ausschaltung eines Seelenteils, sondern um die Integration in ein harmonisches Ganzes. Den drei Seelenteilen werden drei Tugenden zugeordnet:
  • die Weisheit (sophia) dem Logistikon
  • die Tapferkeit (andreia) dem Thymoeides und
  • die Besonnenheit (sophrosyne) dem Epithymetikon.

Gerechtigkeit (dikaiosyne) herrscht dort, wo jeder Seelenteil die ihm spezifische Tugend ausübt, so dass ein harmonisches, einheitliches Verhältnis entsteht. Gerechtigkeit im Menschen ergibt sich, wenn jeder der drei Seelenfaktoren seine Funktion erfüllt. Das vernünftige Denken muss regieren, das Muthafte es unterstützen und beide zusammen sollen das Begehrende kontrollieren. Das Individuum ist tapfer dank des muthaften Seelenteils, wenn dieser sich dem vernünftigen unterwirft; es ist weise mittels des vernünftigen Seelenteils; besonnen infolge der Harmonie von herrschenden und beherrschten Seelenteilen und gerecht, wenn jeder Teil das seine tut (Michael Erler: Platon, 2007, S. 211).

Dikaiosyne ist also primär nicht ein Verhältnis zu anderen, sondern zu sich selbst. Die auf der Einheit beruhende harmonische Gefügestruktur zwischen den einzelnen Teilen begründet die Nützlichkeit des einen Teils für die anderen Teile. Gerechtigkeit wird damit zur geordneten „Einheit“ in der „Vielheit“ der drei Seelenteile. „Die Tauglichkeit eines Seienden zu seinem Wesensakt [...] liegt in seiner Einigkeit und Übereinstimmung mit sich selbst; denn was in sich selbst uneins ist, das ist zu seiner eigentümlichen Leistung nicht imstande“ (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 237). Die Auflösung der harmonischen Ordnung der drei Seelenteile führt zu Ungerechtigkeit und Selbstzerstörung. Eine ungerechte Seele ist krank und kann deshalb nicht glücklich sein. Jeder weltliche Erfolg, der mit Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit erkauft wird, macht den Menschen unglücklich und bindet ihn an das irdische Leben (Erler, a.a.O., S. 237). Spezifische Übel der Seele sind Ungerechtigkeit, Maßlosigkeit, Feigheit und Unwissenheit (Erler, a.a.O., S. 381).

In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit zwar, wie es scheint, etwas von der Art, jedoch nicht in bezug auf das äußere Tun seiner Bestandteile, sondern in bezug auf das wahrhaft innerliche, an sich selbst und dem Seinigen, indem einer keinem Teile seines Inneren gestattet, das Fremde zu tun, noch den Seelenteilen erlaubt, unter einander zwecklose Geschäftigkeit zu treiben, vielmehr in der Tat sein Haus wohl bestellt und die Herrschaft über sich selbst gewonnen und sich in Ordnung gebracht hat und sein eigener Freund geworden ist und jene drei in vollständigen Einklang gebracht hat, gleichsam die drei Hauptsaiten eines Instrumentes, den Grundton, die Terz und die Quinte, und die andern, die etwa noch dazwischen liegen, diese alle unter einander verknüpft hat und vollständig Einer geworden ist aus Vielen, besonnen und rein gestimmt, und alsdann nunmehr in solcher Weise handelt, falls er handelt entweder in bezug auf Erwerb von Besitztümern oder die Pflege des Leibes oder auch in einer Angelegenheit des Staates oder des persönlichen Verkehrs, indem er in allen diesen Verhältnissen als gerechte und schöne Handlung diejenige betrachtet und bezeichnet, welche diesen Zustand bewahrt und mitbewirkt, und als Weisheit die Wissenschaft, die dieses Handeln leitet, und als ungerecht ein Handeln, das im einzelnen Falle jenen stört, und als Torheit die Meinung, die ihrerseits dieses Handeln leitet. (Platon, Politeia 443c - 444a)

 

Seelenlehre mit den drei Seelenteilen als Wagenlenker und Rosse (Mythos vom Seelenwagen)

 Seelenlehre mit den drei Seelenteilen als Wagenlenker und Rosse (Mythos vom Seelenwagen)

 

Der Mythos vom Seelenwagen

Dass die lenkende Tätigkeit des Logistikon gar nicht so einfach ist, zeigt Platon im Bild des Wagenlenkers und seiner beiden Rosse, das er im Dialog Phaidros zeichnet. Das Gespann ist ein Gleichnis für die Seele. Der Wagenlenker und die beiden ungleichen Rosse veranschaulichen die drei Seelenteile und ihr Verhältnis zueinander. Es geht in erster Linie darum, das ungestüme Ross zu bändigen. Der Wagenlenker stellt das Logistikon dar, das edle Ross das Thymoeides und das ungestüme Ross das Epithymetikon:

Wie ich im Anfang dieses Mythos jede Seele dreifach geteilt habe, nämlich in zwei rosseähnliche Gestalten und eine dritte, den Wagenlenker darstellende, so soll es uns auch jetzt noch dabei bleiben. Von den Rossen aber ist ja, sagen wir, das eine gut, das andere nicht, worin aber die Tugend des guten und die Schlechtigkeit des schlechten bestehe, das haben wir nicht erörtert, ist aber nun zu besprechen. Das nun von den beiden, welches von schönerer Beschaffenheit ist, ist seiner Gestalt nach aufrecht gebaut und gut gegliedert, hat hohen Nacken, gebogene Nase, weiße Farbe, schwarze Augen, vereinigt Ehrliebe mit Besonnenheit und Schamhaftigkeit, und als ein Freund wahrer Denkweise wird es ohne Schläge nur durch Aufmunterung und Worte gelenkt. Das andere dagegen ist gebeugt, plump und schlecht gebaut, von dickem Nacken, kurzem Hals, stumpfer Nase, schwarzer Farbe, mit Blut unterlaufenen glasigen Augen, ein Freund von Trotz und Anmaßung, um die Ohren zottig, taub, kaum der Peitsche und dem Stachel gehorsam. Wenn nun der Wagenlenker, indem er das geliebte Antlitz sieht, durch die ganze Seele bei der Wahrnehmung erglühend, von Kitzel und Sehnsucht gestachelt wird, so hält das dem Wagenlenker gern folgende Roß, wie immer so auch jetzt, von Scham bewältigt, selbst an sich, nicht auf den Geliebten loszuspringen, das andere aber kehrt sich nicht weder an Stachel noch Peitsche des Wagenlenkers, sondern springend treibt es mit Gewalt fort, und dem Mitgespann und dem Wagenlenker alle mögliche Not bereitend, zwingt es sie, zu dem Liebling zu gehen und gegen ihn der Vergünstigung aphrodisischer Gefälligkeit Erwähnung zu tun. Anfangs indessen leisten beide voll Unwillen Widerstand, als sollten sie zu etwas Argem und Gesetzwidrigem genötigt werden, endlich aber, wenn des Übels kein Ende ist, gehen sie fortgezogen hin, nachgebend und versprechend, sie wollten das Verlangte tun. Nun sind sie bei ihm, nun sehen sie das strahlende Angesicht des Lieblings. Indem es aber der Wagenlenker sieht, wird seine Erinnerung zu dem Wesen der Schönheit fortgeführt, und wieder sieht er sie mit der Besonnenheit vereint auf unentweihtem Grunde stehen. Bei diesem Anblick aber erbebt er und beugt sich zurück, von Verehrung erfüllt, und zugleich wird er genötigt, die Zügel so stark nach hinten anzuziehen, daß er beide Rosse auf die Hüften setzt, das eine gutwillig, weil es nicht Widerstand leistet, das trotzige aber höchst widerwillig. Indem sie nun beide weiter zurückgehen, gerät das eine so sehr in Beschämung und Entsetzen, daß es die ganze Seele mit Schweiß benetzt, das andere aber, sobald es den Schmerz los ist, den es von dem Zaum und dem Sturz bekommen, hat kaum wieder Atem geschöpft, so beginnt es voll Zorn zu schmähen und den Wagenlenker und seinen Mitgespann auf alle Weise schlecht zu machen, als wären sie aus Feigheit von ihrer Stellung und ihrem Versprechen gewichen. Und wiederum sie drängend, gegen ihren Willen hinzugehen, gibt es ihnen kaum nach, wenn sie bitten, es auf ein anderes Mal zu verschieben. Ist aber die verabredete Zeit gekommen, so mahnt es die beiden, die sich stellen, als dächten sie nicht mehr daran, wendet alle Gewalt an, wiehert, zieht sie fort und nötigt sie, mit der nämlichen Absicht zu dem Liebling zu kommen, und wenn sie ihm nahe sind, so zieht es, sich vorwärts beugend, den Schweif emporstreckend und in den Zaum beißend, schamlos weiter. Der Wagenlenker aber, in noch stärkerem Grade von dem vorigen Gemütszustand ergriffen, wie einer, der von den Schranken auslaufend sich rückwärts beugt, zerrt den Zaum des trotzigen Rosses mit noch stärkerer Gewalt aus dem Gebiß nach hinten, strengt ihm die schmähsüchtige Zunge und die Backen an bis aufs Blut und bereitet ihm arge Schmerzen, indem er ihm Schenkel und Hüften zur Erde niederzwingt. Wenn aber das schlimme Roß dieselbe Behandlung öfters erfährt und von seiner trotzigen Wildheit läßt, so folgt es gedemütigt schon der vernünftigen Leitung des Wagenlenkers, und wenn es den Schönen sieht, vergeht es vor Furcht. Und so kommt es, daß die Seele des Liebhabers nun dem Liebling verschämt und verschüchtert folgt. (Platon, Phaidros 253c ff.)

 

William Blake: Cerberus [griech. Kerberos], zwischen 1824 und 1827, Graphit, Tinte und Aquarell auf Papier

 

Das Bild vom Seelentier

Im neunten Buch der Politeia (588c bis 592b) beschreibt Platon die dreigliedrige Grundstruktur der Seele in einem düsteren Bild. Die schon aus dem vierten Buch bekannte Struktur Logistikon-Epithymetikon-Thymoeides begegnet uns hier in der Dreiteilung von

  • einem inneren Menschen des Menschen (tou anthrôpou entos anthrôpos, 589a; Vernunftvermögen, Rationalität),
  • einem Löwenanteil (Mut, Zorn) und
  • einem vielköpfigen Ungeheuer (animalische Triebhaftigkeit, Begierde).

Eine ständige Gefahr für die harmonische Ordnung der Seele ist das vielköpfige Ungeheuer der Begierde, das den ganzen unteren Seelenteil durchdringt. Wenn man dieses Monster mästet, so wird es immer stärker und erlangt die Kontrolle über die Seele. Es herrschen dann die animalischen Triebe und die Leidenschaften über die Vernunft. Der innere Mensch verliert die Selbstherrschaft, die Seele wird nicht mehr durch vernünftige Einsicht gelenkt. Diesen untersten Seelenteil nennt Platon ganz und gar gottlos und verrucht (Platon, Politeia 589e). Deshalb kommt es darauf an, ihn zu bändigen und durch eine Stärkung des Vernunftvermögens die Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung und Kontrolle über die Begierden zu entwickeln. Das Ziel dieser innerseelischen Disziplinierung und Integration von Vernunft, Mut und Begierde ist die harmonische Ordnung einer gerechten Seele. Gerechtigkeit stellt sich ein, wenn die Vernunft über die Leidenschaften und die Triebe herrscht (vgl. Wolfgang Kersting: Platons Staat, 2. Aufl. 2006, S. 302).

Stell dir ein Wesen vor, wie es solche der Fabel nach seit jeher gab, wie die Chimära, die Skylla, den Kerberos, und wie noch von vielen anderen erzählt wird, daß bei ihnen vielerlei Tiergestalten in eine einzige verwachsen gewesen seien. [...] So schaffe dir denn zuerst einmal die Gestalt eines vielfach zusammengesetzten und vielköpfigen Ungeheuers, das rundum Köpfe von teils zahmen, teils wilden Tieren hat und dabei imstande ist, sich in alle diese Tiere zu verwandeln und auch alle diese Tiere aus sich heraus zu erzeugen. [...] So schaffe dir denn zweitens die Gestalt eines Löwen, drittens eine Menschengestalt; denke dir dabei die Gestalt des Ungeheuers bei weitem als die größte, die Löwengestalt als die zweitgrößte. [...] Diese drei Geschöpfe verbinde nun zu einem einzigen, so daß sie fest miteinander verwachsen sind. [...] Nun umhülle sie mit der Gestalt eines Einzelwesens, nämlich mit der eines Menschen, so daß es dem, der nicht in das Innere zu schauen imstande ist, sondern bloß auf die äußere Umhüllung sieht, nur wie ein einziges Geschöpf erscheint, nämlich als ein Mensch. [...] So lasse uns denn dem, der behauptet, diesem Menschen sei eigensüchtiges Unrechttun vorteilhaft und gerechtes Handeln nicht nützlich, den Hinweis geben, daß er hiermit nichts anderes sage, als es nütze demselben, wenn er durch Schwelgerei das vielgestaltige Ungeheuer sowie den Löwen und das, was zum Löwen gehört, stark machte,  wenn er dagegen den inneren Menschen durch Hunger abzehrte und entkräftete, so daß dieser sich von einem der beiden müßte hinschleppen lassen, wohin es ihn eben haben wollte, während er nichts tue, um das eine an den anderen zu gewöhnen und mit ihm befreundet zu machen, sondern sie einander sich zerbeißen, bekämpfen und auffressen ließe. [...] Und nicht wahr, wer andererseits behauptet, gerechte Handlungen seien vorteilhaft, der würde damit sagen, man müsse in Tat und Wort sich so betragen, daß dadurch jener innere Mensch in seiner Brust immer kräftiger werden und auf die Zähmung jenes vielköpfigen Ungeheuers seine Sorgfalt verwenden könne, indem er wie ein Ackerbauer die guten Triebe nährt und aufzieht, die wilden am Emporwuchern hindert, sich die Kraft des Löwen dienstbar macht, für die Bildung aller Seelenteile zusammen Sorge trägt, sie untereinander sowohl wie mit sich selbst befreundet und sie in diesem harmonischen Zustand pflegt? [...] Hat das Edle einerseits seine Geltung nicht darum, weil es das Tierische unserer Natur unter die Gewalt des inneren Menschen oder besser noch unter die Gewalt des Göttlichen bringt? Andererseits die Schändlichen, tragen sie ihren Namen nicht darum, weil sie den edlen Teil der Seele in die Sklaverei des Tierischen bringen? [...] Kann es also, fuhr ich fort, nach dieser Erklärung noch jemanden geben, bei dem es als Vorteil gelten könnte, durch Ungerechtigkeit Gold zu erhaschen, wenn er mit dem Gewinne des Goldes zugleich das Edelste seines Selbst in die Knechtschaft des Schlechtesten bringt? [...] Wenn er aber das Göttlichste seines eigenen Selbst erbarmungslos unter das Joch des Ungöttlichsten und Verruchtesten in sich bringt, ist er da nicht unglücklich und bringt er da für Gold nicht ein bei weitem noch grausameres Unheil über sich als Eriphyle, die für das Leben ihres Mannes eine goldene Kette annahm? [...] Und meinst du nicht, daß auch das zügellose Genußleben von alters her aus solchen Gründen als tadelnswert gilt, weil in solchem Lebenswandel jenes böse, große und vielgestaltige Ungeheuer allzu freies Spiel bekommt? [...] Roher Übermut sowohl wie Übellaunigkeit werden getadelt, wenn das löwenartige und bissige Seelenelement übertrieben genährt wird und mit der Vernunft nicht harmonisch gestimmt ist. [...] Üppigkeit und Weichlichkeit werden dagegen getadelt, wenn der löwenartige Seelenteil schlaff und nachgiebig wird und so Feigheit in der Seele hervorbringt? [...] Schmeichelei und Niederträchtigkeit werden getadelt, weil dann jemand den zornmutigen Seelenteil unter die Herrschaft des Ungeheuers bringt und wegen des Geldes und der Begierde diesen von jenem unterdrücken lässt und sich so von Jugend an daran gewöhnt, statt eines Löwen ein Affe zu werden? [...] Handlangerei und Tagelöhnerei, weshalb, meinst du, bringen sie Schimpf und Schande mit sich? Wohl nur deshalb, weil der edelste Seelenteil von Geburt an so schwach ist, daß er damit die wilden Tiere in sich nicht beherrschen kann, sondern ihnen dienen muß und nur die Dienste, die sie fordern, zu lernen vermag? [...] Es ist überhaupt für jeden Menschen das Beste, sich vom Göttlichen und Vernünftigen beherrschen zu lassen, und zwar am allerbesten so, daß er es als Besitz in seiner Seele hat, im anderen Falle aber, daß es als Gebieter von außen ihm vorgesetzt ist, auf daß wir alle insgesamt so viel als möglich gleich und befreundet leben, indem wir uns durch ein und dasselbe lenken und leiten lassen (Platon, Politeia IX 588c-590d).

 

Wiedergeburt

Platon vertritt die Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, indem er für sie sowohl eine Präexistenz, aus der gefolgert wird, dass das Wissen Erinnerung (anamnêsis) ist, als auch eine Postexistenz mit Wanderung durch verschiedene Leiber und Versetzung in den Fixsternhimmel annimmt. Der Leib ist das Gefängnis und das Grab der Seele. Die Bindung der Seele an den Körper erklärt sich daraus, dass die niederen Seelenteile die höheren überwiegen. Durch Wiedergeburten wird sie geläutert und kann sich schließlich mit dem Göttlichen vereinigen. Im Phaidros schildert Platon den „Mythos vom Überhimmlischen“, um die Ideen als Gehalte des apriorischen Denkens in der Seele zu verdeutlichen. Vor der Geburt des Menschen und damit vor dem Absinken in den Bereich des Körperlichen existiert die Seele an einem überhimmlischen Ort, der den Bereich des sinnlich wahrnehmbaren Physischen transzendiert. Wie es der Seele nach dem Tod ergeht, richtet sich nach dem Verhalten des Menschen. Die Einzelseele existiert nach dem Tod getrennt von einem bestimmten Körper weiter. Nach einem Mythos des platonischen Sokrates erwartet die Seelen in der Unterwelt ein Gericht. Die Einzelseelen, die sich am Materiellen orientiert hatten, werden in dem Körper eines solchen Wesens wiedergeboren, das Abbild ihres Lasters ist. Dagegen streben die Seelen, die sich am Ideellen orientiert hatten, zu einer Vereinigung mit dem Göttlichen. Die These von der Unsterblichkeit ist nach dem platonischen Sokrates nötig, um die Menschen zu Vernunft und Sitttlichkeit anzuhalten.

Jede Seele ist unsterblich, denn das stets Bewegte ist unsterblich. Was aber ein anderes bewegt und von einem anderen bewegt wird, das hat, sofern es ein Aufhören der Bewegung hat, auch ein Aufhören des Lebens. Das sich selbst Bewegende allein also, sofern es nie sich selbst verlässt, hört nie auf, bewegt zu sein, aber auch für das andere, was bewegt wird, ist dieses Quelle und Anfang der Bewegung. Der Anfang aber ist nicht geworden. Denn alles Werdende wird notwendig aus dem Anfang, er selbst aber schlechthin nicht aus einem Etwas, denn wenn der Anfang aus einem Etwas würde, so würde er ja nicht zum Anfang werden. Da er aber nicht geworden ist, ist er auch notwendig  nicht vergänglich. Denn wenn der Anfang untergegangen wäre, so könnte ja weder er selbst jemals aus Etwas, noch anderes aus ihm werden, da ja alles aus dem Anfang werden muss. So ist also der Bewegung Anfang das sich selbst Bewegende. Dieses aber kann weder untergehen noch erst werden, sonst würde der ganze Himmel und alles Werden zusammenfallen und stille stehen und nichts mehr vorhanden sein, woraus Bewegtes werden könnte. Hat man aber gesagt, dass das von sich selbst Bewegte unsterblich sei, so darf sich einer auch nicht schämen, es auszusprechen, dass eben dieses das Wesen und die Natur der Seele sei. Denn jeder Körper, dem das Bewegtwerden von außen zuteil wird, ist unbeseelt, der aber, dem es von innen aus sich selbst zuteil wird, ist beseelt, wie denn dieses die Natur der Seele ist. (Platon, Phaidros 245c-e).

 

Arete als Bestform der Seele

Der Begriff Arete

Der Begriff  Arete bezeichnete ursprünglich die Eigenschaft, wodurch eine Sache, ein Tier, ein Mensch oder ein Gott hervorragt. Die Bedeutung des Wortes bestimmt sich durch seine Funktion als abstraktes Nomen zum logisch attributiv verwandten agathos, was gut bedeutet (Peter Stemmer: Tugend, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, S. 1532). Es handelt sich um die Tüchtigkeit und Tauglichkeit im Sinne eines Qualitätsmerkmals (Otto Friedrich Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden, 1975, S. 12). Im Gegensatz zum deutschen Begriff der Tugend können auch Dinge Arete haben. Beispiele für Arete sind demnach auch die Schnelligkeit eines Pferdes oder die Schärfe eines Messers. Die Arete eines jeden Dinges besteht in dem, wodurch es seine je eigene Aufgabe erfüllt. Das Wort meint damit zunächst jede Vortrefflichkeit. Auf den Menschen bezogen ist Arete die Vollendung seines wahren Wesens, die Vollkommenheit seines Körpers bei gleichzeitiger „Bestform“ seiner Seele.

Die Etymologie des Wortes Arete ist bislang ungeklärt (Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, 1960). Vermutlich ist Arete sprachlich entweder von areskein abgeleitet, was gefallen bedeutet (Werner Jaeger: Paideia, 1989, S. 26),  oder aber es besteht eine Verbindung zu areíōn, dem Komparativ von agathós, d.h. gut (Eduard Schwyzer: Griechische Grammatik, Band 1, 5. Auflage, 1977, S. 501). Der Begriff umfasst das, was objektiv allgemeines Gefallen hervorruft (Karl Kerényi: Der Mythos der Arete, in: ders. Antike Religion, 1971, S. 244). Der Ursprung des Wortes Arete wurzelt in den Grundanschauungen des ritterlichen Adels im Athen der Antike, da die überragende Leistungsfähigkeit als notwendige Voraussetzung für die Ausübung von Herrschaft verstanden wurde (Werner Jaeger, a.a.O., S. 25 f.). Zur Arete eines Helden zählten beispielsweise praktische Klugheit, Stärke, Tapferkeit, Streben nach Ruhm und kriegerischer Erfolg, der letztlich auf dem unbedingten Willen beruhte, besser als die anderen sein zu wollen und Entbehrungen, Schmerzen und Strapazen auf sich zu nehmen. Bei Homer bezeichnet der Begriff auch die Vorzüglichkeit nichtmenschlicher Wesen wie die Schnelligkeit der Pferde oder die Kraft der Götter. Die Sehkraft ist die Arete des Auges. Auffassungsgabe und Klugheit sind Arete des Geistes, Schönheit, Gesundheit und Stärke sind Arete des Körpers. Arete ist demnach ein dem Träger innewohnendes Vermögen, das seine Vollkommenheit ausmacht (Werner Jaeger, a.a.O., S. 27). Arete zu haben galt als ein Mittel zum Glück, als eine Bedingung des Glücks oder gar als das Ganze des Glücks (Peter Stemmer, a.a.O., S. 1533).

Arete ist also die Wesenhaftigkeit und wahre Seiendheit einer jeden Sache. Das Wesen eines Dinges erfüllt sich in seiner spezifischen Wirksamkeit, zweckgerichteten Brauchbarkeit, gefügehaften Ordnung, dauerhaften Gestalt und Erkennbarkeit. Jeder Mensch und jeder Gegenstand haben eine fest bestimmte, spezifische Leistungsfähigkeit. Jeder soll nur eines tun, damit er Einer ist. Diese Fähigkeit zu der eigentümlichen Leistung macht sein eigentliches Wesen aus und ist deshalb unveräußerlich. „Das Auge sieht, das Ohr hört, und beide gehen darin auf. Ohne dies wären sie nicht mehr Auge und Ohr“ (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 51). Alle Arete in der empirischen Welt des Werdens und Vergehens steht dem Urbild, dem reinen Sein, das seinerseits die ewige Ordnung aller Dinge ist, gegenüber. Von ihm empfängt sie ihre ontologische Legitimation (Krämer, a.a.O., S. 144).

 

Sittliche Arete bei Sokrates

Sittliche Arete ist die Vollendung dessen, was der Mensch nach seinem wahren Wesen wirklich ist. Die Vollkommenheit des Menschen liegt vor allem in der Schönheit seiner Seele (kalokagathia als Einheit von Schönem, Gutem und Wahrem). Es geht darum, das Schöne sich selbst zu eigen zu machen. In der Ethik bezeichnet Arete deshalb das sittlich Werthafte. Zur sittlichen Arete gehören die besonderen Eigenschaften der Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit und Besonnenheit. Sokrates hat den Begriff in der philosophischen Ethik in einer ähnlichen Bedeutung wie Tugend verwendet. Nach Sokrates liegt die Arete in der guten Verfassung der Seele, nicht in der des Körpers. Er vertraute insoweit auf das Wissen: Die sittliche Arete ist lehrbar. Wer das Gute wahrhaft erkannt hat, der handelt auch danach. Niemand verhält sich wissentlich schlecht, da es gegen seine Glückseligkeit wäre. Arete macht glücklich. Die Untersuchungen des Sokrates kreisten deshalb meist um Fragen der Ethik: Was ist Frömmigkeit? Was ist Selbstbeherrschung? Was ist Besonnenheit? Was ist Tapferkeit? Was ist Gerechtigkeit? Diese Aretai verstand Sokrates als Vortrefflichkeiten der Seele, so wie Kraft, Gesundheit und Schönheit Tugenden des Körpers sind. Im Guten erkannte Sokrates das wahrhaft Nützliche, Heilsame und Glückbringende, weil es die Natur des Menschen zur Erfüllung seines Wesens führt. Das Ethische ist der Ausdruck der richtig verstandenen menschlichen Natur. Frei ist der Mensch nur, wenn er nicht der Sklave seiner Begierden ist (Xenophon, Memorabilien I 5, 5-6; IV 5, 2-5)

Und ich für meinen Teil glaube, dass noch nie dem Staat etwas Besseres widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Denn nichts anders tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen mehr zu sorgen als für die Seele, damit diese aufs Beste gedeihe. Und ich sage euch, dass nicht aus dem Reichtum die Arete entsteht, sondern aus der Arete der Reichtum und alle anderen guten Dinge für den Menschen insgesamt, individuelle und gemeinschaftliche. (Platon, Apologie des Sokrates, 30a-b)

Es gibt starke Menschen, die sich nicht an Gesetze halten. Deren Lebensführung zielt darauf ab, hemmungslos alle Begierden zu befriedigen. Für sie zählt das Recht des Stärkeren. Die gesellschaftlichen Normen betrachten sie als eine Verschwörung der Schwachen gegen die starken und eine Verkrümmung der Natur (Michael Erler: Platon, 2007, S. 136). Solche Menschen sind wie Nichteingeweihte im Hades, die Wasser in einem Sieb tragen und es in ein löchriges Fass schütten müssen (Platon, Gorgias 492d- 495b). Das lustorientierte Leben bleibt letztlich fruchtlos. Das Ziel des Lebens ist nicht die Maßlosigkeit, sondern die Besonnenheit. Ordnung verleiht den Dingen Arete und Brauchbarkeit. Dies gilt auch für die Struktur der Seele. Der Ordnungscharakter der Arete manifestiert sich seelisch in Besonnenheit und Gerechtigkeit/Rechtschaffenheit (dikaiosyne, vgl. Platon, Gorgias 504d; Erler, a.a.O., S. 136). Wer über Selbstkontrolle verfügt, ist fromm, gerecht und tapfer. Tapferkeit ist eine Beharrlichkeit der Seele, die von dem Wissen um das Gute und das Schlechte geleitet wird und davon, was zu fürchten ist und was nicht zu fürchten ist. Dem guten Menschen geht es gut und er ist glücklich (Platon, Gorgias 507a-c; Erler, a.a.O., S. 141, 155).

 

Die Seelenteile und die Idee

Die gestaltgebende Idee wirkt nur durch eine Seele, die den Ideenkosmos in sich aufnimmt und nachahmt. Die Seele ist das Zwischenglied zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Erscheinungen. Durch das Einwirken der Idee auf die Seele und der Seele auf den Körper wird Gutes und Beständiges erzeugt. Dies bedeutet zugleich, dass das betreffende Wesen „seiend“ wird und also im ontologischen Sinn „entsteht“, während es umgekehrt durch den Verlust der Verbindung mit der Idee schlecht und unbeständig wird und dem Nichtsein anheimfällt, also „vergeht“ (Gaiser, a.a.O., S. 65-66). Wenn die Seele eines Lebewesens die Idee nicht mehr nachahmt, löst sich der Organismus auf und ist dann nur noch von der defizitäreren Seinsart der stofflichen Dinge, die an sich keine Idee haben (Gaiser, a.a.O., S. 105).
 
Der mutartige Seelenteil ist ambivalent, denn die Spannung zwischen den Gegensätzen vereinigt das Mittlere in sich. Der mutartige Teil muss dem vernünftig denkenden Teil beistehen gegen den triebhaft begehrenden Teil. Denn nur so ist die Wirkung der Idee auf die Seele gewährleistet. „Die Arete des ganzen Lebewesens hängt demnach davon ab, ob in der Seele die Formkraft der höheren Dimension (Peras) oder der Einfluss der untergeordneten Tendenzen (Apeiron) dominiert. [...] Die Symmetrie von Körper und Seele, auf der die Arete beruht, ist dann vorhanden, wenn das Ganze so von der Idee her durch vernünftige Erkenntnis gestaltet wird, dass nichts zu groß und nichts zu klein ist. Das vernünftige Denken gilt dabei als das Göttliche im Menschen. Es versichert sich seiner Zugehörigkeit zum höheren Seinsbereich, indem es die Harmonien und regelmäßigen Umschwünge des göttlichen Kosmos in sich aufnimmt. Die übrigen Seelenteile müssen sich nach ihm richten und mit ihm übereinstimmen, was eben dadurch geschieht, dass das Denken formend auf das Ganze einwirkt und es soweit möglich an der Unsterblichkeit teilhaben lässt“ (Gaiser, a.a.O., S. 63, vgl. Platon: Timaios 70a ff.; 89d ff.).
 

Die Umformung der Seele bei Platon

Für Platon ist Arete die Realisation des Wesens einer Sache und Zustand ihres eigentümlichen, bestimmten Selbstseins, in dem sie zu einer spezifischen Aufgabe, Leistung und einem Werk tauglich ist (Dirk Cürsgen: Tugend, in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 286). Im Zustand der Arete ist ein Seiendes am meisten mit sich selbst identisch. Es ist ganz und gar das, was es ist. Es bedarf keines anderen mehr, um zu sein, was es ist (Platon, Philebos 20d f.; a.a.O. 67a). Es ist ein vollendetes Ganzes und Eines, das seine höchste Seinsmöglichkeit erfüllt. Gutheit bedeutet für Platon die Einheit, die ein Seiendes aus der Zerstreuung in das grenzenlos Viele zu sich selbst bringt. In dieser Einheit erfüllt sich der Seinssinn eines Seienden (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 242 f.). Dies gilt zunächst für alle Gegenstände und Lebewesen. Für den Menschen ist Arete die aktive Nachahmung Gottes, die durch Vernunftanstrengung vollzogen werden kann (Platon, Theaitetos 176b-c). Arete ist sittlich die Tüchtigkeit der Seele zu der ihr eigenen Bestimmung. Sie gliedert sich, je nach den drei Seelenteilen „logistikon“ (Vernunft), „thymoeides“ (das Mutartige, Aggressionstrieb) und „epithymêtikon“ (das Begehrende, Bedürfnis, Begierde), in die vier Kardinaltugenden

  • Weisheit (sophia),
  • Tapferkeit (andreia),
  • Maßhalten bzw. Besonnenheit, Selbstbeherrschung (sôphrosynê) und
  • Gerechtigkeit (dikaiosynê).

Dabei ist Gerechtigkeit die harmonische Ordnung der drei Seelenbereiche und die ausgewogene Realisierung von Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit. Auch die Frömmigkeit (hosiotês) wird von Platon zu den sittlichen Aretai gezählt. Jede Arete existiert selbst als Urbild („Idee“) und ist werthaft und wahrhaft seiend.

 

Raffael: Die Kardinaltugenden (1508 - 1511 n. Chr.), Fresken in der Stanza della Segnatura, Vatikan

 

Um Gutes zu leisten muss die Seele nach Platon wie eine Lyra richtig gestimmt sein. Die drei Seelenbereiche „logistikon“ (Vernunft), „thymoeides“ (das Mutartige, Aggressionstrieb) und „epithymêtikon“ (das Begehrende, Bedürfnis, Begierde) befinden sich dann in einer harmonischen Ordnung. In diesem Sinne ist Arete ein „maßbestimmtes Proportionsgefüge eines komplexen Ganzen, in dem sich die eine Tugend in vielen Gestalten zeigt“ (Dirk Cürsgen, a.a.O., S. 288). Die einzelnen Aretai sind Gebrauchs- und Verwirklichungsformen des Guten, erst durch die Idee des Guten erhalten sie ihren Nutzen. Das Gute als Relationsharmonie zwischen den seinszerstörenden, konträren Extremen ist in seiner Ordnung aber zugleich das Schöne: „Jetzt also entflieht uns wieder das Wesen des Guten in die Natur des Schönen. Denn Abgemessenheit und Verhältnismäßigkeit führt doch überall offenbar zu Schönheit und Tugend“ (Platon, Philebos 64e). Für das Hervorbringen der wahren Arete kommt der höchsten Erkenntnis eine besondere Bedeutung zu: der Erkenntnis des Schönen an sich als des Einen, dem alles übrige Schöne seine Schönheit verdankt. In der Wesensschau des Schönen wird dieses selbst als das Göttlich-Schöne (Platon, Symposion 211e) erkannt, womit sich der Aufstieg des Erkenntniswegs vollendet. Wer das Göttlich-Schöne schaut, der erzeugt wahre Arete. Die Schau des Göttlich-Schönen formt den Erkennenden also selbst um. Die Realisierung von Arete und damit die eigene ethische Vervollkommnung sind mit der höchsten Erkenntnis notwendig verbunden. Ziel ist es, die geistige Natur des Menschen zu realisieren und dem Göttlichen gleich zu werden (Platon, Theaitetos 176a f.). So erreicht der Mensch die Eudaimonie, einen Gesamtzustand des guten, glücklichen und gelingenden Lebens, mit dem innere Harmonie und Ordnung, geistige Ruhe und Klarheit verbunden sind. Mit Eudaimonie (etym. „von gutem Gott geleitet“) ist kein subjektives Wohlbefinden gemeint, sondern ein Erfüllungsglück mit objektiven Kriterien für eine richtige Lebenswahl im Sinne eines möglichst wertvollen Lebens (Michael Erler: Platon, 2007, S. 432).

Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem andern dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von einem zu zweien, und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne... Was also ... sollen wir erst glauben, wenn einer dazu gelangte, jenes Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehn, das nicht erst voll menschlichen Fleisches ist und Farben und anderen sterblichen Flitterkrams, sondern das göttlich Schöne selbst in seiner Einartigkeit zu schauen? Meinst du wohl, daß das ein schlechtes Leben sei, wenn einer dorthin sieht und jenes erblickt und damit umgeht? Oder glaubst du nicht, daß dort allein ihm begegnen kann, indem er schaut, womit man das Schöne schauen muß; nicht Abbilder der Arete (Bestform) zu erzeugen, weil er nämlich auch nicht ein Abbild berührt, sondern Wahres, weil er das Wahre berührt? Wer aber wahre Arete erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden, und wenn irgend einem anderen Menschen, dann gewiß ihm auch, unsterblich zu sein. (Platon, Symposion 211a ff.)

Platon | 427 - 347 v. Chr.