Platon und die Ideenlehre
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Der Erkenntnisweg

von Hans G. Müsse

 

Das dialektische Gespräch

Am Anfang des Erkenntniswegs steht das sokratisch-dialektische Gespräch. Dialektik bedeutet eigentlich „die Kunst der Gesprächsführung“. Der Begriff soll von dem Philosophen Zenon von Elea geprägt worden sein, uns tritt er aber in den Werken Platons zum ersten Mal entgegen. In Platons früher Philosophie bedeutet Dialektik zunächst einfach eine bestimmte Form der Gesprächsführung, bekannt als sokratischer Dialog: Zwei Partner unterhalten sich über einen Gegenstand. Ausgangspunkt ist eine Begriffsdefinition des Sprechers A (Proponent). Auf der Grundlage dieser Definition stellt B (Opponent) dann Fragen an A. Die Rollen sind dabei auf charakteristische Weise verteilt: Der Definitionsgeber A antwortet meist auf Fragen seines Opponenten, dieser jedoch (in platonischen Dialogen in aller Regel Sokrates, nach eigenem Bekennen ein „Nicht-Wissender“) stellt daraufhin weitere Fragen. Das Gespräch endet oft in einer Aporie. Die Funktion der Aporie ist es, sich des Nichtwissens bewusst zu werden und weiterzusuchen. Damit ist die Aporie eine für den Erkenntnisprozess notwendige Durchgangsstation (Michael Erler: Platon, 2007, S. 168-169). Der Erkenntnisgewinn durch die dialektische Methode besteht also zunächst darin, nicht haltbare Definitionen als unzulänglich zu entlarven.

Aber letztlich zielt jedes Wissen auf ein Ganzes (holon; Platon Ion, 532c). Dies führt im Ergebnis zu einem Anspruch auf Allkompetenz. Von der Entlarvung des Scheinwissens gelangt Platon in den mittleren Dialogen zu einer Dialektik, die sich mit der Erkenntnis an sich befasst: Die sinnliche Gewißheit, die wahre Meinung und die Verstandeserkenntnis (dianoia) sind ungenügend. Die wahre Erkenntnis lässt sich nicht auf etwas anderes zurückführen, sondern erkennt sich selbst. Die Erkenntnis ist in jeder Erklärung und Definition bereits vorausgesetzt und kann nicht auf etwas Zugrundeliegenderes zurückgeführt werden. Diese höchste Vernunfterkenntnis (noesis) kann nicht diskursiv mit dem Verstand, sondern nur intuitiv erkannt werden. Vom Nichtvoraussetzungshaften soll alles ohne Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung nur mit Hilfe der Ideen begründet werden. Die dialektische Methode wird so zum Programm einer Letztbegründung, die zu einem wahren Anfang und obersten Prinzip führen soll, das nicht auf eine übergeordnete Ursache weiter zurückgeführt werden kann. Im VII. Brief betont Platon, dass nur derjenige zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen kann, der sich lange Zeit in dialektischen Gesprächen übt. „Beim elenktischen Fragen und Antworten, dihairetischen Einteilen und synoptischen Zusammenführen müssen immer mehr Sachbereiche einbezogen, immer höhere Begründungsebenen erstiegen, immer stärkere Kräfte der Kommunikation in der Seele des Einzelnen entwickelt werden, bevor es zur eigentlichen Vergewisserung und Einsicht kommen kann“ (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 583).

 

Erkennen als Wiedererinnern

Nach der pythagoreisch-orphischen Lehre ist die Seele unsterblich. Sie hat schon viele Leben gelebt und alles schon gesehen. Weil alle Dinge miteinander verwandt sind, führt die Erinnerung an eine Sache zum Wiederfinden auch von allen anderen. Wissen lässt sich also reaktivieren, ist Erinnerung und dementsprechend ist Lernen Wiederentdeckung. Es gibt immer Wahrheit in der Seele, die deshalb unsterblich sein muss (Michael Erler: Platon, 2007, S. 172-173). Etwas zu erkennen bedeutet, die Idee darin zu erkennen. In der Idee zeigt sich das wahrhaft Seiende der geistigen Einsicht als das, was es ist und bedeutet. Maßstab aller Erkenntnis ist deshalb die Ideenschau (Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie, 2000, S. 103). Der Erkenntnisprozess setzt voraus, dass man sich für das öffnet, was man eigentlich schon in sich trägt. Wissen ist für Platon nicht Abstraktion, gewonnen aus Erfahrung und Überlegung, wie es sein Schüler Aristoteles annimmt. Für Platon ist die Erkenntnis, dass zwei Gegenstände oder zwei Zahlensummen gleich groß sind, nur dadurch möglich, dass sowohl die Erkennenden als auch die wahrgenommenen Gegenstände an der Idee des Gleichen teilhaben. Die Erkenntnis kommt nach Platon dadurch zustande, dass wir ein vorgeburtliches Wissen apriorisch in unserer Seele besitzen, an das wir uns erinnern (anamnesis). Der Nichtwissende hat selbst von dem, was er nicht weiß, demnach richtige unbewußte Vorstellungen, die angeregt durch Fragen zu Erkenntnissen werden können. Wenn Platon davon spricht, dass die Seele bereits vor ihrer Geburt an einem anderen Ort das geschaut hat, was aktuell in einem Prozess der Erkenntnis geboren wird, so verweist er damit auf das Reich der Ideen. Der Mensch ist gehalten, konzeptionell zu denken. Er muss also vielfache Wahrnehmung gedanklich zusammenfassen. Dies vermag er infolge einer Wiedererinnerung an jene Ideen, welche die Seele im Gefolge Gottes gesehen hat (Erler, a.a.O. S. 222). Platon beschreibt so das Wesen der theoretischen Leistung: Das Erfassen der Idee setzt ein Übersteigen der raum-zeitlichen Wirklichkeit voraus und ist ein Akt geistigen Schauens (Matthias Baltes: Idee (Ideenlehre), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 17, 1996, Sp. 218).

Ohne Ideen gibt es kein Wissen, keine Erklärung der Wirklichkeit und kein begründbares moralisches oder politisches Handeln. Die Ideen sind gegenüber den Gegenständen der Erfahrung ontologisch vorrangig und bedürfen der ihnen untergeordneten Entitäten nicht, wohingegen diese ohne die Ideen nicht existieren können. Da Wahrnehmung eine bestimmte Stabilität erfordert, wäre Erkenntnis in der Welt unmöglich, wenn die Objekte der Wahrnehmung nicht an den unwandelbaren intelligiblen Formen Anteil hätten, die eben diese Stabilität verleihen (Erler, a.a.O., S. 391, 395). Die geistige Erkenntnis (noesis) richtet sich auf diese sinnlich nicht wahrnehmbaren Gegenstände und erfasst sie in einem einmaligen Akt. Es geht um die in einem Blick vollzogene Einsicht in die volle Wahrheit.

Platons Ideal der Erkenntnis (Theoria) ist verbunden mit der Forderung nach einer Überwindung der Welt der Phänomene, nach Reinigung und Aufstieg der Seele und nach einer Annäherung an das Göttliche. Erkenntnis setzt nämlich Verwandtschaft des Erkenntnissubjektes mit dem Erkenntnisobjekt, aber auch eine philosophische Disposition voraus, welche eine Abkehr der Seele von der als illusionär empfundenen Welt des Werdens und ihre Umkehr hin zur Sonne der Wahrheit ermöglicht. Wenn sich Streben nach Erkenntnis an Ordnungsstrukturen hinter den Phänomenen orientiert, sorgt es für Ordnung in der Seele und für die Grundlage ethischen Verhaltens. Streben nach Erkenntnis und Wahrheit wird zu einer Lebensform (Michael Erler: Platon, 2007, S. 354).
 

Die Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge

Für die Erkenntnis des wahren Seins des Seienden ist ein Zusammenwirken von Ideenschau und Dialektik erforderlich, ein Zusammenspiel des intuitiven und des diskursiven Moments (Gernot Böhme, a.a.O., S. 108). Platon geht es bei der Erkenntnis um das wahre Sein der Dinge, um ihr eigentliches Wesen. Die zwei Seiten des Seins sind das nicht sinnlich wahrnehmbare Wesenhafte und die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit. Die Seele strebt nicht nach der sinnlichen Beschaffenheit, sondern nach dem Wesenhaften. Bei jedem der Dinge kommt die vollständige geistige Erkenntnis nach Platon in fünf Schritten zustande:

  • Onoma (ὄνομα), das Wort, der Name als ein Mittel, mit dem man das Wesen eines Dinges mitteilen kann. 
  • Logos (λóγος), die Definition, Aussage; die sprachlich ausgedrückte Begriffsbestimmung, z.B. „der Kreis ist das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte“. Zum Logos gehören auch die Bestandteile, aus denen etwas besteht, und die spezifische Differenz, wodurch sich der Gegenstand von allen anderen unterscheidet, der Zusammenhang und die Verhältnisse zu anderen Gegenständen, die Verflechtung.
  • Eidolon (εἴδωλον), das nachahmende Abbild, Nachbildung, die Gestalt; die sinnenhafte Erscheinung, das durch die fünf Sinne Wahrnehmbare, das Bild, z.B. vom Zeichner oder vom Drechsler angefertigt.
  • Episteme (ἐπιστήμη), die Kenntnis, Verstehen, dianoetisches Wissen, Wissenschaft; Begreifen durch den vernünftig denkenden Geist, kognitive Vorstellung von solchen Dingen. Die dialektisch-diskursive Weise des Erkennens bleibt im Bereich des Logos stehen. Die dialektische Bestimmung durch den Logos repräsentiert eine Wesenheit hinreichend. Diese ist der diskursiven sprachlichen Formulierung und Vermittlung gemeinhin zugänglich (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 28).
  • das, was Erkenntnisgegenstand selbst und das wahrhaft Seiende ist (ὃ δὴ γνωστóν τε καὶ ἀληθῶς ἐστιν ὄν). Dasjenige, was sich erst durch Vertiefung in der Vernunft durch Einsicht (nous) erkennen lässt und das wahre Urbild, die Idee/Form (idea, eidos) des Dinges ist (ideelle oder intelligible Realität oder Wesenheit; reine, nicht sinnliche Wahrheit; das ursprünglich vollkommen Wesenhafte). Die noetische Weise des Erkennens erfasst in einem Akt innerer Schau das Wesen der Sache selbst und kann darum im Sinne des platonischen Apriorismus nicht äußerlich übertragen werden (Krämer, a.a.O., S. 28). Der Mensch berührt mit seiner Vernunftseele die Idee, die selbst Leben und Seele hat. Die Vernunftseele ist mit der Idee zusammen. Die Vernunftseele nähert sich und vermischt sich mit dem wahrhaft Seienden, so dass Erkennendes und Erkanntes in der erotischen Vereinigung von Vernunftseele und Idee eins werden (vgl. Platon, Siebter Brief 342b-d; Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 364; zur Bedeutung der Erotik in diesem Sinne siehe unten).

Damit die höchste Stufe der Erkenntnis erreicht werden kann, müssen die ersten vier Schritte immer wieder durchgegangen werden, hinauf und hinunter, wobei sie aneinander gerieben, also miteinander kombiniert oder gegeneinander ausgespielt werden müssen. Diese dialektischen Bemühungen erfolgen in Form von Fragen und Antworten (Szlezák, a.a.O., S. 187). Erkenntnis setzt einen freien und ruhigen Geist voraus. Die Annäherung an das wahre Wesen der Dinge soll frei von verfälschenden Leidenschaften erfolgen: „Erst wenn durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf“ (Platon, Siebter Brief 344a-c).

Der seiende Sinn der Idee und der jegliche Idee begründende Sinn der Idee des Guten selbst vermag dem Denken nur deshalb evident zu werden, d.h. einzuleuchten, weil er selbst in sich licht und daher dem Akt des Denkens unverborgen (ἀλήθεια) ist. Denken oder Erkennen ist dabei gefaßt als Vernehmen des in sich gelichteten Sinnes von Sein durch das «Auge der Seele oder des Geistes». Die Lichtheit der Ideen und ihres Ursprungs ist also der ontologische Grund der Möglichkeit von Erleuchtung. Letztere gelingt dem wahrhaft Begabten (εὖ πεφυκώς, συγγενὴς τοῦ πράγματος) erst dann, wenn in der Weise dialektischen Forschens fünf «Stufen» in eine Einheit gefügt sind: der Name (ὄνομα) des zu erkennenden Seienden, seine Definition (λóγος), seine sinnenfällige, bildhafte Erscheinung (εἴδωλον) vermittelt als viertes die Erkenntnis (ἐπιστήμη) oder den «unverborgenen Sinn», der jedoch noch nicht das von ihm unterschiedene Fünfte erfaßt und behält: das Sein des zu Erkennenden selbst (ὃ δὴ γνωστóν τε καὶ ἀληθῶς ἐστιν ὄν). Durch die vermittelte Einheit der Fünf zeigt sich dem dialektisch Denkenden im philosophischen Gespräch die intelligible Lichtheit (Helligkeit) der «Sache selbst»; der Funke der Einsicht springt: «Aus häufigem Zusammensein über die Sache selbst und aus dem Zusammenleben entzündet sich wie von einem springenden Funken plötzlich Licht, das sich dann in der Seele selbst nährt». Charakteristisch für die so als Erkenntnis erreichte Erleuchtung ist ihre unvermutet einbrechende, augenblickhafte Zeitlosigkeit (ἐξαίφνης). Gleichwohl hat sie nicht den Wesenszug mystischer Erfahrung, da der Erkennende nicht in dem Erkannten zur unlösbaren Einheit mit ihm aufgeht und zudem das zu Erkennende jede Sache als Idee sein kann (Beispiel des Kreises). (Werner Beierwaltes: Erleuchtung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 712)

 

Maßbestimmtheit als wahres Sein des Seienden

Das wahre Sein des Seienden besteht im Werden zum Sein, in einem ständigen Fortschreiten in die ousia, in einer fortwährenden Bewegung hinein in die Maßbestimmtheit. Mit dem dynamischen Aspekt des Seins wird die Kluft (chorismos) zwischen der Welt des Werdens und der Ideenwelt überwunden. Das Werden zum Sein ist in der Welt des Werdens zu beobachten, wenn sinnlich Wahrnehmbares an den Ideen Anteil nehmen möchte (Michael Erler: Platon, 2007, S. 398). Die Ideen/Formen (eide) sind die Maß- und Wasbestimmtheiten. Sie vermitteln dem Seienden die Bestform (arete) und damit sein wahres Sein. Sie haben „eine übernatürliche Herkunft, eben aus der im Seienden waltenden dynamis [Macht, Kraft als Vermögen], welche das Ungemäße je und je bindet, so daß das Seiende vor dem Versinken in das Nichtsein des Chaos gerettet bleibt“ (Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Plato. Der Anfang der Metaphysik, 1999, S. 130).

Das Seiende ist seiend infolge der vier Gattungen Unbegrenztes (apeiron), Grenze (peras), Mischung beider (mixis) und Ursache der Mischung (aition). Die Einheit von Unbegrenztem und Grenze macht das Wesen des wahren Seins aus, des Seins überhaupt. Das Unbegrenzte ist ein Kontinuum, das nicht für sich bestehen kann, sondern erst durch eine Grenze dingfest gemacht werden muss: zum Beispiel mehr-weniger, lauter-leiser, wärmer-kälter. Das Kontinuum ist immer im Fluss und bleibt nicht stehen. Erst die begrenzende Zahl bedeutet Stillstand und das Ende des Fließens (Platon, Philebos 24d). Diese Grenze ist eine aktive Kraft. Es handelt sich um bestimmte Größen und Maße, die Zahlen sind für die Entstehung der Harmonie bedeutend. Die harmonische Mischung liegt dort vor, wo das Unbegrenzte durch das rechte Maß in das gute Verhältnis gebracht wird.

Lass uns also zunächst die allgemeine Natur von Hyperbole [Übermaß] und Elleipsis [Mangel] („ὑπερβολὴν καὶ τὴν ἔλλειψιν“) untersuchen… (Platon, Politikos 283c)

Denn [alle Künste] vermeiden das, was größer oder geringer als das maßbestimmte Angemessene ist, nicht etwa weil es ein Nicht-Seiendes wäre, sondern weil es für ihre Tätigkeit verderblich ist. Und nur indem sie auf diese Weise das der Sache inhärente rechte Maß („μέτρον“) bewahren, bewirken sie alles Gute und Schöne. (Platon, Politikos 284a-b)
 
Offenbar gilt es, die Messkunst dem Gesagten gemäß in zwei Teile zu zerlegen, dergestalt, dass wir...
  • dem einen Teil alle diejenigen Künste zuweisen, welche die Zahl, Länge, Tiefe, Breite und Schnelligkeit im Verhältnis zum Gegenteil messen, 
  • dem anderen alle diejenigen Künste, welche die Messung vollziehen im Verhältnis
    • zum Metrion bzw. zum Metron [zu dem der Sache inhärenten rechten Maß („τὸ μέτριον“)];
    • zum Prepon [zum Angemessenen, was als sich ziemend ins Auge sticht; zum Schicklichen, bei dem sich die Teile zueinander wie zum Ganzen wohlgeordnet fügen und jedem das Passende zuteilwird, nämlich die Mitte zwischen zu viel und zu wenig („τὸ πρέπον“)];
    • zum Kairos [zum rechten Ort, zur passenden Stelle und zum rechten Zeitpunkt; zur rechten Gelegenheit und richtigen Anpassung an das Gebot der Stunde; zum im rechten Augenblick Richtigen, den Anforderungen des Moments der Handlung, wann man etwas im richtigen Zeitfenster tun muss („τὸν καιρὸν“)];
    • zum Deon [zum Erforderlichen, Nötigen, Richtigen, zur Schuldigkeit; zum Pflichtgemäßen, was als Ergebnis ethischer Reflexion bindend wirkt („τὸ δέον“)];
    • kurz zu allem, was seinen Sitz hat im Meson [dem Mittleren] zwischen den äußersten Enden/Extremen („μέσον ... τῶν ἐσχάτων“). (Platon, Politikos 284e; siehe auch Christoph Horn, Christof Rapp (Hrsg.): Wörterbuch der antiken Philosophie, 2. Aufl., 2008, S. 280, 368, 227, 100, 274)

Das rechte Maß harmonisiert die betreffenden Gegensätze miteinander. Die Mischung von Unbegrenztem und Grenze begründet die Doppelnatur alles Seienden: In-sich-Bleiben und Aus-sich-Herausgehen. Die Ursache der Mischung ist die kosmische Vernunft (nous), die in das Unbegrenzte eine maßbestimmte Grenze einzieht und dadurch überhaupt erst das Seiende hervorbringt. Der alles anordnende göttliche Nous bestimmt das Maß, die menschliche Vernunft ist dessen bescheidener Ableger (Platon, Philebos 30d-e). Das wahre Sein des Seienden ist demnach ein Mischungswesen. „Die maßbestimmte Bemessenheit ist es, die die rechte Mischung ausmacht. Der Charakter der maßbestimmten Bemessenheit oder der Maßhaftigkeit ermöglicht und bewahrt der Mischung ihr Sein. Was aber besagt diese Maßbestimmtheit? Wo die Bestandteile einer Mischung im Verhältnis des Zuviel und Zuwenig zusammenkommen, verdeckt der eine den anderen. Wo dagegen die Vereinigung durch das Maß bestimmt ist, lassen die beiden einander in das Erscheinen hervortreten. Was aber ohne Verstellung in das Erscheinen hervorgeht, d.h. ganz und gar in die Gegenwart des Erscheinens eintritt, das ist das Schöne. [...] Das Schöne ist das ganz und gar aus sich Hervorscheinende, das nichts versteckt und verborgen hält, das noch freigelegt werden könnte, d.h. es verwehrt jedes weitere Ein- und Vordringen. Es gibt nichts anderes zu sehen als sich selbst, und außerhalb seiner ist nichts weiter zu eröffnen. Indem also das Gute sich in den Hervorgang des Schönen birgt und verbirgt, entzieht es sich wesenhaft jedem unmittelbaren Fassenwollen. Aber das Schöne ist nicht nur das Scheinende und Erscheinende, sondern es erscheint als das, was es ist. Es ist das in seinem Sein Unverborgene, also das Wahre“ (Karl-Heinz Volkmann-Schluck, a.a.O., S. 118 f.). Das Gutsein besteht in der dreifachen Einheit von Maßbestimmtheit, Schönheit und Wahrheit. „Es ist das in Maßbestimmtheit, Schönheit und Wahrheit waltende, das Ungebundene je und je bindende Maß, dessen Walten der Aufgang des Schönen ist, das Erscheinen des Seienden in seinem Sein“ (Volkmann-Schluck, a.a.O., S. 127; zur Bedeutung des Einen für das Maß siehe unten).

 

Hyperbole – Mitte – Elleipsis

Bei Platon ist es nicht so, dass Seiendheit und Wert derart auseinanderfallen, dass ein Ding sein kann und davon unabhängig außerdem gut oder schlecht sein kann. Vielmehr empfängt die Sinnenwelt „die ihr zukommende Seiendheit dadurch, dass die Qualitäten durch Maß und Ordnung, welche Arete sind, vorübergehend befestigt und dadurch für die Abbildung einer Idee tauglich werden. Die richtige Mitte ist jeweils schon die dem einzelnen Seienden zugemessene Seiendheit“ (Krämer, a.a.O., S. 304 - 305). Die Ordnung ist die Urgestalt, das Eidos aller Dinge, die Seinsstruktur schlechthin. „Wenn alle Teile eines zusammengesetzten Gebildes die ihnen zukommende Mittellage zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig einnehmen, ist das ganze Ding in Ordnung und hat seine spezifische Richtigkeit“ (Krämer, a.a.O., S. 322). Das Eidos ist nicht lediglich eine „Stelle“ der Ordnung. Es ist nur durch seine Stelle im Ganzen der Ordnung bestimmt. Deshalb ist das Eidos in gewissem Sinn das Ganze der Ordnung selbst. Ordnung ist aber nur dadurch gegeben, dass das Eins im unbegrenzt Vielen Einheit setzt und es damit seiend, gut, bestimmt und erkennbar macht (Krämer, a.a.O., S. 325, 328).
 
Das Gefüge des reinen Seins der Ideenordnung ist streng organisiert, ihre innere Struktur erschließt sich als zahlenhafte Maßbestimmtheit und Proportion. Die Ordnung der Eide basiert auf der Grundstruktur von Hyperbole (Übermaß), Eins (hen, ison [Gleichheit], meson [Mitte]) und Elleipsis (Mangel). Das Prinzip der Idee ist das „Genaue an sich“ und damit das Eins als Prinzip der Zahl.
 
Alle Zahlen enthalten aber den Logos des Großen und Kleinen, die Zwei das Doppelte und Halbe, die Drei das Dreifache und Drittel, eine unbestimmte Zahl das Vielfache und den soundsovielten Teil (Alexander Met. 56, 21 ff. Hayd.). Alle diese Verhältnisse sind durch das Eins bestimmt, gehen aber auf ein letztes, ganz unbestimmtes Verhältnis des Vielen und Wenigen, des Übertreffenden und Übertroffenen zurück, das als unbegrenzte Zweiheit (aoristos dyas) das Materialprinzip der Zahlenreihe ist und damit für den Ideenkosmos die Funktion des principium individuationis übernimmt. (Krämer, a.a.O., S. 331)
 
Das Eins fixiert die Idee im Kontinuum des Unbegrenzten. Die Idee ist die vollkommene Einheit in der Vielheit, die dauernde Gestalt der Dinge (Krämer, a.a.O., S. 337). Die Idee wird durch das Eins als das richtige mittlere Maß zu einer Grenze sowohl gegen das Zuviel als auch gegen das Zuwenig. Diese Begrenzung zeigt sich bei einer ganzheitlichen Gesamtheit (holon) darin, dass sich ein Teil zum anderen Teil passend fügt, ohne sich ins Maßlose zu verlieren. Das Ganze fußt also auf dem homogenisierend wirkenden mittleren Maß seiner Glieder, das aus dem Eins fließt. Der Philosoph wählt deshalb ein mittleres Leben und hütet sich vor dem Unmäßigen nach beiden Seiten. Denn das Gute als das genaueste Maß ist das präzise ein-artige Mittlere zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Das Gute (agathon) ist somit bestimmt als das Eins (das Eine, hen). Das Eins begründet die Seiendheit, die Erkennbarkeit und das Werthafte. Auch das Schöne ist eine Weise von Ordnung und Proportion und damit eine Form des Eins-seins. In dem für sich bestehenden Mittleren liegt der Grund für das Gutsein des Dings. Das Mittlere ist das maßgebende, absolut gute, ideenhafte Wesen. Die vielen Erscheinungen einer Idee in der Sinnenwelt sind dagegen in den unendlich vielgestaltigen, ungleichmäßigen Figuren zu sehen (Gaiser, a.a.O., S. 79).
 
Die platonische Philosophie bezieht die Wissenschaft auf den Seinsgrund selbst zurück: „Erst nach umfassenden Studien in allen mathematischen und logisch-dialektischen Wissenschaften kann – wie vom Funken entzündetes Licht – die höchste Wachheit, das innere Gespür dafür entfacht werden, dass das „Eine“ und mit ihm das Groß-Kleine die Elemente aller mathematischen und logischen Proportionen, die [archai (Prinzipien)] des räumlichen, mathematischen und ideellen Seins, der Grund von Ordnung und Unordnung, Maß und Unmaß, die Prinzipien der Seinsstruktur und aller ihrer Bezüge und darum die Urgründe alles Seienden im ganzen und im einzelnen sind“ (Krämer, a.a.O., S. 461).

Mesotes von Dr. Hans G. Müsse

 

Eros und Erkenntnis

Auf dem Erkenntnisweg sind die Anziehungskraft und die Faszination der Vollkommenheit von Bedeutung. Das Schöne und das Gute sind nur zwei eng verschwisterte Aspekte derselben Wirklichkeit. Die höchste Arete ist das Schön- und Gutsein: Kalokagathia als Vortrefflichkeit. Die beglückende Erkenntnis des Wahren, Guten, Schönen vollzieht sich stufenweise. Ein wichtiger Helfer dabei ist Eros, dessen Bedeutung die körperliche Sexualität hinter sich läßt und hinausreicht bis hin zur seelisch-geistigen Befruchtung in der Gemeinschaft des besonnenen Dialogs und der so gezeugten Bildung und Arete. „Der Name des Eros steht für die den Bereich des Menschlichen übersteigende Bewegung der Philosophie. [...] Sokrates kann am besten philosophieren, wenn er durch das ganz und gar unsublimierte Schöne eingenommen ist. Das Sokratische Gespräch vollzieht sich nicht nach einmal gelungenem Aufstieg auf jener unsinnlichen Höhe, wo nur noch die Ideen als das Schöne erscheinen; vielmehr vollzieht es in sich immer wieder die Bewegung vom menschlichen zum übermenschlichen Schönen und bindet das übermenschliche Schöne dialogisch ans menschliche zurück“ (Günter Figal: Sokrates, 2006, S. 97 f.). In der Diotima-Rede verliert Eros seinen Status als Gott. Er ist nur noch ein Daimon, ein Zwischenwesen zwischen Gott und Mensch, das zu vermitteln hat zwischen dem Sterblichen und dem Unsterblichen, ohne selbst zu einem der beiden Bereiche zu gehören. Alles Daimonische füllt durch seine Vermittlertätigkeit die Kluft auf, sodass das All mit sich selbst zusammengebunden ist (Szlezák, a.a.O., S. 345 f.).

Der Mensch ist sterblich, ihm fehlt die göttliche Unveränderlichkeit. Der Mensch hat deshalb das Bedürfnis, durch immer neue Schöpfung sich zu erhalten. Der Eros entspringt aus der höheren gottverwandten Natur des Menschen und ist ein Streben, gottähnlich zu werden. Er ist ein Streben nach Besitz, nicht ein Besitz selbst. Der Eros setzt einen Mangel voraus und begehrt die Fülle. Er ist der Sohn der Penia (Armut) und des Poros (Reichtum). Das Ziel dieses Strebens ist der dauernde Besitz des Guten, die Glückseligkeit, die Unsterblichkeit. Der Eros ist also überhaupt das Streben des Endlichen, sich zur Unendlichkeit zu erweitern. Damit der Eros wirken kann, muss sich der Mensch aber seines Mangels überhaupt erst bewusst werden.

Denn das ist eben das arge am Unverstand, dass er ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt. (Platon, Symposion 204b)

Die äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die Gegenwart des Schönen. Der Eros richtet sich stufenweise auf die schöne Gestalt, die schöne Seele, die Wissenschaft und die Idee und strebt nach der Darstellung des absolut Schönen. Dabei ist die Schau des übermenschlichen Schönen nicht mehr an ein einzelnes Sinnesobjekt gebunden. Demnach geht das Erkennen einen Stufenweg: vom sinnlich Wahrgenommenen zur richtigen Meinung (doxa alethes) bzw. zum reinen Gedanken in der Mathematik, vom reinen Gedanken zu den Ideen, von den Ideen zum überseienden, transzendenten Guten, von dem erst die Ideen ihr Sein empfangen.

Keine andere Erfahrung wirkt so beflügelnd auf den Menschen wie die Erfahrung von Schönheit. Platon weist der Idee des Schönen eine Sonderstellung zu. Schönheit umgibt den kosmos noetos, die Welt des Denkens. Schönheit ist auch die einzige Idee, die unmittelbar sinnfällig wird (Platon, Phaidros 250c-d). Die Erfahrung von Schönheit entfacht Liebe/Eros und eröffnet dem Menschen damit einen Zugang zu der Idee selbst. In der Erfahrung von Schönheit manifestiert sich Eros als die in jedem Menschen latente Grundkraft schlechthin. Eros ist ein Drang nach Seinserhellung, der sich in der philosophischen Seele artikuliert (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 167).

 

Anselm Feuerbach: Das Gastmahl des Plato, erste Fassung (1869)

Symposion 416 vor Chr.: Es trifft der betrunkene Alkibiades ein, er ist mit Efeu, Veilchen und Bändern bekränzt. Der Tragödiendichter Agathon in der Bildmitte hatte vor den Augen von 30.000 Hellenen einen Preis errungen, hinter seinem rechten Arm Pausanias, hinter seinem Rücken von links nach rechts: Phaidros als Leiter des Trinkgelages (Symposiarch), liegend der Arzt Eryximachos, sitzend Sokrates, stehend vielleicht der vom Symposion berichtende Aristodemos, sitzend im Gespräch mit Sokrates der Komödiendichter Aristophanes, hinter diesem weitere Sokratesschüler. Platon verfasste den Dialog etwa 380 v. Chr.

 

Der Aufstieg zum Einen

Das absolute Eine

Die Dialoge stellen nicht die gesamte Philosophie Platons dar. Bereits sein Schüler Aristoteles spricht von den „agrapha dogmata“ (ungeschriebenen Lehren) seines Lehrers. Platons ungeschriebene Lehre ist der Teil seines philosophischen Gebäudes, der nicht in den Dialogen veröffentlicht, sondern im mündlichen Unterricht in der Akademie einem beschränkten Schülerkreis vorgetragen wurde. Nach der Überlieferung gehört dazu auch die öffentlich gehaltene Vorlesung „Über das Gute“. Einige Schüler haben in der Vorlesung Mitschriften verfasst, die nur bruchstückhaft überliefert sind, sodass die Inhalte ihrerseits der Rekonstruktion bedürfen. Ein anderer Zeuge berichtet vom Hörensagen: Aristoxenos ist ein Schüler des Aristoteles. Er erzählt, was er von diesem gehört hat über die Vorlesung „Über das Gute“. Die Zuhörer hätten erwartet, dass Platon über die üblichen menschlichen Güter wie Reichtum, Gesundheit, Kraft und das glückliche Leben vorträgt. Tatsächlich erstreckt sich seine Vorlesung aber auf Mathematik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Und schließlich spricht er darüber, dass das Gute das Eine sei. Die ganze Veranstaltung ist ein Misserfolg und wird von den Zuhörern nicht ansatzweise verstanden. Dass das Gute das Eine ist, liegt auch implizit im Aufbau des Dialogs „Politeia“. (Szlezák, a.a.O., S. 66, 68; Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, 1978, S. 82). Es steht außer Frage, dass in der gesamten Antike Platon vor dem Hintergrund seiner ungeschriebenen Lehre interpretiert wurde. Platon übernimmt den Begriff des Einen hauptsächlich von Parmenides sowie von den Pythagoreern. Das Eine ist bei Platon die grundlegende Einheit im Gegensatz zu der Vielzahl der Ideen und Erscheinungen. Es wird zum Absoluten. Am leichtesten zu erfassen ist das Eine in der Idee des Guten. Das Eine ist bei Platon das Gute schlechthin.

In seinem Werk Parmenides folgt eine sehr vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Einen. Von allen niedergeschriebenen Dialogen geht der Parmenides am weitesten damit, die Prinzipienlehre Platons zu enthüllen. Vor dem Hintergrund der ungeschriebenen Lehre haben besonders die erste und zweite Hypothese Interesse gefunden: Wenn Eines ist, was ergibt sich für das Eine als Einheit in Bezug auf sich selbst (erste Hypothese: das Eine absolut; Platon, Parmenides 137c-142a). Wenn Eines ist, was ergibt sich für das Eine als Sein in Bezug auf das Viele als Sein (zweite Hypothese: Beziehung auf das Gegenprinzip Vielheit; Platon, Parmenides 142b-147b). Es geht um die Fundierung der aporetisch vorgeführten Ideenlehre durch eine übergeordnete Einheitstheorie. Die Absolutsetzung des Einen führt zum Selbstwiderspruch. Schlechthin Eines ist nicht einmal eines. Dies bezeichnet die Transzendenz des Einen als eine Transzendierung von Sein und Attributen. Das Eine wird zum Absoluten jenseits von Raum und Zeit (vgl. Michael Erler: Platon, 2007, S. 228-230):

[Die erste Hypothese] untersucht, was sich über das Eine als schlechthin einfache, teillose Entität aussagen lässt. Ausgehend von der Annahme, dass das Eine nichts als Einheit ist, werden die Folgerungen untersucht. Das Eine hat keine Vielheit, hat also keine Teile und ist kein Ganzes. Aus der Teillosigkeit wird geschlossen, dass das Eine weder Ausdehnung noch Anfang, Mitte, Ende oder Grenzen hat. Denn dies sind Elemente, die Sein strukturieren. Weiter ist das Eine als Eines ohne Gestalt, da es weder am Runden noch am Geraden teilhat. Es ist aus diesem Grund an keinem Ort, denn es kann weder in einem Anderen noch in sich selbst sein. Ohne Bezogenheit kann das Eine nicht ruhen noch sich bewegen. Denn Bewegung und Ruhe sind Verhaltensweisen des Seienden zu sich oder anderem Seienden. Das relationslose Eine als Einheit ist weder identisch noch anders. Denn das Eine ist nicht von sich verschieden, nicht mit anderem identisch, nicht von anderem verschieden und nicht mit sich selbst identisch. Dies gilt mit denselben Argumenten für Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Es ist auch nicht durch Verhältnisse wie Gleichheit und Ungleichheit zu fassen. Das Eine als Einheit kann nicht im Verhältnis zu etwas älter, jünger oder gleich alt sein. Es wäre älter als es selbst, was unmöglich scheint. Altersgleichheit würde Ähnlichkeit mit etwas anderem bedeuten. Da nicht existieren kann, was weder war noch sein wird, ist das Eine zeitenthoben und ist nicht. Das Eine ist weder sagbar noch erkennbar. (Erler, a.a.O., S. 230)

Alles Seiende ist nur, sofern es Eines sei. Deshalb ist das Eine bei allem, was ist, gegenwärtig und entzieht sich weder dem Größten noch dem Kleinsten (Platon, Parmenides 144c). Das in allem anwesende Eine ist hier aber nicht das absolut einfache Eine, sondern das seiende Eine, das schon durch sein Sein vielfältig ist (Platon, Parmenides 144e).

Eine besondere Bedeutung hat das Eine in Platons ungeschriebener Lehre, die er in seinem Siebten Brief angedeutet hat: „Es gibt ja auch von mir darüber keine Schrift und kann auch niemals eine geben; denn es läßt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände“ (Platon, Siebter Brief 341c). In der ungeschriebenen Lehre ist die Dialektik der Weg des Aufstiegs zum Einen. Das absolute Eine ist nach Platons Lehre das Wesen des Guten (Aristoteles, Metaphysik 1091 b 13-15). Das Gute selbst ist nicht Sein, sondern jenseits des Seins (Platon, Politeia 509b). Das Eine bezieht sich auf die unbestimmte Vielheit und strukturiert diese als ein ideales Ganzes, dessen Teile die Ideen sind. „Das absolute Eine ist jenseits von Sein und seiendem Einen; weil aber Denken auf Einheit und Bestimmtheit angewiesen ist, hebt sich der Versuch, das absolute Eine zu denken, ins Undenkbare auf. Da das Absolute das Übereine und über alle Bestimmtheit Erhabene ist, ist es jeder Erkenntnis entzogen, so dass es keine Aussage und kein Wissen von ihm gibt“ (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006 , S. 65 unter Berufung auf Platon, Parmenides 142a 3-4).

Das absolute Eine verweist auf einen das Sein transzendierenden Urgrund. Bei der Frage nach dem Wesen des Einen geht es um die Ursprungs- und Letztbegründungsproblematik, woraus jegliches entsteht, wodurch es besteht und wohinein es vergeht (vgl. Platon, Phaidon 96a). Es gibt vielerlei Seiendes, endlos Vieles, das jeweils durch Werden und Vergehen bestimmt ist. Was ist aber das Eigentliche, das alles zusammenhält und aus dem alles hervorgeht? Es kann nicht erfasst werden als etwas, das mir als Gegenstand meiner Betrachtung gegenübersteht. Das Eine ist kein Seiendes und damit weder Objekt noch Subjekt. Es kann nicht selbst zum Gegenstand der Erkenntnis werden, da es in den Bereich jenseits des Seins und der Erkenntnis ragt. Aber es kommt in der Subjekt-Objekt-Spaltung von Ich und Gegenstand zur Erscheinung. Es selbst bleibt Hintergrund, aus ihm grenzenlos in der Erscheinung sich erhellend, aber es bleibt immer das Umgreifende (Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, 1971, S. 25). Im Unterschied zu allem einzelnen Seienden liegt das Eine als Urgrund jeder möglichen Bestimmung voraus und lässt deshalb keinerlei Prädikation zu. Der Seinsgrund ist als das Unvergleichbare und Absolute über alle Begrenzung, die erst aus ihm hervorgeht, hinausgehoben und darum diskursiv nicht positiv bestimmbar. Unter fortschreitender Abstraktion von der Welt der Vielheit lässt sich lediglich aussagen, was das Prinzip des absoluten Einen nicht ist. Diese negative dialektische Umkreisung ist jedoch gleichwohl die Vorbedingung für die noetische Erfahrung des Seinsgrundes und damit zugleich der Weg, auf dem diese höchste Schau des geistigen Auges vermittelt werden kann. Dieser Weg der Abstraktion von der Welt des Seienden hängt von der Begabung und der richtigen dialektischen Führung ab, deshalb hat ihn Platon der mündlichen Unterweisung im Kreis der Akademie vorbehalten (Krämer, a.a.O., S. 28).

Das Prinzip des Seienden ist die Einheit, da durch das Teilhaben an dieser jedes einzelne Seiende als Eines bezeichnet wird. Sobald wir etwas als seiend denken, denken wir es notwendig zugleich als einheitliches Eines. Wir können ein Seiendes überhaupt nur denken, wenn es auf irgendeine Weise Einheit ist. Was auf keine Weise Eines ist, das ist für das Denken nichts. Alles Seiende besteht als das, was es jeweils ist, gerade deshalb, weil es Eines ist. Das Ganze ist eine Einheit, die aus der Gesamtheit aller einzelnen Seienden gebildet wird. Demnach zeichnet sich nicht nur jedes einzelne Seiende durch Einheit aus, auch die Totalität des Seins ist durch Einheit charakterisiert. Das Eine selbst ist sowohl das Prinzip der Einheit des Ganzen als auch das Prinzip der Einheit jedes einzelnen Seienden. Das Eine als das Absolute ist der Ursprung, der die Einheit verleiht. Durch das Eine wird alles Seiende Eines. Durch das Eine erhält das Seiende seine Einheit und wird dadurch überhaupt erst seiend (Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.), Platon verstehen, 2004, S. 263).

 

Die Prinzipienlehre

„... aus Einem und Vielem sei alles, wovon jedesmal gesagt wird, dass es ist, und es habe Grenze und Unbegrenztheit in sich verbunden“ (Platon, Philebos 16c). Die ganze Mannigfaltigkeit der diesseitigen Realität wird von Platon auf das Gegensatzverhältnis zweier Grundprinzipien zurückgeführt. Das positive Prinzip der Einheit und Bestimmtheit ist die Ursache des Guten in der Welt (Formursache), das Prinzip der Grenzenlosigkeit ist Ursache des Schlechten (Materialursache, vgl. Thomas Alexander Szlezák: Platon, 2021, S. 509). Platon hat Ruhe (stasis) und Bewegung (kinesis) sowie den Gegensatz von Agathon (das Gute) und Kakia/Kakon (die Schlechtigkeit) den Prinzipien selbst zugewiesen, und zwar die Stasis dem Formprinzip und die Kinesis dem Gegenprinzip (Gaiser, a.a.O., S. 190).

Das erste Prinzip (Einheit, Eins, Grenze) hat seine Entsprechung ontologisch im Sein, formal-logisch in der Identität, werthaft in der Arete, kosmologisch in der Stasis (Ruhe, Beständigkeit) und psychologisch im Logos (Bezogenheit auf die Ideen). Es ist das bestimmende, für die Ordnung verantwortliche Prinzip und damit das Gute. Zur Grenze als erstem Prinzip sind drei Ordnungstypen zu rechnen: das Gleiche/Gleichheit, Proportion (Zahl zu Zahl) und Kommensurabilität (Maß zu Maß; vgl. Platon, Philebos 25a-b; Gernot Böhme, a.a.O., S. 154 f.). Durch die Ordnungstypen kommen die auseinanderstrebenden Tendenzen zu Einheit, harmonischem Zusammenstimmen und Eintracht. Das Eins-Prinzip ist nichts anderes als die Idee des Guten, weil Einheit, zumal mathematisch in dem Phänomen der Mitte und des Maßes gesehen, als Grund aller Ordnung und damit als Grund der Arete gelten kann (Gaiser, a.a.O., S. 19).

Das zweite Prinzip (das Große-und-Kleine, die unbestimmte Zweiheit, das Unbegrenzte) hat seine Entsprechung ontologisch im Nichtsein, formal-logisch in der Verschiedenheit, werthaft in der Schlechtigkeit, kosmologisch in der Kinesis (Bewegung, Veränderung) und psychologisch in den triebhaften, körpergebundenen Affekten (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 19). Aristoteles berichtet von Platons Prinzipienlehre:

Außerdem kennt Platon noch als ein Drittes zwischen den Sinnendingen und den Ideen die mathematischen Objekte, die sich von den Sinnendingen dadurch unterscheiden, dass sie ewig und unbewegt sind, von den Ideen aber dadurch, dass es ihrer viele gleiche gibt, während die Idee als solche eine schlechthin Einzige für sich sei. Da er aber die Ideen als die Ursachen alles anderen betrachtet, so hält er die Elemente der Ideen für die Elemente alles Seienden. Er setzte „das Große-und-Kleine“ als Prinzip [archê: Urgrund, erste Ursache] der Materie und das Eine als das Prinzip der Ousia [Seiendheit, wahres Sein, das unveränderlich-gleichbleibende Wesen, Essenz, Substanz]. Aus jenem beständen der Teilhabe (méthexis) an dem Einen zufolge die Ideen. [...] Aus unserer Darstellung ergibt sich, daß er nur zwei Prinzipien verwendet, nämlich das Prinzip des „Was-es-ist“ [Seiendheit/Essenz] und das stoffartig-materielle Prinzip. Denn die Ideen sind die Ursachen für das Was-Sein aller Dinge, und das Eine ist die Ursache für die Ideen. Auf die Frage, was die Grundlage der Materie ist, auf Grund deren im sinnlich Wahrnehmbaren von Ideen, in den Ideen vom Einen die Rede ist, antwortet er, es sei eine Zweiheit, „das Große-und-Kleine“. Den Urgrund des Guten und des Schlechten, des Zweckmäßigen und des Zweckwidrigen hat er in diesen beiden Elementen gefunden, in dem einen die Ursache des Zweckmäßigen, in dem andern die Ursache des Gegenteils; eine Erklärung, um die sich, wie oben nachgewiesen, schon einige der älteren Philosophen, wie Empedokles und Anaxagoras, bemüht hatten. (Aristoteles, Metaphysik, Buch I Kapitel 6, 987b-988a)

Die beiden Prinzipien sind jeweils eine wirkende Kraft (dynamis). Das erste Prinzip wirkt formgebend, verursacht Einheit, Beständigkeit und Dauer. Das zweite Prinzip bewirkt Auflösung, Vervielfachung, Unbeständigkeit und Wechsel. Der Demiurg der platonischen Kosmologie ist nichts anderes als der anschaulich beschriebene Dynamisaspekt der Idee, die man sich nicht nur als in sich ruhende Form, sondern auch als wirkende Kraft der Gestaltung und Erkenntnis (nous) zu denken hat. Die Ideen und insbesondere die Idee des Guten sind selbst ohne Bewegung und Veränderung. Sie sind aber die Ursache aller Formgebung und Belebung. Diese Formung ist gleichbedeutend mit einer Bewegung zum Sein (Werden, Entstehung), zur Arete (Besserwerden) und zur Rationalität (Erkennbarkeit, Erkenntnisfähigkeit, Bewusstsein) (Gaiser, a.a.O., S. 193).

Platon geht von der menschlichen Unzulänglichkeit aus, gerade auch gegenüber den höchsten Gegenständen der Philosophie, nämlich der Prinzipienlehre. Er betont sehr wahrscheinlich im Rahmen der mündlichen Lehrvorträge, „dass die philosophische Erfassung der höchsten Prinzipien durch den Logos notwendigerweise hypothetisch-provisorisch ist“ (Gaiser, a.a.O., S. 455). Die Prinzipienlehre und das philosophische System Platons sind deshalb grundsätzlich nur als hypothetische Annäherungen an die Wahrheit zu verstehen und nicht als unmittelbare Wiedergabe einer endgültigen Erkenntnis. „Die Lehre Platons muss verstanden werden als lebendiger Ausdruck ständig erneuerter Erfahrung und Prüfung, als ein Entwurf, der geistesgeschichtlich gegebene Voraussetzungen aufnimmt und weiterführt und der in der Schule immer wieder neu verifiziert, kritisiert und korrigiert wurde“ (Gaiser, a.a.O., S. 293).

 

Die unbestimmte/unbegrenzte Zweiheit

Das zweite Prinzip, das dem göttlichen Einen als Grund der Vielheit, Unbestimmtheit und Wesenlosigkeit entgegengesetzt ist, wird im Dialog Politikos als „das unendliche Meer der Ungleichheit“ bezeichnet (Platon, Politikos 273d). Das dem ersten Prinzip (Einheit, Grenze) entgegengesetzte Prinzip der unbestimmten Zweiheit („das Große-und-Kleine“, die Unbegrenztheit) darf nicht mit der Zahl Zwei verwechselt werden. Es handelt sich vielmehr um das unbestimmte Verhältnis zwischen zwei Größen - also zwischen einer dyas. Die unbestimmte Zweiheit zeichnet sich durch ein Mehr und  Weniger aus, also durch das dynamische, unbestimmte und relativ verwendete wechselseitige Übertreffen und Zurückbleiben (stärker-schwächer, schneller-langsamer, höher-tiefer; vgl. zum Paarcharakter des Unbegrenzten Gernot Böhme, a.a.O. S. 150 f.). Sie ist ein Prinzip des Unbestimmten, der Veränderung und drängt zum Unendlichen. Für Platon ist die unbestimmte Zweiheit das eigentliche principium individuationis, die Ursache der Entfaltung und Vervielfachung und damit der Entstehung der einzelnen Dinge aus dem „Einen“ (Gaiser, a.a.O., S. 531). Das Große-und-Kleine wird von Platon als allgemeines, umfassendes, aufnehmendes Prinzip charakterisiert, das ebenso im Bereich der Erscheinungen (als räumliche Ausdehnung) wie im Bereich der Ideen (als unbestimmte Vielheit oder Zweiheit) am Werk ist (Gaiser, a.a.O., S. 533). Er hat den Begriff „das Große-und-Kleine“ nur bei der mündlichen Darstellung seiner Lehre verwendet, damit aber sachlich das Aufnehmende aus dem Dialog Timaios gemeint (Gaiser, a.a.O., S. 534). Damit die auseinanderstrebenden, gegensätzlichen und zerstörerischen Tendenzen zur Einheit gelangen und das Gute in einem bestimmten Bereich zustande kommt, müssen durch Maß und Zahl als Grenze harmonische Verhältnisse eingeführt werden (Böhme, a.a.O., S. 158 ff.).

Mit dem Materialprinzip der unbestimmten Zweiheit soll die beliebige Vermehrbarkeit und Verminderbarkeit sowohl der Ideen und Zahlen als auch der Dinge im sinnlich wahrnehmbaren Bereich erklärt werden. Das Eine hingegen gibt dem unbegrenzt Vielen Begrenzung und ermöglicht dadurch erst dessen Existenz (Michael Erler: Platon, 2007, S. 426). Was begrenzt, macht das Begrenzte zur Einheit. Die Teilhabe an der Einheit weist auf das Eine als den letzten Grund von Sein und Erkennbarkeit. Was begrenzt wird, muss vor der Begrenzung der Einheit entbehrt haben, muss Vielheit in einem unbestimmten Sinn gewesen sein, „grenzenlos nach Menge wie nach Kleinheit“, wie es im ersten Satz des Buches von Anaxagoras hieß, oder platonisch: Es muss unbestimmte Zweiheit (aoristos dyas) gewesen sein, die zwischen Groß und Klein, Mehr und Weniger oszilliert, solange sie nicht von der Grenze fixiert wird (Szlezák, a.a.O., S. 503).

Bei der maßgebend begrenzenden Wirkung des Einen auf die unbestimmte Zweiheit geht es um die Entstehung eines maßbestimmten Proportionengefüges, das sich durch Gleichgewicht, harmonisches Zusammenstimmen und Stabilität auszeichnet. Die unbestimmte Zweiheit kann auch als Vielheit oder intelligible Materie gedacht werden, auf das sich das Eine als Prinzip bezieht. Die Einheit strukturiert das Große-und-Kleine als ein ideales Ganzes, dessen Teile die Ideen sind. Das Prinzip der unbestimmten Zweiheit dient dazu, die Prinzipiate überhaupt aus dem Einen ableiten zu können, indem die Vielheit generiert wird. Diese Vielheit ist aber keine bestimmte und auch nicht seiend, es handelt sich lediglich um eine Seinslatenz. „Die von sich selbst her unbestimmte und nichtige Vielheit wird durch die Einheit setzende Übermacht des Einen aus ihrer unbestimmten Nichtigkeit zu Bestimmtheit und Sein erhoben, und dabei artikuliert sie ihre Bestimmtheit in sich selbst, indem sie ihr Sein entzweiend vervielfältigt und sich damit erst als seiende Vielheit selbst aktualisiert“ (Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.), Platon verstehen, 2004, S. 274 f.). Durch das Zusammenwirken dieser beiden Prinzipien entstehen die Ideenzahlen und die seienden Dinge. Die Prinzipien gehören selbst nicht zum Seienden, sondern gehen allem Seienden als Konstituentien voraus.

Alle Merkmale der Wirklichkeit sollen also auf diese zwei Prinzipien, Elemente oder Gründe zurückgeführt werden. Alles Seiende ist demnach durch eine Verbindung von Form (das Eine) und Material (unbegrenzte Zweiheit) zu erklären: die idealen Zahlen und Ideen, die mathematischen Gegenstände zwischen den Ideen und den Dingen der phänomenalen Welt und die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen. Jede Idee ist ja selbst eine Einheit, birgt in sich aber eine Vielheit. In der so entstehenden Hierarchie des Seienden scheint die Präsenz des zweiten Prinzips zur untersten Seinsstufe hin zuzunehmen, die Vorherrschaft des Einen hingegen abzunehmen (Michael Erler: Platon, 2007, S. 427).
 
Entstehung ist der Vorgang, bei dem sich das erste Prinzip gegen das Prinzip der unbestimmten Ausdehnung immer wieder neu durchsetzt. Sobald das zweite Prinzip die Überlegenheit gewinnt, bleibt das Gewordene nicht mehr mit sich selbst gleich, sondern vergeht ins Nichtsein (Gaiser, a.a.O., S. 189). Die regellos wirkende Kraft, die vom zweiten Prinzip ausgeht, bezeichnet Platon als Notwendigkeit (ananke). Es besteht die Möglichkeit des Formverlusts und der Entwicklung zur Schlechtigkeit (kakia/kakon). Ananke ist der dynamische Aspekt des zweiten Prinzips, dagegen ist der demiurgische Nous der dynamische Aspekt des ersten Prinzips (Gaiser, a.a.O., S. 194-195).
 

Die idealen Zahlen (Ideenzahlen)

Die Grundlage aller Paideia ist für Platon mathematisch erfassbar. „Die Entwicklung Platons bis zur Lehre von den Idealzahlen […] schließt eine Reihe ab, die mit dem relativ einfacheren Gedanken beginnt, dass in der rhythmisch geordneten Bewegung der Sprache, der Töne, der leiblichen Bewegung dieselbe Macht der Zahl wirksam ist und dass für alles Schöne und Gute die mathematische, ja letzten Endes die zahlenmäßige Bestimmtheit der innerste Grund seiner Ordnung und Harmonie ist. Damit ist aber die Möglichkeit gegeben, die archaische musische und gymnastische Erziehung als Vorstufen der mathematisch-wissenschaftlichen Bildung aufzufassen und die gesamte Paideia zur Einheit zusammenzuschließen“ (Julius Stenzel: Die griechisch-römische Bildungswelt (1930), in ders.: Kleine Schriften zur Philosophie, 1957, S. 253). Bei den musikalischen Intervallen ergibt sich die Zuweisung der Zahlenverhältnisse durch die Teilung der Saitenlänge. Lässt man von einer Saite mit einer bestimmten Spannung zuerst die ganze und dann nur noch die halbe Länge schwingen, so ergibt sich das Verhältnis der Oktave 2:1. Lässt man zwei Drittel der Saitenlänge schwingen, so entsteht die Quinte mit dem Verhältnis 3:2. Lässt man drei Viertel der Saitenlänge schwingen, so ergibt sich eine Quarte 4:3 (Gaiser, a.a.O., S. 111).

Die Zahlen entstehen aus den beiden Prinzipien. Das Eins (hen) wirkt allgemein als Ursache der Einheit, Bestimmtheit und Selbständigkeit jeder einzelnen Zahl. Seine Funktion besteht im Gleichmachen. Die Einheit wirkt begrenzend. Die unbestimmte Zweiheit (aoristos dyas) oder das Große-und-Kleine wirkt als Ursache der Vielheit und Verschiedenheit der Zahlen. Seine Funktion besteht im Zweimachen, was sowohl als Verdoppelung als auch als Halbierung verstanden werden kann. Die unbestimmte Vielheit drängt zur dimensionalen Entfaltung. Die Zahl Zwei entsteht dadurch, dass die beiden verschiedenen Einheiten, die in dieser Zahl enthalten sind, gleichgemacht werden (Gaiser, a.a.O., S. 117). „Platon machte die Zweiheit zu dem anderen Prinzip, weil die Zahlen außer den ersten auf besonders natürliche Weise aus ihr erzeugt werden wie aus einem bildsamen Stoff“ (Aristoteles, Metaphysik A 987b 33 = Gaiser TP 22 A). Im Gegensatz zu den mathematischen Zahlen stellen die Ideenzahlen jeweils selbständige, nicht mit anderen kombinierbare Größen dar. Sie sind wesensmäßig verschieden und gegenseitig unvereinbar, sodass Rechenoperationen wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division bei den Ideenzahlen nicht vorgenommen werden können (Gaiser, a.a.O., S. 118).

Die Zahlenverhältnisse sind das unveränderlich Bleibende und für Platon damit das eigentlich Seiende in allem Wechsel und bei aller Verschiedenheit der einzelnen Dinge. So ist in der Symphonie der ersten Zahlen die ganze Welt ursprünglich enthalten. Der ganze Seinsaufbau gipfelt in einem durch Logosbeziehungen geordneten Kosmos von Zahlen, der als prägnanterer Ausdruck des Dimensionszusammenhangs und damit des ganzen Seinsgefüges gelten kann. [...] [Allerdings hat] Platon darüber keine in allen Einzelheiten fertige Lehre vertreten [...] (Gaiser, a.a.O., S. 124 - 125). 

Aus der ersten Einheit (prote monas) und der unbestimmten Zweiheit entstehen die Zahlen Eins und Zwei und ebenso die weiteren Zahlen. Das Eine begrenzt stets, die unbestimmte Zweiheit erzeugt immer zwei und die Zahlen dehnen sich in die grenzenlose Vielheit aus. Die Einheit hat dabei die Funktion der aktiven Ursache, die Zweiheit die der passiven Materie. Die Prinzipien Eines und unbestimmte Zweiheit sind erste Bestandteile, die in dem Hervorgebrachten enthalten sind. Die daraus entstehenden Zahlen sind Ideen und fungieren als Prinzipien, die Formursachen der Dinge sind. Aber die idealen Zahlen sind nicht deren Bestandteile. Die Ideenzahlen können auch als „Archetypen“ der inneren Organisation der Ideen verstanden werden. Jede Idee ist eine, enthält aber auch Vielheit in sich, die einer Ordnung bedarf. Die idealen Zahlen stehen deshalb ontologisch über den Ideen und überragen deren Seinsweise. Auch die Ideenzahlen haben ein Verlangen nach dem Einen (zur Philosophie der Zahlen vgl. Szlezák, a.a.O., S. 531-539). Aus den Ideenzahlen entstehen in Verbindung mit dem zweiten Prinzip der geistigen unbegrenzten Zweiheit die Ideen, aus der Verbindung der Ideen mit der materiellen unbegrenzten Zweiheit die konkreten Dinge der sinnlichen Wahrnehmung (Erler, a.a.O., S. 428). Die einzelnen, stärker differenzierten Ideen sind dabei nicht als reine Zahlen zu verstehen, sondern als Logoi, die auf ganze Zahlen zurückgeführt werden können (Gaiser, a.a.O., S. 128).

Platon hat die Ideenzahlen auf die zehn Zahlen der Dekas beschränkt. Er hat nur die allgemeinen Voraussetzungen der Realität innerhalb der Dekas erzeugt. Es ist „anzunehmen, dass Platon die Entstehung der vielen einzelnen Ideen (für die Gattungen und Arten der verschiedenen Lebewesen) durch eine weitergehende dihairetische Gliederung erklärte, die jedoch ursprünglich durch die Zahlen der Dekas bestimmt ist“ (Gaiser, a.a.O., S. 542). Die Ideenzahlen sind untereinander unvereinbar, da „jede dieser Zahlen als Idee eine Eigenart aufweisen sollte, die sie von anderen klar unterscheidet. [...] Von den platonischen Ideenzahlen kann man nicht sagen, dass eine solche 'Zahl' im Verhältnis zu einer anderen größer oder kleiner oder gleich ist. [...] Eine qualitative Verschiedenheit [...] der Zahlen untereinander [kann] in dem Unterschied zwischen linearen, flächenhaften und körperlichen (d.h.: aus einem, zwei, drei Faktoren bestehenden) Zahlen gesehen“ werden (Gaiser, a.a.O., S. 365). Alexander von Aphrodisias berichtet in seinem Kommentar zur aristotelischen Metaphysik über die platonischen Ideenzahlen:

Als Prinzipien des Seienden legten Platon und die Pythagoreer die Zahlen zugrunde, denn sie waren der Ansicht, dass das Ursprüngliche (Erste) und das Nichtzusammengesetzte Prinzip sei, vor den Körpern aber seien ursprünglich die Flächen – sofern das, was einfacher ist und nicht mitaufgehoben wird, von Natur ursprünglich ist –, vor den Flächen die Linien nach dem gleichen Verhältnis und vor den Linien die Punkte, die die Mathematiker semeia [semeion = Zeichen], sie selbst aber Einheiten (monades) nannten und die ja nun ganz und gar unzusammengesetzt sind und nichts (Ursprünglicheres) vor sich haben. Die Einheiten aber sind Zahlen, und so sind die Zahlen das Ursprünglichste (Erste) des Seienden. Und da nach Platon die Formen (eide) das Ursprünglichste und die Ideen (ideai) das Erste sind in Bezug auf die Dinge, die von ihnen auch das Sein haben – was er auf vielerlei Art zu beweisen versuchte –, nannte er die Ideen Zahlen (Alexander, In Aristot. Metaph. (A 6, 987b33) 55-56 Hayduck [Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis metaphysica commentaria, hrsg. Michael Hayduck, Reimer, Berlin 1891] = Gaiser TP 22 B).

Die ideale Zahlenreihe 1—2—3—4, deren Summe die vollkommene Zahl 10 ausmacht, ist aus der pythagoreischen Tradition geläufig als die Tetraktys, die nach dem Carmen aureum nichts Geringeres darstellt als „die Quelle der ewigfließenden Natur“. Platon übernimmt die pythagoreische Tetraktys und weist ihr eine fundamentale Rolle gleich nach den Prinzipien zu (Gaiser, a.a.O., S. 111; Szlezák, a.a.O., S. 520). Man kann dies mit der Dimensionenfolge der idealen Raumformen in Verbindung bringen: Punkt (1) – Linie (2) – Fläche (3) – Körper (4).

  • So wie das Eine (Eins) bei den Zahlen Prinzip ist, so bei den Linien der Punkt. Der Punkt gehört zur Idee des Einen.
  • Die Linie gehört zur Idee der Zweiheit (Zwei), denn es erfolgt ein Übergang von einem Punkt zum anderen Punkt.
  • Die Fläche gehört zur Drei, da sie als drittes Auseinandertreten (diastasis) die Breite hinzubekommen hat.
  • Wird über den drei Punkten, die eine Fläche definieren, ein vierter Punkt gesetzt, so erhält man einen pyramidenförmigen Körper, der zur Vier gehört. Er hat die drei Raumdimensionen Länge, Breite und Höhe (vgl. Sextus Empiricus: Adversus mathematicos X 248-283 = Gaiser TP 32; Gaiser, a.a.O., S. 49, 84-85; Szlezák, a.a.O., S. 512, 520: in der antiken Terminologie erste Länge, Breite und Tiefe, bei denen es sich um Arten des negativen Prinzips des Großen-und-Kleinen und damit um das Materialprinzip handelt, das dem Formprinzip, nämlich der Idee des Einen, gegenübersteht). 

Die Aufeinanderfolge der Dimensionen (Körper – Fläche – Linie – Zahl) ermöglicht es, die körperlichen Phänomene auf zahlenhafte Prinzipien zurückzuführen und den Zusammenhang (die Methexis) zwischen den Zahlen (Ideen) und den Erscheinungen (Körpern) strukturell zu erklären. Platon sieht in dem Strukturzusammenhang von Zahl – Linie – Fläche – Körper ein Modell für den Aufbau des Seins (Gaiser, a.a.O., S. 107, 503). Die ideale Zahlenreihe 1—2—3—4 strukturiert auch die Erkenntnisarten. Die erkennende Seele und die zu erkennenden Dinge (pragmata) bestehen aus denselben Prinzipien, was die Erkennbarkeit im Sinne des Prinzips „Gleiches durch Gleiches“ ermöglicht. In den vier Erkenntnisarten spiegelt sich die vierfache Stufung des Erkennenden und des Erkannten. Die vier Erkenntnisweisen sind gestuft parallel zur Entfaltung der Raumdimensionen. Mit jeder Stufe kommt ein neues Element hinzu, das die zwingende Einfachheit der vorangehenden Stufe lockert.

  • Das Eine (Eins) ist die höchste Einsicht/Vernunft (nous), welche die Ideenwelt erfasst. In der Erkenntnis des Nous besteht keine Differenz zwischen Subjekt und Objekt. Noetisches Denken ist eine Vereinigung des denkenden Geistes mit seinem Gegenstand, die durch das Eine angemessen repräsentiert wird.
  • Das Verstehen gehört zur Zweiheit (Zwei). Das dianoetische Denken/Verstehen der Wissenschaft (episteme) beruht auf der notwendigen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. Die Beziehung ist eine geradlinige und geht eindeutig auf eines hin.
  • Die Drei als Zahl der Fläche entspricht der Meinung (doxa). Die Eindeutigkeit geht bei der Doxa verloren, denn sie bezieht sich auf die Wahrnehmung der wandelbaren Dinge und kann wahr oder falsch sein.
  • Die Vier als Zahl der dreidimensionalen Körper entspricht der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis). Die Wahrnehmung ist als bloße Vorstufe der Doxa noch unbestimmter als diese (vgl. das Referat zu Platon in Aristoteles: Über die Seele 404b 21-27 = Gaiser TP 25 A; Gaiser, a.a.O., S. 45; Szlezák, a.a.O., S. 520-521).

Den Erkenntnisvermögen (nous – episteme – doxa – aisthesis) entsprechen die vier Grundstoffe Feuer, Luft, Wasser und Erde durch die größere oder geringere Reinheit der Wiedergabe. Das Feuer ist durch das Licht der ermöglichende Grund der Abbildungen. Die Luft vermittelt die reinsten Vorstellungen. Das Wasser vermittelt durch Spiegelungen immerhin noch relativ deutlich bestimmte Bilder. Die Erde vermittelt nur noch Umrisse und Schatten. „Der Übergang von diesen Stoffen als Trägern von Abbildungen zum absoluten Nichtsein, das mit dem Raum an sich oder der unbestimmten Stofflichkeit gleichbedeutend ist, ergibt sich durch eine Deformierung und Unruhe, also zusammen mit dem Verlust der Fähigkeit, bestimmte Abbilder zu erzeugen“ (Gaiser, a.a.O., S. 98).

 

Wesensunterschied – Gegensatz – Relation 

Es gibt übergeordnete Gattungen: Das Eine steht als Gattung über dem „an sich selbst“. „Das Gleiche und das Ungleiche“ steht als Gattung über dem Gegensätzlichen als Ausdruck des Wesens aller Gegensätze. „Übertreffen und Zurückbleiben“ steht als Gattung über dem Relativen. „Groß und größer“, „viel und mehr“ werden als Übertreffen gedacht, „klein und kleiner“, „wenig und weniger“ als Zurückbleiben. Doch auch bei diesen übergeordneten Gattungen muss man sich fragen, ob sie nicht auf anderes zurückgeführt werden können. Vom ursprünglichen Gegensatzpaar „das Gleiche und das Ungleiche“ ordnet sich das Gleiche dem Einen unter, das Ungleiche dem Übertreffen-und-Zurückbleiben, welches seinerseits der unbestimmten Zweiheit zugeordnet ist. Darunter kann alles Seiende in drei Kategorien eingeteilt werden. Es ist, was es ist… 
  1. das Selbständige gemäß der Besonderheit, was an sich selbst besteht: auf Grund eines Wesensunterschieds (z.B. die an sich existierenden Dinge wie Mensch, Pferd, Pflanze oder die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer)
  2. das konträr Gegensätzliche: auf Grund eines Gegensatzes, bei dem es kein Mittleres zwischen den Gegensätzen gibt, weil sich die Gegensätze gegenseitig ausschließen und sie allenfalls ineinander umschlagen  (z.B. gut — schlecht, gerecht — ungerecht, fromm — unfromm, bewegt – ruhend). Beim konträr Gegensätzlichen ist das Verschwinden des einen die Entstehung des anderen, wie zum Beispiel bei Gesundheit und Krankheit, Bewegung und Ruhe. Ist doch Entstehung der Krankheit Wegfallen von Gesundheit und Entstehung von Gesundheit Wegfallen von Krankheit, Aufkommen von Bewegung Verschwinden von Stillstand und Entstehung von Stillstand Wegfallen von Bewegung. Das gleiche Verhältnis gilt bei Schmerz und Schmerzlosigkeit, Gut und Schlecht und überhaupt bei allem, was konträr gegensätzliche Wesensart hat. Es kommt beim konträr Gegensätzlichen in keinem Fall ein Mittleres in Betracht, wie zum Beispiel bei Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Bewegung und Verharrung. Denn zwischen dem Gesundsein und dem Kranksein ist nichts, noch zwischen dem Leben und dem Totsein, noch auch zwischen dem Bewegtsein und dem Verharren.
  3. das korrelativ Gegensätzliche als das Bezogene in Bezug auf etwas, wobei die Gegensätze miteinander bestehen und aufgehoben werden. Den korrelativen Gegensätzen kommt ein Mittleres zu, es besteht ein relatives Verhältnis zueinander (links — rechts, oben — unten, doppelt — halb). Die gegensätzlichen Glieder dieser Relation bedingen sich gegenseitig und es gibt zwischen ihnen ein Mittleres wie z. B. das Gleiche (ison) als Mitte zwischen dem Größeren und dem Kleineren oder das Zureichende (hikanon) zwischen dem Mehr oder Weniger oder das Zusammenstimmende bei Hoch und Tief. Das „in Bezug auf etwas“ hat die Eigenschaft des Miteinander-Bestehens und Miteinander-Entfallens. Denn nichts ist rechts, wenn nicht auch links besteht, und nichts doppelt, wenn nicht auch das Halbe vorgegeben ist, zu dem es das Doppelte ist. 
„Das Gleiche und das Ungleiche“ ist der Ausdruck des Wesens aller Gegensätze. So beruhen das Bleiben oder die Ruhe auf Gleichheit, denn in ihr gibt es kein „Mehr oder Weniger“. Die Bewegung hingegen beruht auf Ungleichheit, denn hier gibt es das „Mehr und Weniger“. All das, was von einem „Mehr und Weniger“ bestimmt ist, wird wegen seiner Unbeständigkeit, wegen seines Mangels an klar definierter Form und Begrenztheit als „nicht seiend“ bezeichnet. Dergleichen hat mit Prinzip (arche) und Sein (ousia) nichts zu tun, es bewegt sich vielmehr in einem Zustand der Ununterscheidbarkeit (vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos X 248-283 = Gaiser TP 32 [Übers. in Konrad Gaiser: Gesammelte Schriften, 2004, S. 241-247]; Szlezák, a.a.O., S. 510-512. Obwohl der Bericht des Sextus Empiricus von „pythagoreischer Lehre“ spricht, darf die platonische Herkunft des Ganzen als gesichert gelten. Im Einzelnen ist zum Beispiel der von Sextus Empiricus verwendete zentrale Begriff der „aoristos dyas“ nach dem Zeugnis des Aristoteles platonisch und nicht pythagoreisch (Gaiser, a.a.O., S. 497). Nach Konrad Gaiser liegt dem ganzen Bericht eine Nachschrift des Lehrvortrags „Über das Gute“ aus der Alten Akademie zugrunde, und zwar in einer neupythagoreischen Bearbeitung (Gaiser, a.a.O., S. 578-579).
 
Der negative Gegensatz zerlegt sich in die zwei Übel des „Zuviel und Zuwenig“. Einander korrelativ entgegengesetzte Formen des Schlechten sind solche, die ein Mittleres zwischen den Extremen kennen, und dies Mittlere ist notwendig das Gute (agathon) bzw. die Arete als normhaft ausgezeichnete Mitte. Der rechte Winkel ist vom positiven Prinzip bestimmt, er nimmt die Rolle des Maßes und der festen Mitte zwischen der unbegrenzt fluktuierenden Vielfalt der spitzen und stumpfen Winkel ein. Die Normstruktur von Übermaß — Mitte — Zurückbleiben/Mangel (hyperbole — mesotes — elleipsis) gehört in den Gedankenkreis der Vorlesung „Peri tagathou“. Das Mittlere (meson) geht als das Gleiche und Bestimmte auf das Eine zurück, das uneindeutige Zuviel-und-Zuwenig auf die unbestimmte Zweiheit (vgl. Codex Marcianus 257, Einteilungen des Aristoteles, Nr. 68 = Gaiser TP 44 a; Szlezák, a.a.O., S. 528, 535).
 

Die Schau des Einen

Das Eine ist als absolut vielheitslose, reine Einheit weder mit dem Ganzen noch mit dem Sein identisch. In seiner Absolutheit transzendiert es alle Denkbarkeit radikal. Das Denken muss sich in seiner Beziehung zum Absoluten selbst übersteigen (Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.): Platon verstehen, 2004, S. 271 und 273).  Der Sinn dieser Schau des Einen ist die Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnisstufen, das Hindurchblicken durch die Mannigfaltigkeit sich abstufender Gegebenheiten auf eine Verknüpfung stiftende Einheit, die nur in diesem Erlebnis der Zusammenschau und nie anders als in ihm in das Denken des Menschen treten kann (Julius Stenzel: Der Begriff der Erleuchtung bei Platon, in: Die Antike 2, 1926, S. 256). Diese ontologisch fundierte Erleuchtung wird plötzlich, unvermutet und unmittelbar erlebt.

Denn in bestimmten sprachlichen Schulausdrücken darf man sich darüber wie über andere Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus inniger Beschäftigung damit entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn (Platon, Siebter Brief 341c).

Platonisches Philosophieren will in seiner letzten Vollendung Vereinigung mit dem höchsten Erkenntnisgegenstand sein. Die Zweiheit von Schauendem und Geschautem ist überwunden. Die Ankunft beim göttlichen Erkenntnisobjekt bedeutet eine höhere Art von Leben für die Seele: die dem Menschen erreichbare Glückseligkeit. Philosophische Erkenntnis und religiöses Erlebnis fallen zusammen (Szlezák, a.a.O., S. 293; Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, 2. Aufl. 2011, S. 482). Die Schau des Einen ist von einem mystischen Erlebnis, mit der ein vom Diesseits abgelöstes Jenseits erfahren wird, zu unterscheiden. Durch sie wird der Erkenntnisprozess vorbereitet, die Transzendenz des Lichts läßt den Ursprung und Grund des Diesseits erkennen (Falk Wagner: Erleuchtung, in: Horst R. Balz u.a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Band 10, 1982, S. 166, dort speziell zu Platon). Erst mit Blick auf das ewig Gültige gelingt die richtige Orientierung in der vom Werden und Vergehen umhergetriebenen Welt der Erscheinungen. Dazu zählen zum Beispiel die richtige Definition der Dinge, die richtige Bildung von Aussagen, die richtige Erklärung der Natur, das richtige Reden, das richtige Handeln, die richtige Lebensführung sowie die richtige Leitung des Staats (Matthias Baltes: Idee (Ideenlehre), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, 1996, Sp. 219). Der Philosoph verharrt nicht bei der Erleuchtung, wie aus dem Höhlengleichnis deutlich wird. Er fühlt sich gegenüber der Welt verpflichtet. Er durchschreitet jetzt wieder die selben Stadien wie beim Aufstieg zum Einen in umgekehrter Reihenfolge, um die Phänomene zu retten. Das Wahrnehmungswissen wird von der höheren Einsicht aus geschärft, der Philosoph selbst wird zu einer Lichtquelle in der Finsternis (Egil A. Wyller: Henologische Perspektiven I/I-II, 1995, S. 19).

Stell dir Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Eingang haben. Diese Menschen sind von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet, so dass sie dort unbeweglich sitzen bleiben und nur vorwärts schauen können, aber links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen. Das Licht scheint für sie von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten verläuft oben ein Querweg. Längs zu diesem steht eine kleine Mauer, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben, über der sie ihre Tricks zeigen. [...] So stell dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen Leute allerhand über diese Mauer hinausragende Gerätschaften, auch Menschenstatuen und Bilder von anderen Lebewesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigen Stoffen, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden ihre Stimme hören lassen, andere schweigen. [...] Die angeketteten Gefangenen [haben] von diesen Leuten und voneinander [nie] etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihrem Gesicht gegenüberstehende Wand fallen. [...] Und ist es nicht mit den vorübergetragenen Gegenständen ebenso? [...] Wenn sie nun miteinander reden könnten, so würden sie  an der Gewohnheit festhalten, den vorüberwandernden Schattenbildern, die sie sahen, bestimmte Bezeichnungen zu geben. [...] Wenn der Kerker auch einen Widerhall von der gegenüberstehenden Wand darböte, sooft jemand der Vorübergehenden sich hören ließe, so würden [die Gefangenen] den Laut [nie] etwas anderem zuschreiben als den vorüberschwebenden Schatten [auf der gegenüberliegenden Wand]. [...] Überhaupt also [...] würden die Gefesselten nichts für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde. [...] Betrachte nun, [...] wie es bei der Lösung ihrer Fesseln und bei der Heilung von ihrem Irrwahn hergehen würde, wenn solches ihnen wirklich zuteil würde. Wenn einer entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen, herumzugehen, in das Feuerlicht zu sehen, und wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empfände und wegen des Glanzgeflimmers vor seinen Augen nicht jene Dinge anschauen könnte, deren Schatten er vorhin zu sehen pflegte, was würde er wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, dass er vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen habe, dass er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe? Und wenn man dann auf jeden der vorüberwandernden wirklichen Gegenstände zeigen würde und ihn durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was das sei, glaubst du nicht, dass er ganz in Verwirrung geraten und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche er jetzt gezeigt bekomme? [...] Wenn man ihn zwänge, in das Feuerlicht selbst zu sehen, so würde er Schmerzen in den Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen Schattengegenständen zuwenden, die er ansehen kann, und würde dabei bleiben, diese wären wirklich deutlicher als die, welche er gezeigt bekam. [...] Wenn aber jemand ihn aus dieser Höhle mit Gewalt den rauhen und steilen Aufgang aufwärts zöge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne herausgebracht hätte, da würde der so Befreite [...] Schmerzen [in seinen Augen] empfinden, über dieses Hinaufziehen aufgebracht werden und, nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voller Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können, die jetzt als wirkliche ausgegeben werden. [...] Er bedarf also erst einer allmählichen Gewöhnung daran, wenn er die Dinge über der Erde schauen soll. Da würde er nun zunächst die Schatten am leichtesten anschauen können und die im Wasser von den Menschen und den übrigen Wesen sich abspiegelnden Bilder, sodann erst die wirklichen Gegenstände selbst. Nach diesen zwei Stufen würde er die Gegenstände am Himmel und den Himmel selbst erst des nachts, durch Gewöhnung seines Blickes an das Sternen- und Mondlicht, leichter schauen als am Tage die Sonne und das Sonnenlicht. [...] Und endlich auf der vierten Stufe vermag er natürlich die Sonne, das heißt nicht ihre Abspiegelung im Wasser oder in sonst einer außer ihr befindlichen Körperfläche, sondern sie selbst in ihrer Reinheit und in ihrer eigenen Region anzublicken sowie ihr eigentliches Wesen zu beschauen. [...] Nach solchen Vorübungen würde er über sie die Einsicht gewinnen, dass sie die Urheberin der Jahreszeiten und Jahreskreisläufe ist, dass sie die Mutter von allen Dingen im Bereiche der sichtbaren Welt und von allen jenen allmählichen Anschauungen gewissermaßen die Ursache ist. [...] Wenn er nun an seinen ersten Aufenthaltsort zurückdenkt und an die dortige Weisheit seiner Mitgefangenen, da wird er sich [...] wegen seiner Veränderung glücklich preisen und jene bedauern.  [...] Und wenn damals bei den Gefangenen Ehres- und Beifallsbezeugungen wechselseitig bestanden sowie Belohnungen für den schärfsten Beobachter der vorüberwandernden Schatten, ferner für das beste Gedächtnis daran, was vor, nach und mit ihnen zu kommen pflegte, und für die geschickteste Prophezeiung des künftig Kommenden, meinst du, dass er jetzt noch danach Verlangen haben werde, dass er die bei jenen Höhlenbewohnern in Ehre Stehenden und Machthabenden jetzt noch beneidet? [Eher wird er] viel lieber als Tagelöhner bei einem dürftigen Mann das Feld bestellen und eher alles in der Welt über sich ergehen lassen, als jene Meinungen und jenes Leben der Gefangenen zu haben. [...] Wenn ein solcher [Befreiter] wieder [in die Höhle] hinunterkäme und sich wieder auf seinen Platz setzte, da würde er [...] die Augen voll Finsternis bekommen, weil er plötzlich aus dem Sonnenlicht kam. [...] Aber wenn er nun, während sein Blick noch verdunkelt wäre, wiederum im Erraten jener Schattenwelt mit jenen ewig Gefangenen wetteifern sollte, und zwar ehe seine Augen wieder zurechtgekommen wären, und die zu dieser Gewöhnung erforderliche Zeit dürfte nicht ganz klein sein, da würde er [...] ein Gelächter veranlassen, und es würde von ihm heißen, weil er hinaufgegangen wäre, sei er mit verdorbenen Augen zurückgekommen, und es sei nicht der Mühe wert, nur den Versuch zu machen, hinaufzugehen. Und wenn er sich gar erst unterstände, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, so würden sie ihn  [...] ermorden, wenn sie ihn in die Hände bekommen und ermorden könnten. Das Gleichnis hier also [...]  ist nun in jeder Beziehung auf die vorhin ausgesprochenen Behauptungen anzuwenden. Die mittels des Gesichts sich uns offenbarende Welt vergleiche einerseits mit der Wohnung im unterirdischen Gefängnis, und das Feuerlicht in ihr mit dem Vermögen der Sonne, das Hinaufsteigen und das Beschauen der Gegenstände über der Erde andererseits stelle dir als den Aufschwung der Seele in die nur durch die Vernunft erkennbare Welt vor. [...] Im Bereich der Vernunfterkenntnis ist die Idee des Guten nur zu allerletzt und mühsam wahrzunehmen. Nach ihrer Anschauung muss man zur Einsicht kommen, dass die Idee des Guten für alle Dinge die Ursache von allen harmonischen Ordnungen und Schönheiten ist, indem sie erstens in der sichtbaren Welt das Licht und die Sonne erzeugt, sodann aber auch in der durch die Vernunft erkennbaren Welt selbst als Herrscherin waltend sowohl die Wahrheit als auch unsere Vernunfteinsicht gewährt. Ferner muss man zur Einsicht kommen, dass das Wesen des Guten ein jeder erkannt haben sollte, der verständig handeln will, sei es in seinem privaten Leben oder in seinem öffentlichen Wirken für den Staat. (Platon, Höhlengleichnis in Politeia 514a ff.)

Platon | 427 - 347 v. Chr.