Im Dialog Phaidon berichtet der platonische Sokrates anschaulich, wie er in seiner Jugend gehofft habe, in der antiken Naturkunde die Ursache aller Dinge zu finden, und wie er dabei enttäuscht worden sei. Selbst Anaxagoras habe sich nur mit dem sinnlich Wahrnehmbaren beschäftigt und sei die Antwort auf das eigentliche „Warum“ schuldig geblieben. Das Interesse Platons galt demnach hauptsächlich den geistigen Prinzipien und damit auch noch der Mathematik. Die Naturwissenschaft betrifft aber die empirische Welt der Erscheinungen, die als defizitäres Sein das vollkommene Reich der Ideen nur unvollkommen abbildet: Dem Timaios zufolge hat ein mythischer Demiurg, der Vater der Welt, entsprechend der ewig seienden Idealwelt die dingliche Welt aus der Materie gestaltet. Die Welt als Ganzes ist ein Bild des Schöpfers und zugleich ein ewiges, vollkommenes, lebendiges, beseeltes, vernunftbegabtes Wesen. Die Weltseele ist das Prinzip der Weltbewegung und des Lebens. In ihr sind das Identische (to autón), Eine und das Andere (to héteron), Mannigfaltige vereinigt.
Die Materie vergleicht Platon mit dem Stoff (hylê), den die Handwerker gestalten. Sie ist ein vom Demiurgen unabhängig bestehendes Substrat. Sie ist amorph, aber zugleich form- und gestaltbar. Sie ist der gebärfreudige Schoss des Werdens, in ihr entstehen die Körper. Sie ist eine Art Raum, etwas Bestimmbares und damit etwas relativ Nichtseiendes. Feuer, Luft, Wasser und Erde sind die vier Grundformen der Materie, die sich mit Ausnahme der Erde ineinander umwandeln können. Diese vier Elemente bestehen aus regelmäßigen Polyedern, die ihrerseits aus kleinen rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecken – einer Art geometrischer Atome – bestehen. Damit ist Platon nach Demokrit einer der bedeutenden Schöpfer der atomistischen Theorie der Materie und der Elemente und zugleich der erste Begründer eines mathematischen Atomismus. Das Dreieck ist die einfachste Figur, in die sich die geometrischen Figuren teilen lassen. Hans-Georg Gadamer betont in diesem Zusammenhang das ideale Wesen dieser kleinsten Teilchen: „Die Annahme der Unteilbarkeit letzter Atomdreiecke beruht also auf einer eidetischen Unteilbarkeit. Denn Unteilbarkeit ist das Wesen des Dreiecks in dem Sinne, dass sich aus ihm keine einfachere Figur durch Teilung mehr ergibt. Platons Atome sind keine letzten, dem Zerfall der erscheinenden Gestalten, der Zerstörung aller Formeinheiten widerstehende Wirklichkeiten, sondern sie sind die Urformen des Körperlichen selbst. Und es sind nicht zufällige Figuren, die aus ihrer Zusammenfügung entspringen, sondern die regulären ‚platonischen Körper‘. Die Atomdreiecke sind nicht die Endeswirklichkeit einer möglichen Splitterung des Körperhaften, sondern die ursprünglichen Bausteine des Regelmäßigen“ (Hans Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 5, Griechische Philosophie, 1985, S. 278).
Diese Unteilbarkeit der kleinsten Teilchen gilt jedenfalls dort, wo Materie Form angenommen hat und zu „etwas“ geworden ist. Anders verhält es sich nach Platon aber mit der Materie vor der Formgebung und damit vor der Entstehung der Materie als Körperlichkeit. In der vierten Hypothese des Parmenides argumentiert Platon im Gegensatz zu Demokrit, dass Materie als reine Quantität wie alles Quantitative immer weiter aufgeteilt werden könne: Nichts wäre so klein, dass es nicht ein Kleineres gäbe, das niemand sehen könne. „Die Materie an sich ist Chaos und Finsternis, aber Körperlichkeit ist von seelisch vermitteltem Geist und Licht“ (Egil A. Wyller: Gestern und morgen, heute. Henologische Essays zur europäischen Geistesgeschichte, 2005, S. 36 f.). Alles Geschehen hat eine Ursache. Die zweckmäßig gestaltenden Ideen sind die ersten Ursachen. Die Materie hemmt die Zweckmäßigkeit und Ordnung des Geschehens. Sekundäre Ursachen sind deshalb die blinden, mechanischen Einwirkungen des Materiellen (Platon, Timaios 46c ff., 69a; Phaed. 79b ff.). In seinem Schlusswort im Timaios bekräftigt Platon nochmals, dass die mythische Ausgestaltung seiner Naturphilosophie an das vollkommene Reich der Ideen anknüpft. Der Kosmos ist das Werk eines Schöpfers, der sich an idealen Verhältnissen orientierte.
Und nunmehr möchten wir denn auch behaupten, daß unsere Erörterung über das All ihr Ziel erreicht habe, denn nachdem diese Welt in der obigen Weise mit sterblichen und unsterblichen belebten Wesen ausgerüstet und erfüllt worden, ist sie zu einem sichtbaren Wesen dieser Art geworden, welches alles Sichtbare umfaßt, zum Abbilde des Schöpfers, ein sinnlich wahrnehmbarer Gott und zur größten und besten, zur schönsten und vollendetsten geworden, diese eine und eingeborne Welt. (Platon, Timaios 92c)