Platon kommt im ersten Jahr der 88. Olympiade zur Welt. Es handelt sich um das attische Jahr 428/427 vor unserer Zeitrechnung, das attische Jahr begann gegen Ende des Monats Juni. Die Akademie hat den Geburtstag Platons am 7. Thargelion (attischer Monat von Mitte Mai bis Mitte Juni) gefeiert. Historizität und Umrechnung in den heute gebräuchlichen gregorianischen Kalender sind zweifelhaft. Der attische Tag begann mit dem Sonnenuntergang. Möglicherweise handelt es sich bei Platons Geburtstag um die Zeit vom Abend des 26. bis zum Abend des 27. Mai 427 v. Chr. (vgl. ausführlich zur Berechnung Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums, 1871, S. 108; Ioannis Kalitsounakis: Platon, in: Neues enzyklopädisches Lexikon Helios, Bd. 16, 1952 [griech.]; Franz Brentano: Geschichte der griechischen Philosophie, 1988, S. 178). Auf den 7. Thargelion fällt auch der Geburtstag des Gottes Apollon, schon früh wurde in der Akademie das Doppelfest alljährlich begangen. Apollon, der Gott von Delphi, war ein Gott der bewusstmachenden Wahrheit, des Maßes, der inneren Ordnung und der Reinheit (Wolfgang Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, 1975, S. 25).
Platon stammt aus einer wohlhabenden aristokratischen Familie. Sein Vater Ariston leitete seine Herkunft von Kodros ab, einem mythischen König von Athen. Seine Mutter Periktione war mit der Familie des athenischen Gesetzgebers Solon verwandt. Die Familie Platons lebt im Zentrum Athens in dem vornehmen Stadtteil Kollytos am Westabhang der Akropolis. Platon hat zwei Brüder, Glaukon und Adeimantos, und die Schwester Potone. Sein Vater Ariston verstirbt schon früh. Seine Mutter Periktione heiratet um 423 v. Chr. Pyrilampes, der als Freund und Anhänger des Perikles gilt (Plutarch, Perikles 13) und als Gesandter unter anderem nach Persien geschickt worden ist (Platon, Charmides 158a). Dessen Sohn Demos, der wegen seines guten Aussehens berühmt ist, wird dadurch Platons Stiefbruder. Aus der Ehe von Periktione und Pyrilampes geht ein weiterer Sohn hervor, Antiphon, ein jüngerer Halbbruder Platons. Platon erhält die für Söhne aus gutem Hause übliche literarische, musische und sportliche Ausbildung. Als Kind ist er zurückhaltend, fleißig und lernbegierig; er verfügt über eine rasche Auffassungsgabe. In jungen Jahren nimmt er als Ringkämpfer an den Isthmischen Spielen teil (Klaus Döring: Zur Biographie Platons, in: Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hrsg.), Platon Handbuch, 2009, S. 13)
Die Akropolis von Athen, wie sie sich heute darstellt. Foto: Christophe Meneboeuf, ccbysa3.0
Während der oligarchischen „Herrschaft der Dreißig“ von August 404 bis März 403 v. Chr. erlangen zwei nahe Verwandte Platons politische Macht in Athen. Kritias, früher ein Schüler des Sokrates, reißt zusammen mit 29 weiteren Oligarchen und mit Hilfe der spartanischen Besatzer die Staatsgewalt an sich. Nach Diogenes Laertius wäre Kritias ein Großonkel Platons mütterlicherseits: „Des Solon Bruder nämlich war Dropides; dessen Sohn war Kritias, dessen Sohn Kallaischros, dessen Söhne Kritias, das Haupt der Dreißig, und Glaukon. Des Letzteren Kinder waren Charmides und Periktione, von der Platon stammte aus ihrer Ehe mit Ariston, als sechster von Solon abwärts“ (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 1). Diogenes Laertius hat aber wohl eine Generation übersprungen. Nach Platon selbst ist Kritias ein älterer Vetter und Vormund seines Onkels Charmides (Platon, Charmides 155a), also auch ein Vetter seiner Mutter Periktione. Kritias ist ein Anhänger der spartanischen Lebensordnung und befürwortet eine harte Ausbildung (DK 88 B 9: „Durch eifrige Bemühung und Übung (melete) sind mehr Leute tüchtig als von Natur“). Er fällt durch ein ausgeprägtes Ordnungsdenken und moralischen Rigorismus auf. Platons Onkel Charmides ist einer der zehn Archonten, die im Auftrag der Oligarchen den Hafen Piräus beherrschen. Kritias und Charmides sterben im Frühjahr 403 v. Chr., als die Dreißig Tyrannen zur Wiederherstellung der Demokratie gestürzt werden (Döring, a.a.O., S. 2).
Sokrates als Lehrer der Philosophie
In seinem 20. Lebensjahr schließt sich Platon eng an Sokrates an (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 6). Auch Platon hätte in der Politik Karriere machen können, aber die Herrschaft der Dreißig und die Verurteilung seines Lehrers Sokrates zum Tode 399 v. Chr. unter einer demokratischen Regierung lassen in ihm die Überzeugung reifen, dass es unvernünftig sei, ein Staatsamt anzustreben.
Als ich noch in meiner Jugend war, ging es mir wie vielen Jünglingen. Ich hatte im Sinne, sobald ich mein eigener Herr geworden war, mich an der Verwaltung des Staates zu beteiligen. Da kamen mir einige Verwicklungen im Staate dazwischen, und die waren folgender Art. Da Viele mit der damaligen demokratischen Staatsverfassung unzufrieden waren, so entstand eine Umwälzung derselben, und einundfünfzig aristokratische Männer stellten sich an die Spitze derselben, davon walteten elf in der Stadt Athen und zehn in der Hafenstadt Peiraieus als Verwaltungsbehörden, jede von beiden in Markt- und andren notwendigen Ämtern, die übrigen Dreißig aber machten sich zu unabhängigen Herrn des Staates. Unter diesen hatte ich einige Verwandte und Bekannte, und sonach luden sie mich alsbald zur Teilnahme an ihrer Politik, weil sie glaubten daß diese mir willkommen sein würde. Und da war es kein Wunder, wenn ich aus jugendlicher Unerfahrenheit mich dazu verleiten ließ. Ich hegte nämlich den Glauben, sie würden den Staat aus seinem moralisch zerrütteten Leben herausschaffen und ihre Verwaltung denn doch auf eine rechtliche Grundlage stützen, und darin widmete ich ihren politischen Reformen ein aufmerksames Augenmerk. Nach meiner Beobachtung nun zeigten diese Herrn in kurzer Zeit, daß der frühere politische Zustand noch Gold gewesen war. Und als ich erst sah, wie sie unter andern den Sokrates in seinen älteren Jahren, den mir so teuren Mann, welchen ich den Besten der damaligen Welt zu nennen keinen Anstand nehmen möchte, nebst anderen Gesellen ihres Gelichters ausschicken wollten, um ihnen einen der Bürger mit Gewalt zur Schlachtbank zu führen,und wie sie das offenbar aus keiner anderen Absicht taten als daß Sokrates, sei es mit oder ohne Willen, als Teilnehmer ihrer Politik gelte. Dieser aber folgte ihrem Befehle nicht und wollte sich lieber der größten Lebensgefahr unterziehen als ein Genosse ihrer verbrecherischen Staatshandlungen werden. Als ich, sag' ich, alle diese und noch etwelche andere Greueltaten ansah, da bekam ich einen Ekel an dieser neuen Politik und zog mich zurück von der damaligen Mißwirtschaft. Nach nicht langer Zeit kam es zum Sturz der Dreißig und gegen ihre politische Richtung. Und wiederum führte mich der Zug meines Herzens, obwohl etwas abgekühlt, unter Hintansetzung meiner persönlichen und häuslichen Interessen, zu den Staatsgeschäften der wiederhergestellten Republik. Auch hierin gab es nun, wie natürlich nach solchen Erschütterungen, viele Dinge, woran man Abscheu empfinden mußte, und man dürfte es gar nicht auffallend finden, wenn bei der einen Partei in Revolutionszeiten starke Repressalien gegen die Gegenpartei stattfinden. Es ist indessen nicht zu leugnen, daß die damals zurückgekommenen Demokraten noch viele Mäßigung zeigten. Aber ein neuer Unstern sollte mir in meinem politischen Leben begegnen. Das Unglück verfolgte den genannten Sokrates, unseren langjährigen Freund und Lehrer, und einige Wortführer brachten ihn vor Gericht, indem sie ihn der Gottlosigkeit beschuldigten, welche mit dem Charakter des Sokrates im grellsten Widerspruche stand. Es fanden sich Leute, die ihn durch Anklage vor Gericht brachten, und es fand sich auch eine Stimmenmehrheit, welche ihn verdammte und das Todesurteil über ihn aussprach, über ihn, welcher unter der vormaligen Aristokraten-Herrschaft, zu einer Zeit, als sie in der politischen Verbannung schmachteten, hinsichtlich eines ihrer damals flüchtigen Gesinnungsgenossen Anteil an einem abscheulichen Standrechtsprozesse zu nehmen sich beharrlich weigerte. Bei der Betrachtung solcher Vorgänge und der Menschen, welche damals an der Spitze der Staatsverwaltung standen, ferner bei näherer Prüfung der Staatsgesetze und sittlichen Gewohnheiten der Bürger, schien mir die Verwaltung eines Staatsamtes mit der Vernunft desto schwerer vereinbar, je tiefer ich in diese Zustände blickte und je mehr ich dem reiferen Alter zuschritt. (Platon, Siebter Brief 324c-325d)
Tod des Sokrates durch den Schierlingsbecher. Gemälde: J. L. David, 1787 n. Chr.
Mit Sokrates verbringt Platon acht Jahre. Sokrates hat selbst nichts geschrieben. Es ist wenig über den historischen Sokrates bekannt, viele Berichte über ihn passen nicht zusammen. Er ist der Sohn einer Hebamme und eines Bildhauers. Mit über 50 Jahren heiratet Sokrates Xanthippe, gemeinsam haben sie drei Kinder. Junge Männer im Alter zwischen Jugend und Erwachsenheit findet er in einem ästhetischen Sinn erotisch anziehend (Günter Figal: Sokrates, 2. Aufl. 1998, S. 96). Im Peloponnesischen Krieg kämpft er tapfer als Soldat, erträgt Strapazen und nimmt an drei Feldzügen teil. Dem verwundeten Alkibiades rettet er das Leben. Er ist begierdelos, ausdauernd, standhaft und selbstbeherrscht. Er trinkt bei Gelagen Wein, aber niemand sah ihn je betrunken. Nie lässt er sich gehen. Sokrates bemüht sich um allgemeingültige Definitionen im Bereich der Moral und Arete (Gutsein, Bestform, Tauglichkeit, Vortrefflichkeit, Tüchtigkeit, Tugend). Moralisches Handeln sei eine Sache des Wissens. Wer über entsprechendes Wissen verfüge, handle notwendig moralisch. Wer Arete erlernt habe, könne nicht umhin, tugendhaft und vortrefflich zu handeln. Bei ethisch relevantem Wissen handelt es sich um ein Wissen, das ein Können ist. Es handelt sich nicht nur um die neutrale Kenntnis eines beliebigen Sachverhalts. Wenn jemand zu schwimmen weiß, dann ist er ein Schwimmer und kann damit schwimmen. Ähnlich verhält es sich mit der Arete. Sie ist eine Tüchtigkeit und insofern immer auch ein bestimmtes Können. Wer also weiß, was die Arete ist, der kann auch vortrefflich handeln und ist demnach tugendhaft. Sokrates ist wohl davon überzeugt, dass da, „wo wirkliche Erkenntnis des moralisch Richtigen vorliegt, die Erkenntnis so stark und ethisch motivierend ist, daß sie den Entschluß des Handelnden irreversibel beeinflußt und jedem anderen Impuls standhält. [...] Seine These, daß Unrechttun unter allen Umständen falsch sei, erfüllt sich in seinem Entscheid, die ihm eröffnete Möglichkeit zur Flucht aus dem Gefängnis nicht wahrzunehmen“ (Andreas Graeser: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, 2. Aufl. 1993, S. 104 und S. 107). Er wird angeklagt, die Götter zu missachten und die Jugend Athens zu verderben. Mit knapper Stimmenmehrheit wird er zum Tode verurteilt. Im Alter von 70 Jahren stirbt Sokrates durch den Schierlingsbecher, in der Antike ein Mittel zur Hinrichtung. Der Verurteilte muss einen Becher mit dem tödlichen Gift Coniin trinken. Es wird aus dem gefleckten Schierling (Conium maculatum, Tollkraut) gewonnen. Die Hinrichtung seines Lehrers hat Platon schwer erschüttert, er verlässt Athen 399 v. Chr. Er begibt sich zu Eukleides, einem anderen Schüler des Sokrates, nach Megara, der Hafenstadt am Saronischen Golf in der Region Attika. 395/394 v. Chr. nimmt Platon als Soldat am Korinthischen Krieg teil (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 8).
Mathematische Bildungsreise nach Kyrene
Antike Autoren wie Cicero, Strabon, Apuleius, Diogenes Laertios und Olympiodoros berichten von Bildungsreisen, deren zeitliche Einordnung und Stationen unklar sind. Möglicherweise gab es eine erste Reise nach Unteritalien zu den Pythagoreern und danach eine große Bildungsreise Kyrene-Untertalien-Ägypten oder Kyrene-Ägypten-Unteritalien (vgl. Heinrich Dörrie: Der hellenistische Rahmen des kaiserzeitlichen Platonismus. Der Platonismus in der Antike Bd. 2, 1990, S. 450 ff.). Durch die Bildungsreisen erhält die Philosophie Platons einen „schweren Ernst“.
Platon eilte nach dem Tod des Sokrates nach Ägypten, um dort zu lernen, dann nach Unteritalien und Sizilien, damit er die Einsichten des Pythagoras genau erfahre. [...] Deshalb hat er dann, weil er zunächst den Sokrates einzigartig schätzte und ihm alles zuschreiben wollte, die sokratische Anmut und Feinheit der Rede mit der Dunkelheit des Pythagoras und mit jenem schweren Ernst der zahlreichen Wissensgebiete verwoben. (Cicero: De re publica I 10, 16)
Das erste Ziel der großen Reise ist jedoch die Stadt Kyrene, eine antike griechische Kolonie im heutigen Libyen. Hier soll Platon bei Theodoros Geometrie studiert haben. Dieser ist Schüler von Protagoras und Lehrer des Theaitetos, den er als seinen begabtesten Schüler betrachtet. Neben Mathematik interessiert sich Theodoros auch für Astronomie, Musik und Philosophie. Nach einem Bericht Platons bewies Theodoros die Irrationalität der Quadratwurzeln aus allen natürlichen Zahlen von 3 bis 17, die keine Quadratzahlen sind. In Platons Dialogen Theaitetos, Sophistes und Politikos tritt Theodoros als Gesprächspartner auf. So setzt er seinem kyrenäischen Lehrer ein Denkmal.
Archäologische Stätte von Kyrene in Libyen, wie sie sich heute darstellt.
Studium der Priesterkunst in Ägypten
Eine weitere Station der Reise ist Ägypten. Dort habe sich Platon in die alte Weisheit einweihen lassen. Sein Staatsideal verdanke sich ägyptischen Vorbildern. Mit der politischen Macht und Weisheit der ägyptischen Priester besteht eine Gesellschaftsordnung, die dem Wissen die gebührende Herrschaft zugesteht (vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Sein Leben und seine Werke, 5. Aufl. 1959, S. 187). Ägypten galt den Griechen als das Land mit der ältesten kulturellen Tradition.
Es gibt in Ägypten [...] in dem Delta, um dessen Spitze herum der Nilstrom sich spaltet, einen Gau, welcher der saitische heißt, und die größte Stadt dieses Gaus ist Sais, von wo ja auch der König Amasis gebürtig war. Die Einwohner nun halten für die Gründerin ihrer Stadt eine Gottheit, deren Name auf ägyptisch Neith, auf Griechisch aber, wie sie angeben, Athene ist. Sie behaupten daher große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen stammverwandt zu sein. Als daher Solon dorthin kam, so wurde er, wie er erzählte, von ihnen mit Ehren überhäuft, und da er Erkundigungen über die Vorzeit bei denjenigen [ägyptischen] Priestern einzog, welche hierin besonders erfahren waren, so war er nahe daran herauszufinden, daß weder er selbst, noch irgend ein anderer Grieche, fast möchte man sagen, auch nur irgendetwas von diesen Dingen wisse. [...] Da aber habe einer der Priester, ein sehr bejahrter Mann, ausgerufen: O Solon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen alten Hellenen gibt es nicht! Als nun Solon dies vernommen, habe er gefragt: Wie so? Wie meinst du das? Ihr seid alle jung am Geiste, erwiderte der Priester, denn ihr tragt in ihm keine Anschauung, welche aus alter Überlieferung stammt, und keine mit der Zeit ergraute Kunde. (Platon, Timaios 21d-22b)
Die Ägypter galten den Griechen als Erfinder der Schrift, Mathematik, Geometrie, Astronomie, Philosophie und Theologie. In seinen Dialogen erwähnt Platon zahlreiche ägyptische Bräuche. Möglicherweise reist Platon nach Ägypten, weil er erfahren hat, dass die Ursprünge der pythagoreischen Liebe zur Weisheit dort zu finden seien.
Aber als [Platon] gehört hatte, dass die Philosophie der Pythagoreer aus Ägypten stammt, besuchte er auch Ägypten. Und er kehrte von dort zurück mit dem vollen Wissen der Geometrie und Priesterkunst. (Anonymus, Prolegomena in Platonis philosophiam 4, 8-10, englische Übersetzung in: Leendert Gerrit Westerink: Anonymous Prolegomena to Platonic Philosophy, 2011, S. 8).
Zu seinen Lehrern sollen Chonuphis in Memphis und Sechnuphis in Heliopolis gehören. Zudem soll er Gespräche mit den Priestern in Sais führen, wie eine romanhafte Brieffälschung aus der Zeit der zweiten Sophistik (1./2. Jh. n. Chr.) berichtet.
Die, welche aus Ägypten kamen, rechtschaffene Männer, meldeten uns, daß Du zuerst ganz Ägypten Dir angesehen habest und Dich jetzt in dem sogenannten Saitischen Gau aufhältst, um von den dortigen Weisen Aufklärung zu bekommen, was sie glaubten in bezug auf das All, wie es entstanden sei und nach welchem Gesetz es sich jetzt bewege, in den Teilen und im Ganzen. Es heißt nämlich, daß sie sich aus irgend einem Grunde nicht gern mit den Griechen unterreden; mit der Ausnahme aber, daß die in Heliopolis dem Pythagoras die Lehren über die Natur und die Geometrie und die Zahl mitteilten. (unechter Brief eines Sokratikers an Platon; Übersetzung der Sokratikerbriefe in: Liselotte Köhler: Die Briefe des Sokrates und der Sokratiker, 1928, S. 83; Köhler Brief 26 = Orelli Epist. Socr. 28).
Nildelta in der Antike mit Memphis, Heliopolis und Sais
Strabon berichtet als Augenzeuge, dass ihm im Jahr 25/24 v. Chr. der Ort in Heliopolis gezeigt worden sei, wo Platon studiert haben soll (Text und Übersetzung bei Dörrie, a.a.O., S. 170 f.). Möglicherweise wird Strabon dabei aber nur zu einem Sprachrohr ägyptischer Kulturpropaganda, die sich der Gestalt Platons bedient, um einer neugierigen römisch-griechischen Reisegesellschaft Erinnerungsstücke für die Überlegenheit der ägyptischen Kultur vorzuführen (Dörrie, a.a.O., S. 443 f.). Die älteste weitgehend erhaltene Platonvita im Index Academicorum des epikureischen Philosophen Philodemos (110-35 v. Chr.) berichtet nur von seinen Reisen nach Unteritalien und Sizilien, in dem Fragment findet man keine Hinweise auf die Ägyptenreise. Die Berichte von einer Reise nach Ägypten mit ihren teils widersprüchlichen Angaben beginnen erst spät zu fließen; möglicherweise handelt es sich um Legenden (Dörrie, a.a.O., S 429; a.A. Konrad Gaiser: Philodems Academia, 1988, S. 397: Philodemos habe die erste Sizilienreise zehn Jahre zu früh angesetzt).
Insbesondere Heliopolis war zu griechischer Zeit ein berühmtes Bildungsziel. Als mythischer Geburtsort der ägyptischen Götter nahm das Heiligtum von ca. 2400 v. Chr. bis ins 4. Jh. v. Chr. die Rolle eines wichtigen religiösen Zentrums ein. Auch Solon, Pythagoras, Herodot und Eudoxos haben hier studiert (vergleichende Aufstellung bei Dörrie, a.a.O., S 429). An ihrer Basis bis zu 17 m mächtige Mauern umschlossen einst das etwa 1 km² große Areal, die Höhe der Umfassungsmauern wird auf 12 bis 20 m geschätzt (Dietrich Raue: Reise zum Ursprung der Welt. Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis, 2020, S. 79 f.). In der sagenumwobenen Stadt lebten damals ausschließlich Priester, die in der ganzen Welt der Antike für ihre Weisheit bekannt waren. Das zentrale Heiligtum in Heliopolis war der Sonnentempel mit dem Urhügel. Hier ist nach ägyptischer Vorstellung die Welt entstanden.
Im Anfang ist der lichtlose, ortlose und endlose Urzustand, ein vorweltliches Chaos, eine Form von Urwasser, eine gestaltlose und namenlose Präexistenz, die bereits Gott ist. Dieser verwandelt sich in die Welt, er erfüllt die Welt von innen heraus und belebt sie in fortwährender Schöpfung. In einer ersten Transformation geht der Urhügel als Schaffung des Raums hervor. Sein inselartiges Auftauchen aus dem Urwasser ist von der Erfahrung der alljährlichen Nilüberschwemmung geleitet. In einer zweiten Transformation erhebt sich über dem Urhügel die Sonne als Schaffung des Lichts und der Zeit.
Der erste Sonnenaufgang auf dem Urhügel ist verbunden mit Atum als dem undifferenzierten Urgott, der als Sonne (Re) aufgeht. Atum erzeugt aus sich selbst
Schu (Luft) und
Tefnut (Feuer, Licht). Damit entsteht aus dem Einen die Dualität, auf der alles Entstehen in der Welt beruht. Schu und Tefnut erzeugen wiederum
Geb (Erde) und
Nut (Himmel, gebiert und verschluckt alle Gestirne, beugt sich über Geb). Geb und Nut zeugen vier Kinder, womit die Entfaltung in die Geschichte beginnt. Diese sind
Osiris (gewaltsam durch Seth getötet, Herrscher der Toten, Sterben und Wiederaufleben der Natur, Nilüberschwemmung und Fruchtland) und
Isis (zauberkundigste Vielgestaltige, Wiedergeburt; sie zeugt mit Osiris den Weltgott Horus, der mit seinen Flügeln den Himmel überspannt und die Erde schirmend deckt und dessen Augen Sonne und Mond sind) sowie
Seth (gewalttätiger und zwielichtiger Gott, Wüste) und
Nephthys (Herrin des Hauses, Schützerin der Toten).
Jeder ägyptische Gott hat zwar seine eigene Erscheinungsform, doch alle Götter haben Teil an einer einzigen göttlichen Macht. Der Urgott verwandelt sich in die Welt, er ist „der Eine, der sich in Millionen [d.h. das Ganze] verwandelt“ (Jan Assmann: Theologie und Weisheit im alten Ägypten, 2005, S. 55 f.). In der fortwährenden Gegenwart der Präexistenz liegt das Geheimnis der zyklischen Zeit, der Reversibilität und Regeneration, der Chance zu Verjüngung und Neugeburt nach dem Vorbild des Sonnengottes, der jeden Morgen verjüngt aus dem Urwasser aufsteigt (Jan Assmann: Steinzeit und Sternzeit, 2011, S. 40 und S. 282). Der Sonnengott hat den König als Sonnenpriester eingesetzt, sein Wissen legitimiert ihn zur Machtausübung. Der König verwirklicht das Prinzip der Ma'at: Gerechtigkeit unter den Menschen durch Rechtsordnung und Rechtsprechung, Harmonie unter den Göttern durch Verehrung, Opfer und Frömmigkeit. Ma'at ist der erstrebenswerte vollkommene Zustand der Dinge, die Ordnung und das rechte Maß. Es ist das Ziel, unter den Bedingungen der gespaltenen Welt in unermüdlicher Anstrengung Frieden und Harmonie wiederherzustellen (Jan Assmann: Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, 2006, S. 210 f.).
Der Kult um den Sonnengott zeigt sich symbolhaft in den Obelisken, die als steinerne Strahlen der Sonne nach oben hin schlanker werden. Von dem großen Heiligtum in Heliopolis ist als Baurest nichts mehr erhalten außer einem 20,5 m hohen Sonnenstrahlobelisken aus rotem Assuangranit (Anfang 2. Jtsd. v. Chr.).In der Tempelanlage von Heliopolis wird am Morgen die Sonne auf dem durch eine Steinsetzung (Benben) gekennzeichneten Urhügel verehrt. Auch die Griechen betrachten die Sonne (Helios) schon früh als eigenständigen Gott, einen offiziellen Kult gibt es aber fast nur auf Rhodos. Eine Gleichsetzung von Helios mit dem Gott Apollon ist im 5 Jh. v. Chr. nur vereinzelt feststellbar. Auch Platons Lehrer Sokrates praktiziert das morgendliche Gebet an die Sonne: „[Sokrates] aber blieb wirklich stehen bis der Morgen graute und die Sonne aufging; dann aber ging er von dannen, nachdem er zuvor noch sein Morgengebet an die Sonne [Helios] verrichtet hatte“ (Platon, Symposion 220d). In seinem Dialog Nomoi möchte Platon für die beiden Götter Helios und Apollon einen gemeinsamen heiligen Bezirk im Sinne einer Kultgemeinschaft begründen (Platon, Nomoi XII 945e; Klaus Schöpsdau: Nomoi (Gesetze) Buch VIII - XII, 2011, S. 382 u. S. 538).
Sonnengott Helios, 2. Jh. n. Chr., Stoa des Attalos (Museum of the Ancient Agora, Athen), Inv.nr. S 2355. An der Büste befinden sich Löcher für die Befestigung der abgegangenen Strahlenkrone.
Besuch bei den Pythagoreern
Im Alter von etwa 40 Jahren bricht Platon zu einer großen Reise nach Unteritalien und Sizilien auf. Es ist eine zweite lange Bildungsreise, vielleicht auch nur die Fortsetzung der Kyrene-Ägypten-Reise. In Unteritalien besucht er die Pythagoreer. Er schließt eine lebenslange Freundschaft mit dem Philosophen Archytas von Tarent. Dieser ist nicht nur Mathematiker und Naturwissenschaftler, sondern zugleich Staatsmann und Feldherr seiner Vaterstadt. Bemerkenswert sind seine Forschungen im Bereich der Harmonik und Akustik, wo er die Tonhöhe mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalls in Verbindung bringt (Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, 2009, S. 56). Möglicherweise begegnet Platon an der Südostküste Kalabriens in Lokroi auch dem Pythagoreer Timaios, den er später zur Hauptfigur des gleichnamigen Dialogs machen wird (Michael Erler: Platon, 2007, S. 50; a.A. Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, 1962, S. 75: Es liege kein Grund vor, Timaios als historische Persönlichkeit zu betrachten). Pythagoras selbst ist damals schon weit über hundert Jahre tot. Platons Freund Archytas ist dem jüngeren pythagoreischen Bund zuzurechnen, der sich bis zum Ende des 4. Jh. v. Chr. in Tarent halten kann. Dieser pflegt die Geistesaristokratie des älteren pythagoreischen Bundes mit einem ausgeprägten Interesse für die vier pythagoreischen Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik sowie für Philosophie und Medizin.
Auch [nach Unteritalien] konnte die Mathematik [ihn] ziehen, aber Platon leitet von [den Pythagoreern] nur die musikalische Theorie ab (Staat 530d), die mit ihrer Arithmetik notwendig verbunden ist. Diese letztere wird er bei ihnen gesucht haben aber auch anderes gleich Wichtiges. [...] Da war eine Religion, die sich zugleich als Wissenschaft gab; die mußte er kennenlernen. Endlich hatten die Pythagoreer wenigstens vorübergehend die politische Herrschaft in einigen unteritalischen Städten besessen, und sie bildeten auch jetzt noch eine weithin über Hellas verbreitete Gemeinschaft. [...] Allein von den Pythagoreern steht es fest, daß sie eine Bruderschaft waren, zusammengehalten durch die Übung ihrer Religion, aber auch gemeinsam die Wissenschaften pflegend und lehrend, also ein Vorbild der platonischen Akademie (Wilamowitz-Moellendorff, a.a.O., S. 189).
Archytas von Tarent, Quelle: Österr. Nationalbibliothek Inv.nr. PORT 00135146 01
Das Ziel des Menschen ist es gemäß der pythagoreischen Lehre, in der Einheit von theoretischem Wissen (Mathesis) und praktischer Lebensführung (Askesis) Gott zu folgen und die göttliche Weltordnung nachzuvollziehen. Die Glückseligkeit (Eudämonie) besteht in der harmonischen Übereinstimmung mit Gott. Die Pythagoreer haben von den Orphikern die Lehre von der Seelenwanderung übernommen. Der Leib ist das Grab der Seele. Diese ist an den Leib gekettet. Durch den Weg der Übung und Reinigung soll sie sich von der körperlichen Sinnlichkeit läutern und wieder ganz Geist werden. Denn die Einzelseele gehört dem All-Leben des beseelten Universums an. Indem sie ihre Verunreinigung durch die individuelle Verkörperung überwindet, kann sie mit der Allseele wiedervereinigt werden (Röd, a.a.O., S. 58). Mathematik und Philosophie helfen dabei, den Menschen zu vergeistigen und von der Sinnlichkeit zu befreien. Durch die Harmonie und Gesetzmäßigkeit der Musik soll der Mensch harmonisch geformt werden. Die Seele gilt insofern als tugendhaft, als sie sich in die universale Harmonie der Gesamtwirklichkeit einfügt (Röd, a.a.O., S. 73). Gymnastische Übungen helfen dabei, den Körper unter die Zucht des Geistes zu bringen. Die Pythagoreer glauben an die durchgängige Verwandtschaft alles Lebendigen. Fleisch und Bohnen sind als Nahrung verboten. Die jüngeren Pythagoreer nehmen an, dass die Erde eine Kugelgestalt habe. Das ganze Himmelsgebäude ist Harmonie und Zahl. Durch die Zahl wird das Unbegrenzte/Unbestimmte zu einem Begrenzten/Bestimmten.
Man muss die Werke und das Wesen der Zahl nach der Kraft beurteilen, die in der Zehnzahl liegt. Denn sie ist groß, allvollendend, allwirkend und göttlichen und himmlischen sowie menschlichen Lebens Anfang und Führerin. […] Ohne diese aber ist alles grenzenlos und undeutlich und unklar. Denn erkenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und lehrend für jeglichen in jeglichem, das ihm zweifelhaft oder unbekannt ist. Denn nichts von den Dingen wäre irgendwem klar, weder in ihrem Verhältnis zu sich noch zu einander, wenn die Zahl nicht wäre und ihr Wesen. Nun aber bringt diese innerhalb der Seele alle Dinge mit der Wahrnehmung in Einklang und macht sie dadurch erkennbar… (Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 1954, S. 411 = Philolaos DK 44 B 11)
Das wesentliche Gegensatzpaar sind Peras, das Begrenzende/Bestimmende, und Apeiron, das Unbegrenzte/Unbestimmte. Das Apeiron wird durch das Peras begrenzt und dadurch überhaupt erst zu einer erkennbaren Einheit. Die Einheit ist der Ursprung aller Dinge. Die Harmonien der Töne in der Musik sind durch Zahlenrelationen bestimmt. In der musikalischen Harmonie wird die mathematische Struktur erkannt. Die musikalischen Intervalle stimmen mit mathematischen Proportionen überein. Die musikalische Ordnung ist ein harmonisches Proportionengefüge. Die Pythagoreer übertragen diesen Gedanken auf das gesamte Sein. Alles ist Zahl, die gesamte Welt ist ein harmonisch-mathematisches Ordnungssystem. Die Dinge sind durch Nachahmung (Mimesis) allgemeiner Zahlenbeziehungen als das bestimmt, was sie jeweils sind. Die Pythagoreer huldigen dem Ideal der Freundschaft und Verbrüderung aller Menschen sowie den geistigen Werten Besonnenheit, Gerechtigkeit, Weisheit und Frömmigkeit. Platon bewundert die pythagoreische Lebensweise; die Nachfolger des Pythagoras erscheinen ihm als „ausgezeichnet vor allen anderen“ (Platon, Politeia 600b).
Erste Reise nach Sizilien
388 v. Chr. reist Platon weiter nach Sizilien, um die Insel und den Vulkan Ätna mit seinen „Feuerschlünden“ zu besichtigen (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 18). Um den Vulkan ranken sich zahlreiche Legenden. So soll wenige Jahre vor der Geburt Platons der Philosoph Empedokles seinem Leben ein Ende bereitet haben, indem er in den Krater sprang. In seinem Dialog Phaidon bezieht sich Platon ausdrücklich auf die vulkanische Aktivität auf Sizilien.
Alle diese nun wären unter der Erde vielfältig gegen einander wie durch Bohrgänge, enger und weiter, verbunden, so daß sie Durchgänge haben unter sich, durch welche denn viel Wasser aus einem in den andern fließt, wie in Becher, und daß es unversiegende Ströme von unübersehbarer Größe unter der Erde gebe von warmen und kalten Wassern und viel Feuer und große Ströme von Feuer, viele auch von feuchtem Schlamm, teils reinerem, teils schmutzigerem, wie in Sizilien die vor dem Lavastrome sich ergießenden Ströme von Schlamm und der Lavastrom selbst, von denen denn alle Orte erfüllt werden, je nachdem jedesmal jeder seine Umwälzung nimmt. (Platon, Phaidon 111d-e)
Auf Sizilien erreicht Platon die Einladung an den Hof des Tyrannen Dionysios I. in Syrakus, der musische Interessen pflegt. „Offenbar spielte [Dionysios] bei dem Besuch [Platons] nur eine Nebenrolle; er hatte nichts weiter zu tun als ja zu sagen, als sein jugendlicher Verwandter Dion, der sich bei dem Tyrannen hoher Schätzung erfreute und an den Staatsgeschäften teilnahm, ihn um die Erlaubnis bat, den reisenden Philosophen, der ohnehin nach Syrakus kommen wollte oder schon dort war, einzuladen. […] Wenn Dion, wie wir annehmen, die Begegnung mit Platon gewünscht und herbeigeführt hat, die eigene und die des Dionysios, dann hat er schon etwas von Platon und seiner Philosophie gewußt; entscheidend für seine Hinwendung zur platonischen Lehre wurde allerdings, nach der Erzählung des Meisters, erst die persönliche Bekanntschaft. […] Nicht Platon also war es und natürlich noch viel weniger Dionysios, sondern Dion, der damals zuerst auf den Gedanken kam, platonische Philosophie in Syrakus zu verwirklichen.“ (Lothar Wickert: Platon und Syrakus, in: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge, 93. Bd., 1. H. (1949), S. 27-53, hier: S. 28-29). Sizilien war damals für sein Luxusleben bekannt, die schwelgerische Lebensweise war in dieser Hinsicht sprichwörtlich. Platon sieht darin einen Grund für die politische Instabilität der dortigen Gemeinden (Erler, a.a.O., S. 50).
Was mir aber bei meinem ersten Auftreten höchst mißfiel, das war das dort so genannte glückselige Leben, bestehend in der italischen und syrakusischen Völlerei, nämlich in der Gewohnheit, des Tags zwei schwelgerische Mahlzeiten zu halten, des Nachts nicht allein im Bette zu liegen, und überhaupt die mit solchem Leben zusammenhängenden Liebhabereien zu treiben. Denn kein Mensch unter dem Himmel vermag unter solchen Gewohnheiten, wenn er von Jugend auf darin sein Leben treibt, zu einem besonnenen und klugen Manne heranzureifen, noch weniger wird es ihm einfallen, nach der Fertigkeit eines in jeder Beziehung weisen Lebens zu streben, und dieselbe Behauptung gilt natürlich auch von den übrigen Tugenden. Ferner kann auch kein Staat selbst unter der besten Verfassung zum Glücke des inneren Friedens gelangen, wenn seine Bürger einerseits glauben, alles in übermäßiger Verschwendung durchbringen zu müssen, wenn sie andererseits es für richtig halten, sich weder in körperlicher noch in geistiger Beziehung einer Anstrengung unterziehen zu dürfen, außer wenn es gilt, sich bei schwelgerischen Eß- und Trinkgelagen sowie im Bette der Wollust zu zeigen. Solche Staaten stehen bald unter einem absoluten Tyrannen, bald unter der Herrschaft der Oligarchen, bald unter einer Pöbelherrschaft, und kommen aus diesen Revolutionen gar nicht heraus... (Platon, Siebter Brief 326b-d).
Insel Ortygia, wie sie sich heute darstellt. Foto: Agostino Artnoir Sella, ccbysa2.0
Das historische Zentrum der Stadt Syrakus ist die Insel Ortygia. Als Gast wohnt Platon auf dieser 40 ha großen „Wachtelinsel“, die durch ein System ringförmiger Befestigungen von Dionysos I. zu einem Tyrannensitz mit Palast, Garten und geheimem Hafen ausgebaut worden ist (Wolfram Hoepfner: Philosophenwege. Xenia, Heft 52, 2018, S. 28 ff.). In einer Diskussion erklärt Platon freimütig, dass er den Tyrannen nicht für den glücklichsten Menschen halte. Der Tyrann solle nicht nach dem bloßen Nutzen trachten. Er solle besser den inneren Tugendwert zum Maßstab seines Handelns machen. „In einer zornigen Aufreizung erwidert [Dionysios]: Deine Worte schmecken nach Altersschwäche. Darauf Platon: Und deine nach Tyrannenlaune“ (Diogenes Laertius, Vitae philosophorum III 18). Platon überwirft sich mit Dionysios I., schließt aber Freundschaft mit dem schwerreichen Dion, dem Schwager und späteren Schwiegersohn des Tyrannen. Dieser ist etwa 20 Jahre alt.
Dion war, als ich mit ihm zusammen kam, noch jung, und ich trug ihm die zum Heile der Menschheit führenden moralisch-politischen Grundlehren theoretisch vor, außerdem gab ich ihm auch Anleitung zur praktischen Durchführung derselben, dadurch war ich wohl auf gewisse Art ohne Wissen und Willen das unschuldige Werkzeug zur späteren Auflösung der despotischen Zwangsherrschaft. Denn Dion, welcher bekanntlich eine sehr große Lernfähigkeit hatte, war überhaupt, insbesondere aber bei dem Vortrag meiner Ideen über die moralisch-politische Verbesserung der Menschheit, ein so aufmerksamer und fleißiger Zuhörer wie keiner der jungen Leute, welche ich unterrichtete, auch die Praxis seines übrigen Lebens beschloß er ganz anders einzurichten als das der meisten Italer und Sizilier, indem er das Leben eines tugendhaften Mannes weit lieber gewann als das des sinnlichen Vergnügens und der übrigen vornehmen Üppigkeit. (Platon, Siebter Brief 327a-b)
Die erste Sizilienreise endet in der antiken Überlieferung mit einer typischen Tyrannenanekdote. Dionysios I. erteilt dem Spartaner Pollis den Auftrag, Platon zu beseitigen. In einer Variante der Erzählung wird Platon direkt ausgeliefert, in einer anderen Variante wird das Schiff auf dem Weg von Syrakus nach Athen von den Spartanern gekapert. Platon wird auf dem Sklavenmarkt von Ägina an Annikeris aus Kyrene verkauft, der ihm die Freiheit schenkt. Als Dion dies hört, erstattet er Annikeris das Lösegeld, der es aber nicht annehmen will und an Dion zurückschickt. Die Summe von 20 bis 30 Minen fließt dann in den Kauf des Akademiegartens (vgl. Konrad Gaiser: Der Ruhm des Annikeris (1983), in: ders.: Gesammelte Schriften, 2004, S. 597–616).
Forschung und Lehre an der Akademie
Nach seiner Rückkehr gründet Platon in Athen um 387 v. Chr. im heiligen Hain des Heros Akademos die nach diesem benannte Akademie. Sie liegt außerhalb der Stadtmauern in der Nähe des Flusses Kephisos. Die Akademie ist ein parkartiges Gelände mit einem Hauptgebäude, dem Museion, und dem Gymnasion, einer Trainings- und Sportstätte. Östlich des Geländes erwirbt Platon mit der finanziellen Unterstützung Dions ein privates Gartengrundstück mit einem Haus am Kolonos Hippios (Reiter-Hügel). Dieser Hügel grenzt an die Akademie. Auf dem Grundstück der Akademie sind Gebäude aus der klassisch griechischen, hellenistischen und römischen Epoche ausgegraben worden, zwei davon werden zur Schule Platons gerechnet.
Im Süden fand man ein rechteckiges Peristyl, einen von Säulen umgebenen Innenhof mit angrenzenden Räumen. Dabei handelt es sich vermutlich um das Museion. Zu diesem Hauptgebäude als Institut für Forschung und Lehre gehörten im Innenhof Statuen der neun Musen auf Sockeln in einem Wasserbecken, dahinter eine große Bibliothek zum Studium, eine Exedra für die Vorlesungen sowie ein Saal für gemeinsame Mahlzeiten mit ausreichend Platz für sieben Klinen (Speisebetten). Exedra und Speisesaal liegen symmetrisch an den Seiten der Bibliothek und öffnen sich wie diese zur nördlichen Halle des Peristyls. Möglicherweise handelt es sich bei diesen beiden Seitenräumen aber auch um zwei zusätzliche Depots für die weniger wertvollen Schriftrollen. Bei den langen nördlichen Eckräumen mit 5,20 m x 15 m könnte es sich um die Hörsäle handeln. Hier fanden auf Bänken mehr als 100 Personen Platz. Die Säulenhallen an den Seiten sind 44,40 m lang und 5,20 m tief, der Hof selbst ist 23,40 m breit. Die Säulen waren vermutlich aus Holz, Steinsockel für die Säulen sind nicht erhalten. Da in den östlichen, westlichen und südlichen Säulenhallen quadratische Fundamente für gemauerte Tischsockel gefunden wurden, kann von Lesesälen mit insgesamt über 40 Tischen ausgegangen werden. Zwischen den Säulen könnten Brüstungen aus Holz und Vorhänge die Leser vor Sonne und Wind geschützt haben. Dieses Hauptgebäude der Schule Platons stammt aus dem 4. Jh. v. Chr. und wurde in der Kaiserzeit erneuert.
240 m nördlich davon wurde ein quadratisches Peristyl mit 40 m Seitenlänge und einem daneben befindlichen isolierten Saal ausgegraben, der 12,70 m x 8,70 m groß ist. Bei diesem Gebäudekomplex handelt es sich wohl um das Akademie-Gymnasion. Archaische Dachziegel, die hier gefunden wurden, weisen auf das hohe Alter der Anlage hin. Sie stammt vermutlich aus dem 6. Jh. v. Chr. und wurde im 4. Jh. v. Chr. erneuert (Wolfram Hoepfner: Philosophenwege. Xenia, Heft 52, 2018, S. 38 ff.; ders.: Platons Akademie. Eine neue Interpretation der Ruinen, in: ders. (Hrsg.), Antike Bibliotheken, 2002, S. 58 ff.).
Blick von der nordöstlichen Ecke über die Fundamente des Hauptgebäudes; das Wasserbecken für die neun Musen im Hof hat eine zeitgenössische Schutzüberdachung erhalten; die große Bibliothek oben rechts im Bild wird von den Zweigen eines Baums verdeckt.
Platon übt seine Lehrtätigkeit sowohl in seinem Garten als auch in der Akademie aus. Für die Teilnahme an den Lehrveranstaltungen verlangt er keine Bezahlung. Die Akademie wird privat finanziert, auch aus dem Vermögen Platons. Um sich erfolgreich zu bilden, sind bestimmte Eigenschaften erforderlich: ein gutes Gedächtnis, erkenntnisdurstige Lernbegierde, eine hochsinnige und edle Denkart, Anmut mit Sinn für Schönheit sowie eine geistige Verwandtschaft und Neigung zu Wahrheit, Gerechtigkeit, mannhafter Tapferkeit und Sophrosyne (selbstbeherrschte und maßvolle Besonnenheit in einer harmonischen Ordnung der Seele unter der Herrschaft der Vernunft, vgl. Platon, Politeia VI, 487a). Die Mitarbeiter und Schüler Platons genießen in der Akademie eine große Freiheit und dürfen auch eigene Schüler und Mitarbeiter haben (Döring, a.a.O., S. 6). Das Studienprogramm der Akademie kann mittelbar über die Schriften Platons erschlossen werden.
Was von [dem] Lehr- und Wissenschaftskonzept des platonischen Staates und des Siebten Briefes ist auf die Akademie übertragbar? […] Da ist einmal der Gedanke der Auswahl, des kleinen elitären Kreises der verwandten Seelen, um einen Ausdruck des Phaidros zu gebrauchen, wobei „verwandt“ auf den Erkenntnisgegenstand bezogen ist, auf die Idee, das Gute, und die freundschaftstiftende Gleichheit der Gefährten sich erst über die gemeinsam anerkannte Norm herstellt. Zum zweiten wird man die Unterrichtsfächer der Lehr- und Lernstufe auch für das Unterrichtsprogramm der Akademie voraussetzen dürfen, also Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Harmonielehre, deren Sequenz sich nach dem Prinzip der wachsenden Dimensionen organisiert. Der Mathematik, als dem einigenden Band dieser Einzelfächer und als Vorbereitungsdisziplin für die eigentliche Philosophie, die Platon Dialektik nennt, muß in der Akademie eine besondere Bedeutung zugekommen sein. [Die Mathematik ist] bei Platon das eigentliche Medium der Wissenschaftlichkeit [und besitzt] für Ontologie, Physik, Politik und Ethik die Funktion eines durchgängigen Strukturmodells […]. Zum dritten zeigt die Zuordnung bestimmter Lern- und Erkenntnisstufen zu unterschiedlichen Abschnitten des Lebensalters, daß auch bei einer Beschränkung auf die Lernphase ab dem 20. Lebensjahr das Akademieprogramm kein Schnellkurs gewesen sein kann, sondern die Zugehörigkeit zur Schule Platons vielfach eine Lebensentscheidung bedeutet haben muß. […] Schließlich ein Viertes: Im Unterrichtsprogramm der Politeia, das für den kleinen Kreis derjenigen, aus dem einmal die künftigen Regenten des Staates hervorgehen sollen, gilt, ist wenig von dem, was wir unter Politikwissenschaft verstehen, die Rede, um so mehr von Zahlen, Proportionen und der Idee des Guten. Für Platon hängt im Bereich der Wissenschaft alles mit allem zusammen. Die Allverwandtschaft der Welt, von der im Menon die Rede ist und die ein methodisches Fortschreiten der Erkenntnis erlaubt, wenn man nur einen Zipfel des Ganzen in der Hand hält, gilt auch für Platons Wissenschaftskonzept. Das Erkenntnisziel des platonischen Philosophen ist eine Allkompetenz für alle Einzeldisziplinen unter dem Aspekt des Guten (Carl Werner Müller: Platons Akademiegründung; in: Hyperboreus 1 (1994), S. 56-73, hier S. 64-65).
Bedeutende Philosophen wirken an Platons Akademie: Platons Neffe Speusippos, der auch sein Nachfolger wird, Xenokrates, der nach Speusippos die Schulleitung übernimmt, und Aristoteles, der zwanzig Jahre lang Platons Schüler ist und die Philosophie seines Lehrers teils fortführt, teils kritisiert und verändert. Die Lehr- und Forschungstätigkeit in der Akademie wird gelegentlich durch Symposien aufgelockert, kultische Trinkgelage zu Ehren des Weingotts Dionysos und anderer Götter. Die Speisen und Getränke sind einfach, manchmal werden Gäste dazu eingeladen (Döring, a.a.O., S. 7).
Platons Akademie, von links nach rechts: Herakleides Pontikos, Speusipp mit Schriftrolle, Platon mit Zeigestock, ein Hinzukommender verhüllt die Arme, Eudoxos von Knidos stützt das Kinn auf die Hand, Xenokrates mit Schriftrolle, Aristoteles mit Schriftrolle. Die Sitzbank mit den Löwenfüßen ist die Exedra vor einem Ölbaum. Die Vierzahl der geweihten Kessel auf dem Querbalken des Epistyls erinnert vielleicht an die mathematischen Musenkünste Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie. Im Vordergrund links ein als Bibliotheke dienendes Kästchen und rechts ein Himmelsglobus (Konrad Gaiser: Das Philosophenmosaik in Neapel, 1980, S. 60-67).
In seiner Forschung und Lehre an der Akademie bemüht sich Platon, Seiendheit, Gutsein und Wahrheit im Eins‐sein und zuletzt in dem Einen als dem Urgrund zu gründen. Er lehrt, die Arete (Gutsein, Bestform, Tauglichkeit) als das wahrhaft Seiende zu denken und als Seiendes in ihrem wesenhaften Bestand auf das Eine als den Seinsgrund, das Maß, die Norm aller Dinge, zurückzuführen (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 564). Das höchste Maß und seine Harmonie walten auch im Universum. Die göttlich-kosmische Ordnung ist eine Welt der Proportionen. Das Maß gründet die harmonische Ordnung, das Proportionsgefüge, die richtige Zuordnung der Teile, den Zusammenhalt. Es ist das Wesen der Einheit, als Maß zu erscheinen. Erkennbar und seiend ist nur, was Einheit ist. Harmonie entsteht durch die Ordnung und die Ausgewogenheit der Proportionen (Maßverhältnisse). Die Gesundheit des Körpers ist ein Beispiel für das geheimnisvoll Zusammenstimmende von allem in der Maßbestimmtheit des harmonischen Zustands (Platon, Philebos 25e). Sie ist ein Beispiel für die innere Gemessenheit, das in den Dingen liegende richtige Maß. Das Eigentliche, worauf es ankommt, ist das Angemessene, das Rechte, das Geziemende, die richtige Anpassung an das Gebot der Stunde, das im rechten Augenblick Richtige, die zum guten Zustand führende Harmonisierung der Teile. Alles Gute ist schön, das Schöne ist nicht disproportioniert, Schönheit gibt es nicht ohne das rechte Maß (Platon, Timaios 86c).
Als Orientierungsverhältnis erfüllt das Maß eine sinngebende Funktion. Maß, Ordnung und Proportion bestimmen über den Grad der Vollkommenheit. Der Einklang der harmonischen Proportion ist zugleich die Schönheit. Das Gute wird deshalb auch als schön gerühmt. Die Frage nach dem Gutsein des Menschen und der Dinge zieht sich durch das gesamte Werk Platons. Das Gutsein ist das Maßvolle und Mittlere, das richtige Verhältnis zwischen Überschuss und Mangel, das Zusammenspiel von Ganzem und Teil. Das Maß begründet überall die Proportion, die Ordnung und das Eidos (Form, Idee) als Maß- und Wasbestimmheit. Es ist zugleich Ursache und Inbegriff des Gutseins. Das Gute ist nichts anderes als das einzige, höchste, exakteste und göttliche Maß, der göttliche Grund der Ordnung und des Seins, das Prinzip der Einheit (Konrad Gaiser: Platon und die Geschichte, 1961, S. 25). Die richtige Mitte nimmt den Charakter eines Weltprinzips an: „Das Maß aller Dinge ist die Gottheit“ (Platon, Nomoi 716c). Gott hält als Gegenwärtiger auch seine Mitte. Wer das Maß der göttlichen Vernunft hat, der ist Gott ähnlich. „Wenn der Mensch den Zwiespalt seiner Seele zur Ordnung und zur Eintracht bringt, so tritt er in das ihm vorgezeichnete Maß; er wird, wie die Griechen sagen, maßhaft – [metrios]; die Einheit des Gottes kommt in ihm zur Erscheinung. Die europäische Philosophie nennt die im Menschen erscheinende Einheit des Gottes ‚Vernunft‘. Dann ist der Mensch wie der Kosmos ein Götterbild“ (Georg Picht: Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, 1990, S. 320). Es ist die Pflicht des Menschen, das göttliche Ebenmaß auch im eigenen Leben darzustellen. Wer selig werden will, der folge demütig dem Gott nach in einem geordneten Lebenswandel und in dem Bemühen, Gerechtigkeit als Maßbestimmtheit im Leben zu verwirklichen (Platon, Nomoi 716a-d). Gott folgen und der Vernunft gehorchen sind ein und dasselbe. Das Ziel ist die Vollendung des Menschen, seine Angleichung an Gott.
Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das wahrhaft Seiende richtet, [...] hat ja wohl nicht Zeit, hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen und im Streit gegen sie sich mit Eifersucht und Widerwillen anzufüllen; sondern auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes schauend, was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung und Regel sich verhält, werden solche auch dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme? [...] Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Menschen möglich ist. (Platon, Politeia 500c-d). [...] So müssen wir demnach denken von dem gerechten Manne, mag er nun in Armut leben oder in Krankheit oder was sonst für ein Übel gehalten wird, daß ihm ja auch dieses zu etwas Gutem ausschlagen werde im Leben oder auch nach dem Tode. Denn nicht wird wohl der je von den Göttern vernachlässigt, der sich bemühen will, gerecht zu werden und, indem er die Arete übt, soweit es dem Menschen möglich ist, Gott ähnlich zu sein. (Platon, Politeia 613a). [...] Das Böse [...] kann weder ausgerottet werden, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber, und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß. Deshalb muß man auch trachten, von hier dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung [erfolgt dadurch], daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht. (Platon, Theaitetos 176a-b).
Platon im Museo Pio Clementino, Inv.nr. 305, Mitte 1. Jh. n. Chr. Die Büste basiert wahrscheinlich auf einer Satue des Bildhauers Silanion, Mitte 4. Jh. v. Chr.
Die Gründung des Idealstaats scheitert
366 v. Chr. unternimmt Platon eine zweite Reise nach Syrakus auf Einladung des jungen Tyrannen Dionysios II., der seinem Vater Dionysios I. nachgefolgt ist. Dion hat den Sohn seines Schwagers dazu veranlasst, Platon als philosophischen Ratgeber einzuladen. „Was ihn in Syrakus erwartete, war ein mächtiger Herrscher, ungeformt, aber der Bildung fähig und bereit, sich bilden zu lassen, an der Spitze eines Staates, der ebenfalls noch der Formung harrte, und beraten von einem Manne, der nicht nur selbst vom Werte der Lehre Platons durchdrungen war, sondern dessen hohe Eigenschaften wenigstens zu Anfang von dem jungen Herrscher geschätzt und bewundert wurden (Plut. Dion 7, 1). Dieses Zusammentreffen günstiger Bedingungen, ein Kairos im wahren Sinne, berechtigt uns zu der Behauptung, daß Platon, hätte er zu wählen gehabt, in der ganzen griechischen Welt zu dem damaligen Zeitpunkt schwerlich einen Ort gefunden hätte, der für die Realisierung seiner Gedanken geeigneter gewesen wäre als Syrakus“ (Lothar Wickert, a.a.O., S. 45-46). Platon versucht erfolglos, den Machthaber dafür zu gewinnen, einen idealen Staat auf der Grundlage einer konstitutionellen Monarchie zu verwirklichen. Dionysios II. löst sein zunächst erteiltes Versprechen letztlich doch nicht ein, Land und Leute für das Experiment eines solchen philosophischen Idealstaats zur Verfügung zu stellen (Michael Erler, a.a.O., S. 55). Der junge Tyrann ist nur oberflächlich an Philosophie interessiert.
Als ich aber ankam, so fand ich, um mich kurz zu fassen, die Umgebung des Dionysios voller Zwietracht, und den Dion vom Verdacht belastet, er strebe nach dem Throne. Ich meinerseits suchte ihn nun nach Kräften zu verteidigen, ich richtete aber wenig aus, und kaum etwa nach dem ersten Vierteljahr meines Dortseins ließ Dionysios den Dion unter dem angeblichen Grunde, daß dieser ihm nach dem Throne strebe, in ein kleines Boot schaffen und schickte ihn in die Verbannung. Ich mit allen Freunden Dions hatte hierauf große Besorgnis, Dionysios möchte aus irgend einem Vorwande auch gegen einen von uns, als angeblichen Mitschuldigen an Dions Anschlag, seine Maßregeln ergreifen, und über mich ging auch in Syrakus ein Gerede, als sei ich, der Urheber aller jener damaligen politischen Vorgänge, von Dionysios hingerichtet worden. Als derselbe aber von dieser unserer Stimmung Kenntnis bekam, so empfing er uns alle, aus Besorgnis, daß unsere Furcht zu etwas Ärgerem führen möchte, sehr gnädig und sprach sonach insbesondere mir Beruhigung und Mut ein, ermunterte und bat sogar, daß ich auf alle Weise bleiben möchte. Denn wenn ich floh, so konnte ihm daraus nichts Gutes erwachsen, wohl aber aus meinem Verbleiben. Daher er denn auch so sehr gnädig geruhte mich zu bitten. Aber von den Bitten der Tyrannen wissen wir, daß sie mit Befehlen gesalzen sind. Zu diesem Ende gebrauchte er nun eine List und machte mir die Abfahrt unmöglich dadurch, daß er mich auf die Burg versetzte und da ein Quartier anwies, von wo gar kein Schiffer gegen den Befehl Dionysios, ja nicht einmal ohne Zusendung eines allerhöchsten Befehls, von ihm mich fortgeführt haben würde. Hätte ich aber allein fortreisen wollen, so würde der Herr jedes Handelsschiffes oder der nächste Hafenbeamte mich erwischt, festgenommen und schnell wieder zu Dionysios zurückgeführt haben, zumal da bereits von dem früher einmal ausgesprengten Gerüchtvon meiner angeblichen Hinrichtung gerade wieder das Gegenteil verbreitet war und überall erzählt wurde, wie huldvoll Dionysios den Platon jetzt behandle. Was war aber an diesem letzteren Gerüchte? Das will ich euch sagen, denn die Wahrheit darf man nicht verschweigen. Dionysios wurde immer zutraulicher, je länger er in unserem Umgang mein Benehmen und meine Lehre kennen lernte, aber er hatte dabei die Laune, daß ich ihn mehr loben sollte als den Dion, und daß ich ihn als Freund entschieden höher achten sollte als diesen, und in Beziehung auf so eine Äußerung von mir war er außerordentlich empfindlich. In dem Benehmen dagegen, durch welches seine Absicht, sofern sie erreichbar gewesen wäre, am besten hätte erreicht werden können, war er lässig. Dies Benehmen hätte aber selbstbegreiflich darin bestanden, daß er durch Studieren und Hören meiner philosophischen Lehre sich mir innig und häufig genähert hätte. Das tat er aber nicht aus Furcht, er möchte etwa, wie Verleumder ihm zugeflüstert hatten, auf irgendeine Weise sich hinters Licht führen lassen, und dann sei natürlich die Absicht Dions erreicht. Ich dagegen ertrug alle diese Unannehmlichkeiten ruhig und hielt fest an dem Hauptgedanken, mit welchem ich anfangs hingekommen war, beharrlich alles versuchend, ob nicht auf irgendeine Weise ein Verlangen nach dem philosophischen Leben bei ihm entzündet werden könnte. Er aber besiegte durch Widerstreben meine Beharrlichkeit. (Platon, Siebter Brief 329b-330c)
Platon kehrt nach Athen zurück. Dion hält sich während der vielen Jahre seiner Verbannung dort häufig auf, um mit Platon gemeinsam in der Akademie zu philosophieren. In Athen wohnt Dion im Hause des Kallippos, der ebenfalls der Akademie als Schüler angehört und mit dem ihn die gemeinsame Teilnahme an den geheimen Mysterien von Eleusis zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter verbindet. 361 v. Chr. reist Platon zum dritten Mal gemeinsam mit Speusippos und Xenokrates nach Sizilien. Doch zeigt sich Dionysios II. weiter unbelehrbar. Platons Bemühungen, den idealen Staat zu verwirklichen, sind vergeblich. Auf dem Rückweg nach Athen trifft er seinen Freund Dion in Olympia. Dieser greift mit seinen Anhängern zur Gewalt und stürzt den Tyrannen. Platon unterstützt den Putsch gegen Dionysios II. nicht, aber er hält still und duldet es, dass Mitglieder der Akademie sich der Truppe Dions anschließen. Dieser erringt die Macht in Syrakus. 354 v. Chr. wird Dion als Regent auf Veranlassung seines eigenen Parteigängers Kallippos ermordet. In der Folge erlangt Dionysios II. vorübergehend wieder selbst die Herrschaft.
Die letzten Jahre
Der Versuch, Politik und Philosophie in einem idealen Staat zu vereinigen, ist endgültig gescheitert. Platon hat nie geheiratet und auch keine Kinder gezeugt (Döring, a.a.O., S. 4). Seine letzten 13 Lebensjahre verbringt er als Philosoph in der von ihm geführten Akademie. Er vollendet bedeutende Werke wie die Dialoge Philebos und Timaios. Sein staatstheoretisches Werk Nomoi kann er nicht mehr fertigstellen, er stirbt 347 v. Chr. Die Beerdigung findet unter großer Anteilnahme der Athener statt, das Grab liegt in der Nähe der Akademie. Platons Brüder sind bereits tot. Erbe wird sein Großneffe Adeimantos, der Enkel des gleichnamigen Bruders Platons. Sein Neffe Speusippos, der Sohn seiner Schwester Potone, übernimmt als Nachfolger die Leitung der Akademie. Bei dessen Wahl ist Aristoteles nicht anwesend. Der Unterrichtsbetrieb dieser ersten Athener Philosophenschule dauert bis ca. 86 v. Chr., eine spätantike Neugründung wird von dem oströmischen Kaiser Justinian I. im Jahre 529 n. Chr. geschlossen.