Platons bekanntester Schüler Aristoteles (348 - 322 v. Chr.) lehnte einen großen Teil seiner Auffassungen ab, vor allem die Ideenlehre. Seine Kritik der Ideenlehre hat ihre Wurzeln bei Platon selbst, der sich in den späteren dialektischen Dialogen auf das ontologisch-methodologische Problem konzentriert hatte. Das Methodenproblem war offensichtlich schon zu Platons Lebzeiten innerhalb der Akademie diskutiert worden. Aristoteles hat die Ideenlehre als poetische Metapher und leeres Gerede kritisiert und die Ideen als nicht seiende reine Abstrahierungen von den vielerlei existierenden Dingen bezeichnet (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 312 f.).
Wenn man aber sagt, die Ideen seien Urbilder und die Einzeldinge hätten teil an ihnen, so sind das leere Phrasen und nichts als poetische Metaphern. (Aristoteles, Metaphysik 991a 20)
Nach Aristoteles existiert das Allgemeine immer nur im Einzelnen. Auf die Frage, was die Ousia eines konkreten Einzeldings sei, antwortete Aristoteles in Metaphysik Zeta: die Form (eidos). Eidos ist für ihn die dem Ding innewohnende Formbestimmung (Aristoteles, Metaphysik 1037a 29; 1041b 5-10). Aristoteles bestimmte damit die Seiendheit als das sich in den Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen. Er verzichtete darauf, etwas von den Erscheinungen selbst Verschiedenes, also eine „zweite Welt“, als ihre Ursache anzunehmen. Die Kluft zwischen Ideen- und Sinnenwelt führe zu einer unnötigen Verdopplung der Welt (Otfried Höffe: Aristoteles, 3. Aufl. 2006, S. 180 f.). Aristoteles lehrte, dass das im Begriff erkannte Sein der Dinge keine andere Wirklichkeit besitze, als die Gesamtheit der Erscheinungen, in denen es sich verwirkliche. Die Seiendheit (ousia) nimmt bei ihm den Charakter des Wesens (to ti ên einai) an. Es bildet den alleinigen Grund seiner einzelnen Gestaltungen und ist nur in den Einzeldingen selbst wirklich. Alle Erscheinung wird zur Verwirklichung des Wesens. Im Gegensatz zu dem Gedanken einer Teilhabe (methexis) der Sinnendinge an der real unabhängig davon bestehenden Form bzw. Idee (eidos) wird im aristotelischen Sinn nur eine formale Abtrennbarkeit zugestanden und ein kausales und dynamisches Verhältnis angenommen: Ousia des Dinges ist für Aristoteles die innewohnende Form (eidos to enon), aus welcher in Verbindung mit der Materie das konkrete Wesen besteht (Aristoteles, Metaphysik 1037a 29-30). Alles strebe danach, seine Form zu verwirklichen. Ousia ist damit für Aristoteles ein inneres Formprinzip und determiniert als solches das Wesenswas bzw. Sosein des einzelnen Seienden (Detlev Pätzold: Art. Substanz/Akzidens, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, 1990, S. 484). Der Unterschied zur platonischen Position liegt dabei in der Frage nach der realen oder nur formalen Abtrennbarkeit (Chorismos) der Wesenheit oder Form vom Einzelseienden. So betonte Aristoteles:
Ich meine, dass außer den einzelnen nicht ein Lebewesen existiert, noch existiert sonst etwas von dem, was sich nur im Begriff findet. Wenn man die Sache unter diesen Gesichtspunkten erwägt, so wird deutlich, dass nichts Allgemeines ein Wesen ist, und dass das allgemein ausgesagte kein individuelles Etwas ist, sondern eine Qualität bezeichnet. (Aristoteles, Metaphysik 1038b 30 - 1039b 3)
Der Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus zieht sich durch die Philosophiegeschichte, wobei teils Vermittlungsversuche unternommen wurden, teils Platoniker und Aristoteliker auf klare, mitunter scharfe und polemische Abgrenzung ihrer Positionen Wert legten.
Platon weist zum Himmel, Aristoteles zur Erde.
Mittelalter
In Konstantinopel, Antiochien und Alexandrien waren die Schriften Platons und Aristoteles im Mittelalter noch bekannt. Nach und nach kamen griechische Lehrer und Manuskripte auch in den Westen. Dort hatte nur ein kleiner Teil des hellenistischen Erbes die stürmische Zeit der Völkerwanderung überstanden. Von Platon bestanden nur noch unvollständige Übersetzungen des Timaios, später kamen noch die Dialoge Menonund Phaidon dazu. Außerdem war der größte Teil des aristotelischen Organon der Logik erhalten geblieben. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden viele Texte aus dem Griechischen und Arabischen in das Lateinische als der damaligen westlichen Wissenschaftssprache übertragen, die mit der christlichen Theologie nur schwer in Einklang gebracht werden konnten. Der wachsende Wohlstand führte gleichzeitig zu einem Aufblühen von Wissenschaft und Philosophie. Einen markanten Aufschwung erlebte der vom Timaios ausgehende mittelalterliche Platonismus durch die „Schule von Chartres“. Dabei handelte es sich um eine philosophische Ausbildungsstätte der Scholastik. Sie war damals eine der berühmtesten Schulen dieser Art.
Die Wurzeln der Schule von Chartres gehen zurück bis ins 5. Jahrhundert. Fulbert, der vermutlich aus Italien stammte und in Reims ein Schüler des Abtes Gerbert war, baute den Lehrbetrieb und die Bibliothek erheblich aus. Er gilt deshalb als der eigentliche Gründer der Schule von Chartres und wurde dort 1006 Bischof. Seine Schule wurde in der Folgezeit der Sitz eines mit dem Naturstudium verschwisterten Platonismus. Der Leiter oder Lehrer der Schule war der scholasticus. Schole(griech. scholé)heißt ursprünglich „Muße“ im Sinne eines zweckfreien Sich-Versenkens und kontemplativen Betrachtens (Josef Pieper: Philosophische Bildung und geistige Arbeit, in: ders., Schriften zum Philosophiebegriff, 2004, S. 9 f.). Aus der mittelalterlichen höheren Schule entwickelten sich später die Universitäten. Zu den Fächern gehörten die sieben freien Künste (artes liberales): Das Trivium bildeten Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Das Quadrivium bildeten Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Die in Chartres gelehrte Art der philosophischen Beweisführung und Darlegung war die scholastische Methode. In Chartres wurden Philosophie und Literatur miteinander verbunden. Es entwickelte sich eine Tradition, schwierige philosophische Probleme mit Klarheit und Anmut zu behandeln. Platon wurde besonders geschätzt. Die Timaios-Exegese der Schule von Chartres zeichnete sich durch eine innere Verflechtung von Physik und Metaphysik aus, wobei der Weltseele eine besondere Bedeutung zugemessen wurde (Theo Kobusch: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters. Geschichte der Philosophie, Bd. V., 2011, S. 98 ff.).
Fulbert von Chartres selbst war kein besonders origineller Denker. Er riet seinen Schülern, sich an die Schriften der Kirchenväter zu halten. Der berühmteste Schüler Fulberts war Berengar von Tours. Den Höhepunkt ihres Einflusses erreichte die Schule mit Bernhard von Chartres und Thierry von Chartres. Drei Schüler prägten über fast ein halbes Jahrhundert hinweg die philosophische Diskussion: Wilhelm von Conches, Gilbert de la Porrée und Johannes von Salisbury. Man darf aber nicht alle mit der Schule von Chartres in Verbindung gebrachten Personen dort lokalisieren. Diese Fiktion gilt als überholt. Das verbindende Element ist der Platonismus, auch wenn womöglich in Paris oder an anderen Orten gelehrt wurde.
Renaissance
Die „Wiedergeburt“ der antiken Bildung und die „Rückkehr zu den Quellen“ im Renaissance-Humanismus wirkte sich auch auf die Platon-Rezeption nachhaltig aus. Im engeren Sinne wird als Humanismus das fortschrittliche, sich vom Mittelalter und der Scholastik abwendende geistige Klima des 15. und 16. Jahrhunderts bezeichnet. Man unterscheidet dabei zwischen der Renaissance als dem umfassenden kulturellen und sozialen Wandel zwischen Mittelalter und Neuzeit und dem Humanismus als der Bildungsbewegung, die ihm zugrunde liegt. Nachdem es bereits von den Kreuzfahrern verwüstet und geschwächt worden war, fiel im Jahr 1453 Konstantinopel, die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, an die Türken. Dadurch gelangten zahlreiche byzantinische Gelehrte und eine Fülle von griechischen Handschriften in den Westen. Erst mit der Einbeziehung der griechischen Sprache und Literatur gewann der humanistische Kanon seine volle Gestalt (Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, 2002, S. 20). Auch die Erfindung des Buchdrucks war den Bestrebungen der Humanisten nützlich. Er verhalf ihren Werken zu weiter Verbreitung und machte die ganze gelehrte Welt mit ihren Ideen bekannt.
In der Renaissance wird die antike Kultur als unübertrefflich nachgeahmt. Das Studium der antiken Literatur und Philosophie dient dazu, sich einer in sich ruhenden Bildung zu vergewissern und sich von theologischen und philosophischen Vorentscheidungen zu lösen. Der über den ständischen Gliederungen stehende uomo universaleverkörpert das ideale Menschenbild. Die Verherrlichung des Menschen ergibt sich bei den italienischen Humanisten aus der Überzeugung, dass der Mensch als das Ebenbild Gottes das Höchste in der ganzen Schöpfung sei (Friedrich Klingner: Humanität und Humanitas, in: Römische Geisteswelt, 1979, S. 716). Im 15. Jahrhundert werden die im Westen bisher größtenteils unbekannten Dialoge Platons und auch Werke von Neuplatonikern in griechischen Handschriften entdeckt, ins Lateinische übersetzt und kommentiert. Der berühmte Florentiner Humanist und Platon-Übersetzer Marsilio Ficino bemüht sich um eine Erneuerung des Platonismus auf neuplatonischer Grundlage, wobei er besonders von Plotin ausgeht.
Diese Wiedergeburt des Platonismus in Florenz ist eng verbunden mit Cosimo de Medici. Schon in jungen Jahren interessiert er sich für Philosophie. Mit Ambrogio Traversari und Manuel Chrysoloras im Zentrum gibt es am Anfang des 15. Jahrhunderts zwei bedeutende Humanistenkreise, die sich für die antike Philosophie interessieren. Traversari ist Generalprior im Kloster Santa Maria degli Angeli. Er ist einer der wenigen italienischen Renaissance-Humanisten, der sowohl Griechisch als auch Latein spricht. Im Kloster von Camaldoli sorgt er für die Übersetzung antiker Schriftsteller. Der byzantinische Gelehrte Manuel Chrysoloras ist einem Ruf nach Florenz gefolgt und hält dort zahlreiche Vorlesungen über griechische Philosophie. Cosimo verfügt über ein großes Vermögen. In seinem Auftrag suchen die Humanisten Poggio Bracciolino und Niccolo Niccoli in ganz Europa nach antiken Texten, die in Klosterbibliotheken verwahrt und in Vergessenheit geraten sind. Eine große Zahl antiker Schriften gelangt durch den humanistisch gebildeten Antiquitätenhändler Giovanni Aurispa von Konstantinopel nach Rom. 1437 begegnet Cosimo de Medici griechischen Gelehrten auf dem Konzil von Ferrara, die zur Delegation von Byzanz gehören. Auf Einladung von Cosimo siedeln zahlreiche griechische Gelehrte mit der byzantinischen Delegation nach Florenz über, darunter auch Georgis Gemisto Plethon. Dieser ist schon über 80 Jahre alt und bei seinen berühmten Vorträgen sind fast alle humanistischen Gelehrten der Stadt anwesend. Cosimo möchte aus Florenz ein neues Athen machen. Er lässt Marsilio Ficino, den Sohn seines Leibarztes, bei Traversari studieren. 1464 beginnt Ficino mit der Übersetzung von Platons Dialogen in die damalige Wissenschaftssprache Latein. Die Florentiner Humanisten sehen sich in der Nachfolge von Platons Akademie und treffen sich an verschiedenen Orten in der Stadt oder in den Villen der Medici auf den Hügeln um Florenz. Über ein eigenständiges Akademiegebäude verfügen sie nicht. Man versammelt sich im Geiste der platonischen Philosophie, um Vorträge zu halten und im Sinne der Dialoge die Dialektik zu pflegen und zu diskutieren. Marsilio Ficino selbst differenziert bei den Teilnehmern zwischen den eng vertrauten Mitgliedern (familiares) und den sonstigen Zuhörern (auditores).
Diese „Academia Platonica“ in Florenz verbindet Neuplatonismus und Platonismus, christliche Mystik und griechische Mythen, mittelalterliche Scholastik und jüdische Gelehrsamkeit, antike Naturwissenschaft und arabische Forschung zu einer Weltanschauung. Wirklich seiend sind nur die Ideen als metaphysische Realitäten. Die irdischen Dinge sind nur die Abbilder dieser wahren Substanzen. Die Ideen sind dem Geist Gottes immanent. Als Funken des göttlichen Urlichts sind Einprägungen in der menschlichen Seele vorhanden, die dem Bewusstsein die Erkenntnis ermöglichen. Auch die Idee des Schönen ist dem menschlichen Geist eingeboren. Daraus folgt die Fähigkeit, auch an irdischen Dingen das Schöne zu erkennen. Schönheit ist ein Sieg der göttlichen Vernunft über die körperliche Materie. Sie ist ein Strahl vom Angesicht Gottes, der sich zuerst in die Engel hinein versenkt und dann die menschliche Seele und schließlich die Welt der Materie erleuchtet (Marsilio Ficino, Opera II, Symposion-Kommentar, S. 1336 ff.).
Die Begeisterung für die platonische Philosophie am Hofe der Medici wirkt sich auch auf die dort tätigen Künstler aus. Michelangelo verkündet immer wieder, dass die irdische Schönheit nichts anderes sei als der sterbliche Schleier, durch den hindurch wir die göttliche Gnade erkennen. Wir lieben die irdische Schönheit nur deshalb und dürfen dies auch, weil sie das Göttliche widerspiegelt. Umgekehrt ist sie der einzige Weg, auf dem wir die Schau dieses Göttlichen zu erlangen vermögen. Die Betrachtung des leiblich Vollkommenen führt das gesunde Auge zu himmlischen Höhen empor. Der Gedanke der Anamnesis ist Michelangelo ebenso wenig fremd wie die platonischen Mythen der Seelenbeflügelung und der Seelenwanderung. Der Gegensatz zwischen der die Seele niederziehenden Sinnenliebe und dem platonischen Eros wird von ihm in immer neuen Wendungen zum Ausdruck gebracht. Michelangelo gibt dem kunsttheoretischen Gemeinplatz, wonach die Skulptur durch die Wegnahme des Überschüssigen entstehe, den gleichnishaft-moralischen Sinn zurück, den er im Neuplatonismus besessen hat (Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Fundus 172, 2008, S. 151).
Im Inneren des unbearbeiteten Marmorblocks liegt die Idee verborgen. Der Künstler befreit die Form der Skulptur, indem er alles Überschüssige entfernt. Der Künstler fungiert dabei lediglich als ein Instrument, um die Idee eines Wesens oder einer Sache in die Realität umzusetzen. Dabei hilft ihm der Disegno, das ist die kreative erste Zeichnung in seiner Vorstellung, der erste Entwurf in seinem Geist, bevor er in die Außenwelt dringt. Der Disegno ist die schöpferische Basis, auf der jede formale Ausführung aufbaut. In ihm wird konkret, wie sich Form und Farbe gestalten sollen. Die Philosophie Platons bildet die Grundlage einer geistigen Haltung, wonach die Idee des Kunstwerks in seiner Vollkommenheit bereits vor der Ausführung existiert.
Nikolaus von Kues
Der römisch-katholische Theologe, Kardinal und Humanist Nikolaus von Kues (1401 - 1464 n. Chr.) nimmt vier Stufen des Erkennens an: 1. den nur verworrene Bilder liefernden Sinn, 2. den sondernden Verstand (ratio), 3. die spekulative Vernunft (intellectus) und zuhöchst 4. die mystische Anschauung, die in der Vereinigung der Seele mit Gott besteht. In Gott als dem Unendlichen sind alle Gegensätze der endlichen Dinge in Einheit aufgehoben (coincidentia oppositorum). Zugleich sind in Gott alle Möglichkeiten verwirklicht (er ist das poss-est d. h. das „kann-ist“). In Gott hängt für Nikolaus von Kues alles Seiende zusammen. Gottes Entfaltung, gewissermaßen sein Körper ist die Welt. Jedes Ding spiegelt an seiner Stelle das Universum wider. So ist auch der Mensch ein Spiegel des Alls, eine „kleine Welt“ (parvus mundus, Mikrokosmus). Seine Vervollkommnung ist nur eine Entfaltung seiner ursprünglichen Anlagen, seine Liebe zu Gott führt zum Einswerden mit Gott. Der Mensch könne dieser „in sich selbst bestimmten Unendlichkeit“ durch das „belehrte Nichtwissen“ (docta ignorantia) teilhaftig werden.
Ohne Zahl kann die Vielheit der Dinge nicht bestehen; denn ohne Zahl gibt es keine Unterscheidung, Ordnung, Proportion, Harmonie. Wäre die Zahl selbst unendlich, so wäre dasselbe der Fall. Denn daß die Zahl unendlich und daß sie gar nicht ist, kommt auf Eines hinaus. Man kommt daher bei der Zahl in aufsteigender Richtung auf kein absolut Größtes. Wäre bei der absteigenden Richtung dasselbe der Fall, so wäre wieder alle Ordnung, Proportion etc. unmöglich. Man muß daher in der Zahl auf ein Kleinstes kommen, das nicht kleiner sein kann, und dies ist die Einheit. Sie ist als das schlechthin Kleinste mit dem schlechthin Größten identisch; diese Einheit kann nicht selbst Zahl sein, wohl aber ist sie das Prinzip aller Zahl, weil das Kleinste, und das Ende aller Zahl, weil das Größte. Diese absolute Einheit, die keinen Gegensatz hat, ist das absolut Größte – Gott. Sie ist nicht der Vervielfältigung fähig, weil sie Alles ist, was sein kann. Sie kann daher selbst nie Zahl werden. Die Zahl hat uns also zu der Einsicht geführt, Gott sei die absolute Einheit, vermöge welcher er Alles wirklich ist, was sein kann. Wer daher sagte, es gebe mehrere Götter, der würde so viel sagen, als, es gebe keinen Gott und kein Universum... (Nikolaus von Kues: De docta ignorantia, 1. Buch, Kap. V, zitiert nach Fr. A. Scharpff (Übers.): Des Kardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften, 1862, S. 9 (Nachdruck 1965).
Giordano Bruno
Giordano Bruno (1548 - 1600 n. Chr.) war im Alter von 15 Jahren in den Dominikanerorden eingetreten. Er verließ ihn aber wieder wegen seiner freien und ungebundenen Auffassungen, um in den verschiedensten europäischen Universitätsstädten als Dozent und Schriftsteller zu wirken. Als Opfer der Inquisition wurde er in Rom am 17. Februar 1600 auf dem Campo di Fiore öffentlich verbrannt, ohne seine philosophischen Überzeugungen zu widerrufen. Die Theorien der Pythagoreer und Platons konnte Bruno aus verschiedenen Schriften des Aristoteles und aus scholastischen Kommentaren dazu beziehen (Paul Richard Blum: Giordano Bruno, 1999, S. 60). Das Universum ist nach Bruno unendlich, so unendlich wie unsere Einbildungskraft selbst. Unser Sonnensystem ist nur eines unter unzähligen anderen, sich bildenden und wieder vergehenden, unsere Erde gleich einem Atom. Ein ewiges Gesetz, eine einzige göttliche Kraft, wie es dem Wesen Gottes als des Unendlichen entspricht, durchwaltet das Weltall und hat alles harmonisch geordnet. Der wahre Philosoph findet die Gottheit in der Natur. Die Weltseele ist die alles bewirkende Ursache und das zweckvoll handelnde innere Prinzip aller Bewegung. Unkörperlich ist sie in jedem Stoff und formt diesen. Alle Dinge sind von ihr geformt und beseelt. Die Form steht nicht im Gegensatz zum Stoff. Auch dieser ist ein „göttliches Wesen“, das sich aus sich selbst heraus zu immer höheren Formen entfaltet. Stoff und Form treffen zusammen in dem einen Absoluten, das allen Dingen zugrunde liegt. Gott ist die höchste Ursache, das Prinzip und das Eine. Kein Menschenverstand kann diese absolute Einheit völlig erfassen. Um die Vielheit zu begreifen, müssen wir auf die Einheit zurückgehen. Die Einheit findet man nicht nur im Größten und Umfassendsten, sondern auch im Kleinsten und Einfachsten: räumlich im Punkt, physisch im Atom. Das Atom ist für Bruno nicht nur das Letzte der Teilung, sondern auch Anfangspunkt der Zusammensetzung und damit Grundbedingung der Existenz. Es gibt unzählige Monaden (Minima) verschiedener Grade. So ist z.B. die Erde ein Minimum im Verhältnis zur Sonne, das Sonnensystem ein solches im Verhältnis zum Weltall, und Gott ist die „Monade der Monaden“. Wer das innerste Wesen der Welt erfasst, für den verschwinden alle scheinbaren Mängel und alle einzelnen Schattenseiten in der Schönheit und Vollkommenheit des großen Ganzen, das sich auch im Kleinsten widerspiegelt. Jede Monade ist eine endliche Darstellungsform des einen göttlichen, unendlichen Seins, dem sie wieder zustrebt. Die Bestimmung des Menschen ist die Selbstvervollkommnung. Wenn er sich dem Urquell des Wahren, Guten und Schönen immer mehr nähert, dann verliert er die Angst vor dem Tod.
Da seht ihr also, wie alle Dinge im Universum sind und das Universum in allen Dingen ist, wir in ihm, es in uns, und so alles in eine vollkommene Einheit einmündet. Da seht ihr, wie wir uns nicht den Geist abquälen, wie wir um keines Dinges willen verzagen sollten. Denn diese Einheit ist einzig und stetig und dauert immer; dieses Eine ist ewig; jede Gebärde, jede Gestalt, jedes andere ist Eitelkeit, ist wie nichts; ja, geradezu nichts ist alles was ausser diesem Einen ist. Diejenigen Philosophen haben ihre Freundin, die Weisheit, gefunden, welche diese Einheit gefunden haben. Weisheit, Wahrheit, Einheit sind durchaus eins und dasselbe. Dass das Wahre, das Eine und das Wesen eins und dasselbe sind, haben viele zu sagen gewusst, aber nicht alle haben's verstanden. (Giordano Bruno: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Übers. von Adolf Lasson, Leipzig 1902, S. 101 f. Eine aktuelle von Paul Richard Blum herausgegebene Ausgabe des Werks in gleicher Übersetzung bietet die Philosophische Bibliothek, Bd. 21, Meiner, Hamburg 1993, dort ebenfalls S. 101 f.)
Johann Gottlieb Fichte
Für den deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814 n. Chr.) besteht das Wesen der Philosophie darin, „alles Mannigfaltige (das sich uns denn doch in der gewöhnlichen Ansicht des Lebens aufdringt) zurückzuführen auf absolute Einheit [...] Absolute Einheit, ist erklärt eben durch das Obige, seinen Gegensatz, rein in sich geschlossen, das Wahre, Unveränderliche an sich. Zurückzuführen: eben in der continuirlichen Einsicht des Philosophen selber, also: daß er das Mannigfaltige durch das Eine, und das Eine durch das Mannigfaltige wechselseitig begreife, d.h. daß ihm die Einheit = A als Princip einleuchte solcher Mannigfaltigen; und umgekehrt, daß die Mannigfaltigen ihrem Seinsgrunde nach nur begriffen werden können, als Principiate von A“ (Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre, 1834, S. 93). Für Fichte ist das wahrhaftige Leben identisch mit dem Sein. Davon zu unterscheiden ist das Scheinleben, das identisch ist mit dem Nichtsein. Das Sein ist einfach, unveränderlich, und bleibt ewig sich selbst gleich. Darum ist auch das wahrhaftige Leben einfach, unveränderlich und ewig sich gleichbleibend. Der Schein ist ein unaufhörlicher Wechsel, ein stetes Schweben zwischen Werden und Vergehen. Darum ist auch das bloße Scheinleben ein unaufhörlicher Wechsel und schwebt ständig zwischen Werden und Vergehen. Das Scheinleben wird durch unaufhörliche Veränderungen hindurchgerissen. Der Mittelpunkt des Lebens ist nach Fichte die Liebe. Das wahrhaftige Leben liebt das Eine, Unveränderliche und Ewige. Das Scheinleben versucht das Vergängliche in seiner Vergänglichkeit zu lieben (Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, in: Sämmtliche Werke, Bd. 5, Berlin 1845/1846, S. 405 f. Eine aktuelle von Hansjürgen Verweyen herausgegebene Ausgabe des Werks bietet die Philosophische Bibliothek, Bd. 234, Meiner, Hamburg 2001, dort insbes. S. 13 ff.). Das wahrhaftige Leben besteht in der Vereinigung mit dem Unveränderlichen und Ewigen. Das Ewige aber kann nur durch den Gedanken ergriffen werden. Es ist uns auf keine andere Weise zugänglich. Das Eine und Unveränderliche ist der Erklärungsgrund unserer selbst und der Welt. Die Welt und wir selbst sind in dem Einen so gegründet, dass wir überhaupt da sind und nicht im Nichtsein verbleiben. Wir selbst und die Welt sind aus dem inneren und in sich verborgenen göttlichen Wesen hervorgegangen.
Im Geiste, in der in sich selber gegründeten Lebendigkeit des Gedankens, ruhet das Leben, denn es ist ausser dem Geiste gar nichts wahrhaftig da. Wahrhaftig leben, heisst wahrhaftig denken und die Wahrheit erkennen. (Johann Gottlieb Fichte, a.a.O., 1845/1846, S. 410)
Der Mensch selbst ist nicht in der Lage, sich das Ewige zu erschaffen. Das Ewige ist in ihm und umgibt ihn unaufhörlich. Der Mensch soll sich aber von dem Hinfälligen und Nichtigen bewusst abwenden. Seligkeit ist Ruhen und Beharren in dem Einen. Elend ist Zerstreutsein über dem Mannigfaltigen und Verschiedenen. Um selig zu werden, soll der Mensch seine Liebe aus dem Mannigfaltigen zurückziehen und auf das Eine konzentrieren (Johann Gottlieb Fichte, a.a.O., 1845/1846, S. 412).
Das über das Mannigfaltige Zerstreute ist zerflossen und ausgegossen und umhergegossen, wie Wasser; ob der Lüsternheit, dieses und jenes und gar mancherlei zu lieben, liebt es nichts; und weil es allenthalben zu Hause seyn möchte, ist es nirgends zu Hause. Diese Zerstreutheit ist unsere eigentliche Natur, und in ihr werden wir geboren. Aus diesem Grunde nun erscheint die Zurückziehung des Gemüthes auf das Eine, welches der natürlichen Ansicht nimmer kommt, sondern mit Anstrengung hervorgebracht werden muss, als Sammlung des Gemüthes und Einkehr desselben in sich selber: und als Ernst, im Gegensatze des scherzenden Spiels, welches das Mannigfaltige des Lebens mit uns treibt, und als Tiefsinn, im Gegensatze des leichten Sinnes, der, indem er vieles zu fassen hat, nichts festiglich fasst. Dieser tiefsinnende Ernst, diese strenge Sammlung des Gemüthes und Einkehr zu sich selber, ist die einzige Bedingung, unter welcher das selige Leben an uns kommen kann; unter dieser Bedingung kommt es aber auch gewiss und unfehlbar an uns. (Johann Gottlieb Fichte, a.a.O., 1845/1846, S. 412 f.)
Nach Fichte ist das Eine unteilbar, aber es kann in jedem einzelnen Menschen erscheinen, wenn er sich frei macht:
Nicht etwa, dass das göttliche Wesen an sich selbst sich zertheilte; in allen ohne Ausnahme ist gesetzt und kann auch, wenn sie sich nur frei machen, wirklich erscheinen das Eine und unveränderliche göttliche Wesen, wie es in sich selber ist; nur erscheint dieses Wesen in jedem in einer andern, und ihm allein eigenthümlichen Gestalt. (Das Seyn, wie oben, gesetzt ≈ A, und die Form ≈ B; so scheidet das in B absolut eingetretene A, absolut in seinem Eintreten, nicht nach seinem Wesen, sondern nach seiner absoluten Reflexionsgestalt sich in [b + b + b + ∞] ein System von Individuen: und jedes nb hat in sich 1) das ganze und untheilbare A, 2) das ganze und untheilbare B, 3) sein b, das da gleich in dem Reste aller übrigen Gestaltungen des A durch [b + b + b + ∞]). (Johann Gottlieb Fichte, a.a.O., 1845/1846, S. 531)
19. Jahrhundert
Im frühen 19. Jahrhundert begründete der protestantische Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834 n. Chr.) das Dogma einer strengen Trennung zwischen Platon und dem Platonismus (d. h. der platonischen bzw. neuplatonischen Schultradition), das bis heute die wissenschaftliche Diskussion bestimmt. Damit setzte ein Umdenken ein, das zu einer Abwertung der neuplatonischen Metaphysik führte und bewirkte, dass man sich auf das emsige Studium der platonischen Dialoge beschränkte. Schleiermacher meinte, Platon habe seine Schriften nach einem einheitlichen schriftstellerischen Plan ausgearbeitet: „Der wahre Philosoph hebt nicht mit etwas Einzelnem an, sondern mit einer Ahnung wenigstens vom Ganzen“ (Friedrich Schleiermacher, Platons Werke, Theil I, Band 1, 1804, S. 75). Dabei erklärte Schleiermacher aber, dass sich die Philosophie Platons in der Gestalt des Gesprächs darstelle und nicht nach der Form eines geschlossenen Systems strebe. Er betonte die lebendige Bewegung der Dialektik. Für Hegel standen die späten Dialoge im Vordergrund, die ihn unter dem Gesichtspunkt der Dialektik interessierten, unter welchem er Platon als Vorläufer seines eigenen Systems betrachtete. Im Parmenides, den er für Platons Hauptwerk hielt, fand er die Vorprägung seiner Dialektik, im Timaios die Natur der Platonischen Idee.
Seit Karl Friedrich Hermann wurde in Platons Werken eine fortschreitende Entwicklung seiner Philosophie erkannt. Die Entstehungszeit der Dialoge rückte in den Vordergrund des Interesses. Hermann unterschied: 1. die Zeit des Umgangs mit Sokrates, 2. die Zeit der Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen (von der Übersiedlung nach Megara bis zur Gründung der Akademie) und 3. die Zeit der Reife.
Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreitete Verehrung für Platon bezog sich auch auf den Stil. Man las die Dialoge als literarische Kunstwerke und pries die Übereinstimmung von literarischer Form und philosophischem Inhalt. Neben der Schönheits- trat die Liebesthematik in den Vordergrund, die schon in der Platon-Rezeption Hölderlins eine wichtige Rolle gespielt hatte. Zu den Platonikern zählte auch der Dichter Percy Bysshe Shelley. Doch nicht nur Dichter und Romantiker, sondern auch Philologen begeisterten sich für den Schriftsteller Platon. So meinte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, dass Platons gelungenste Dialoge
...an echtem Kunstwerte die vollkommenste Prosadichtung heute noch sind, also wohl bis zum jüngsten Tage bleiben werden. Ihr Stil war gewissermaßen gar kein Stil, denn er war immer wieder anders. Es ließ sich alles in ihm sagen, was ein Hirn denken und ein Herz fühlen kann, und es ließ sich in jeder Tonart sagen, tragisch und komisch, pathetisch und ironisch. (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, 2. Aufl. 1907, S. 76)
Für die Untersuchung der Echtheit einzelner Schriften und Briefe lieferte Wilamowitz wesentliche Erkenntnisse. Insbesondere in seiner großen Platon-Biografie erwies er den sechsten, siebten und achten Brief als echt. Damit wurde der siebte Brief zu einer wesentlichen autobiografischen Quelle.
Søren Kirkegaard
Der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard (1813 - 1855 n. Chr.) wurde 1841 mit der Dissertation''Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates''promoviert. Er deutete die sokratische Ironie als einen Standpunkt der Subjektivität, der nur bis zur Grenze der Idee gelangt sei. Sie sei die Negativität, die noch keine Positivität hervorgebracht habe. Sie besitze noch nicht das Kränkliche und Egoistische späterer Zeiten (Søren Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, 1984, S. 220). In der sokratischen Ironie zeige sich die Subjektivität, die zum ersten Mal in der Weltgeschichte ihr Recht geltend mache. Sokrates habe die Subjektivität zum Universalen erhoben, damit sei er zum Stifter der Moral geworden. Die Ironie als unendliche absolute Negativität sei dem Standpunkt des Propheten entgegengesetzt. Ironie als Redeweise hebe sich entweder selbst auf oder sei eine Gestalt der Eitelkeit. Sie dürfe nicht mit der Ironie als Standpunkt verwechselt werden. Wer wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel Ironie als bloße „Manier der Konversation“ deute, habe den Standpunkt des Sokrates missverstanden. Der Hinweis Hegels, dass Sokrates darum bemüht gewesen sei, abstrakte Vorstellungen konkret zu machen, sei so modern, dass er kaum noch an Sokrates erinnere (Søren Kierkegaard, a.a.O., S. 272). Bei Sokrates ist nach Kirkegaard Ironie nicht nur ein Mittel, sondern sie hat einen Bezug zur Existenz. Sie setzt das Wissen über das Nichtwissen um und ist die Ausdrucksform dieser Einsicht. Damit wird sie zu einem angemessenen Ausdruck der Existenz. Das sokratische Nichtwissen steht beispielhaft dafür, die Existenz zu denken. Das objektive Denken ist gegen das Subjekt und dessen Existenz gleichgültig. Der subjektive Denker als Existierender ist an seinem Denken interessiert, denn er existiert darin. Nur das Erkennen, das sich wesentlich zur Existenz verhält, ist wesentliches Erkennen. Das Erkennen, das nicht nach innen in der Reflexion der Innerlichkeit die Existenz betrifft, ist wesentlich betrachtet gleichgültig (Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, in: Gesammelte Werke, 1. Aufl., Band 16, übers. von H. M. Junghans, 1957, S. 95). Die Ironie wird zu einem Ausdruck der Existenz als kategoriales Nichtwissen und leitet zur Selbstreflexion an. Die menschliche Existenz wird als Existenzform wissender Unwissenheit gekennzeichnet (Elisabeth Gräb-Schmidt: Ironie als Existenzbestimmung der Unendlichkeit, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2009, S. 47).
[...] leichter und leichter hebt er [Sokrates] sich in die Höhe, sieht alles unter sich hinschwinden von seiner ironischen Vogelperspektive her, und er selber schwebt darüber in ironischer Selbstbefriedigung, getragen von der schlechthinnigen inneren Folgerichtigkeit der unendlichen Negativität. (Søren Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, in: Gesammelte Werke, hrsg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, 2. Aufl. 1986-1995, Band 25, S. 198)
Die Ironie kehrt die Bedeutungslosigkeit der Dinge für das Selbst hervor. Sokrates lässt den Spalt zwischen Wissen und Nichtwissen, Endlichkeit und Unendlichkeit offen. Gerade dies macht das Eigentümliche der Existenz aus. Das sokratische Daimonion verlegt den Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit in das Innere und wird zu einem Stellvertreter des unendlichen Anspruchs an das endliche Selbst. Das Daimonion steht damit für den Bezug zum Transzendenten bzw. zu derjenigen Grenze, die das grundlegende Unwissen aufzeigt (Elisabeth Gräb-Schmidt, a.a.O., S. 55). Nach Kirkegaard bietet aber erst das Christentum mit der Kategorie des Sprungs einen Haltepunkt. Aus der Erkenntnis der eigenen Begrenztheit eröffne sich die Möglichkeit des Glaubens. Der Mensch könne den Sprung über die Grenzen des Wissens in den Glauben wagen. Die paradoxe Situation sei anzunehmen und im Sprung sei die eigene Identität aufzugeben, um die wahre Identität überhaupt erst zu gewinnen. „Die Reflexion ist eine Schlinge, in der man gefangen wird, aber durch der Religiosität begeisterten Sprung wird das Verhältnis ein anderes, durch ihn wird sie die Schlinge, die einen in des Ewigen Arme wirft“ (Søren Kierkegaard: Eine literarische Anzeige, in: Gesammelte Werke, a.a.O., Band 12, S. 95)
Friedrich Nietzsche
Eine scharfe Kritik Platons findet sich bei Friedrich Nietzsche (1844 - 1900 n. Chr.):
Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, - Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. - Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich - er hat bereits den Begriff „gut” als obersten Begriff -, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ oder, wenn man's lieber hört, Idealismus - als irgend ein andres gebrauchen möchte. (Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1954, Bd. 2, S. 1028)
Der platonische Sokrates ist für Nietzsche ein Begründer der Moral und als solcher ein Verneiner des Lebens. Er gilt ihm damit als Vertreter der Sklaven- und Herdenmoral, der dem Prinzip des Lebens und damit dem Willen zur Macht entgegensteht. Platon ist dabei nach Nietzsche ein Mittäter.
20. Jahrhundert
Der britische Altphilologe Lewis Campbell (1830 - 1908 n. Chr.) hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einer der Ersten entdeckt, dass wesentliche Stilmerkmale aus dem letzten und unvollendeten Werk Nomoi in mehreren größeren Dialogen ebenfalls nachgewiesen werden können. Die Platonforschung entwickelte in der Folge verfeinerte Methoden und bediente sich insbesondere der Sprachstatistik. Damit erfolgte die genauere zeitliche Einteilung der Werke. In den späten dialektischen Dialogen Parmenides, Sophistes und Politikos erkannte man die Auseinandersetzung Platons mit seiner eigenen Ideenlehre. Als sich die Wirkung des deutschen Idealismus abschwächte, erfolgte in der Philosophie eine Rückbesinnung auf Kant und die Erkenntniskritik. Die Marburger Schule leistete eine originelle neukantianische Platoninterpretation, die methodologische Probleme im Denken Platons in den Vordergrund rückte (vgl. zur Geschichte der Platonforschung Klaus Oehler: Der entmythologisierte Platon. Zur Lage der Platonforschung, in: ders., Antike Philosophie und byzantinisches Mittelalter, 1969, S. 66 - 94). Bedeutende Vertreter des Neukantianismus waren Paul Natorp und sein Schüler Nicolai Hartmann. Da praktisch alle Themen, die in der Philosophiegeschichte eine Rolle spielen, bereits bei Platon zu finden sind, bemerkte Alfred North Whitehead pointiert, dass alle späteren Entwürfe der europäischen Philosophie im Grunde Fußnoten zu Platon seien.
Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. (Alfred North Whitehead: Prozess und Realität (1929), Frankfurt 1995, S. 91)
Sigmund Freud
Schon zu Lebzeiten Sigmund Freuds (1856 - 1939 n. Chr.) wurde dessen Libidotheorie innerhalb der psychoanalytischen Szene mit der Eroslehre Platons verglichen (Thomas Barth: Wer Freud Ideen gab, 2013, S. 54 f.). Parallelen wurden auch bezüglich der trichotomen Struktur der Seele gesehen: Über-Ich/das vernünftig Lenkende, Ich/das tatkräftig Mutartige, Es/das Begehrende. Ein gestaltender Einfluss Platons auf Freud ist nicht eindeutig nachweisbar (Jörn Müller: Psychologie, in: C. Horn u.a. (Hrsg.), Platon-Handbuch, 2009, S. 152: „eher unwahrscheinlich“). Die platonische Eroslehre gehörte zum Allgemeingut der gebildeten Kreise des 19. Jahrhunderts. In Freuds Londoner Bibliothek finden sich eine deutsche Übersetzung von Platons „Symposion“ sowie das dreibändige Werk „Griechische Denker“ von Theodor Gomperz, dessen zweiter Band sich mit Sokrates und Platon beschäftigt. Auf die Anfrage eines Antiquariats nach zehn guten Büchern nannte Freud 1907 auch „Griechische Denker“. Man stehe mit diesen Büchern „wie mit den ‚guten‘ Freunden, denen man ein Stück seiner Lebenskenntnis und Weltanschauung verdankt, die man selbst genossen hat und anderen gerne anpreist, ohne daß aber in dieser Beziehung das Moment der scheuen Ehrfurcht, die Empfindung der eigenen Kleinheit vor deren Größe, besonders hervorträte“ (Sigmund Freud: Briefe 1873-1939, ausgewählt und hrsg. von Ernst und Lucie Freud, 1968, S. 267). Gomperz veröffentlichte außerdem die „Gesammelten Werke“ John Stuart Mills in einer zwölfbändigen Ausgabe. Für die Übersetzung des letzten Bandes gewann er den jungen Sigmund Freud, der dabei unter anderem einen Aufsatz Mills zu Platon in die deutsche Sprache übertrug: „In der Republik, deren ausgesprochene Absicht es ist eine solche Definition [der Gerechtigkeit] zu liefern, und welche als ein Mittel zu diesem Zwecke den weitläufigen Aufbau eines Idealstaates unternimmt, ergiebt sich als Resultat, daß die Gerechtigkeit gleichbedeutend ist mit der unumschränkten Oberherrschaft der Vernunft in der Seele. Der menschliche Geist wird dort in die berühmten drei Elemente zerlegt: das vernünftige, das muthartige oder leidenschaftliche […] und das begehrliche. Der gerechte Geist ist derjenige, in welchem jedes dieser drei Elemente seinen gebührenden Platz einnimmt; in welchem die Vernunft herrscht, die Leidenschaft sich zur Helferin und zum Werkzeug der Vernunft macht, und beide vereinigt die Begierde in einem Zustande gutwilliger Unterwerfung erhalten“ (John Stuart Mill: Plato, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Theodor Gomperz, Bd. 12, übers. von Siegmund Freud, 1880, S. 82-83). Freud selbst bestätigte zudem die Ähnlichkeit von Libidotheorie und Eroslehre.
Libido ist ein Ausdruck aus der Affektivitätslehre. Wir heißen so die als quantitative Größe betrachtete – wenn auch derzeit nicht meßbare – Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann. Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet natürlich, was man gemeinhin Liebe nennt und was die Dichter besingen, die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe, anderseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und die allgemeine Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegenstände und an abstrakte Ideen. Unsere Rechtfertigung liegt darin, daß die psychoanalytische Untersuchung uns gelehrt hat, alle diese Strebungen seien der Ausdruck der nämlichen Triebregungen, die zwischen den Geschlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hindrängen, in anderen Verhältnissen zwar von diesem sexuellen Ziel abgedrängt oder in der Erreichung desselben aufgehalten werden, dabei aber doch immer genug von ihrem ursprünglichen Wesen bewahren, um ihre Identität kenntlich zu erhalten (Selbstaufopferung, Streben nach Annäherung). Wir meinen also, daß die Sprache mit dem Wort „Liebe“ in seinen vielfältigen Anwendungen eine durchaus berechtigte Zusammenfassung geschaffen hat und daß wir nichts Besseres tun können, als dieselbe auch unseren wissenschaftlichen Erörterungen und Darstellungen zugrunde zu legen. Durch diesen Entschluß hat die Psychoanalyse einen Sturm von Entrüstung entfesselt, als ob sie sich einer frevelhaften Neuerung schuldig gemacht hätte. Und doch hat die Psychoanalyse mit dieser „erweiterten“ Auffassung der Liebe nichts Originelles geschaffen. Der „Eros“ des Philosophen Plato zeigt in seiner Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechtsliebe eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, der Libido der Psychoanalyse, wie Nachmansohn und Pfister im einzelnen dargelegt haben, und wenn der Apostel Paulus in dem berühmten Brief an die Korinther die Liebe über alles andere preist, hat er sie gewiß im nämlichen „erweiterten“ Sinn verstanden, woraus nur zu lernen ist, daß die Menschen ihre großen Denker nicht immer ernst nehmen, auch wenn sie sie angeblich sehr bewundern. (Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, 1968, S. 98 f.)
Tübinger Schule
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfachte die Tübinger Schule eine Forschungskontroverse zur ungeschriebenen Lehre Platons. Zum Ziel ihrer Bemühungen wurde es, eine einheitliche Gesamtvorstellung von der Philosophie Platons zu gewinnen (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 3. Aufl. 1998, S. 17). Dabei stand die systematische Interpretation der fragmentarischen Überlieferung im Vordergrund. Hans Joachim Krämer (Arete bei Platon und Aristoteles, 1959) und Konrad Gaiser waren beide Schüler von Wolfgang Schadewaldt in Tübingen. Sie sammelten die Fragmente der Prinzipienlehre als „Testimonia Platonica“. Die aus den Nachschriften der Platonschüler stammenden Zeugnisse gewähren einen Einblick in die mündliche Lehrtätigkeit Platons, die den Dialogen zugrunde liegt. Diese ungeschriebene Lehre bildet für Krämer den eigentlichen Kern von Platons Philosophie. Die „agrapha dogmata“ Platons werden bei Aristoteles ausdrücklich erwähnt. Aristoxenos von Tarent weist auf einen Lehrvortrag Platons mit dem Titel „Über das Gute“ hin. Darüber, dass Platon „ungeschriebene Lehren“ vertreten hat, besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit. Meinungsverschiedenheiten bestehen aber über den Inhalt und die Funktion dieser Lehren.
Krämer rekonstruierte eine eigenständige systematische Prinzipienlehre Platons. Dieser sei bezüglich der ungeschriebenen Lehre ein Dogmatiker gewesen. Die Prinzipienlehre stelle den Versuch dar, „Seiendheit, Arete und Wahrheit im Eins‐sein und zuletzt in Einem Grunde [zu] gründen“ und einheitlich als das Gute zu bestimmen. Es sei der entscheidende geschichtliche Ansatz Platons, das Werthafte, die Arete wieder als das Seiende zu denken und als Seiendes in ihrem wesenhaften Bestand auf den Seinsgrund als das Maß, die Norm aller Dinge, zurückzuführen (Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, 1959, S. 564). Krämer zeigt, „wie sich die Frage nach der Vorzüglichkeit der Dinge und der Trefflichkeit des Menschen durch das ganze geschriebene Werk Platons hindurchzieht; wie dabei im Frühwerk die Areté vornehmlich als Ordnung, als Taxis und Kosmos, gesehen wird; wie sich dazu im Spätwerk die nähere Bestimmung der Areté als eines Metrion und Meson, als eines Maßvollen und Mittleren zwischen zwei Äußersten, gesellt; wie schließlich dabei die richtige Mitte immer mehr den Charakter eines Weltprinzips annimmt“ (László Tengelyi: Ordnung, Maß, Mitte bei Platon und Aristoteles. In: Phänomenologische Forschungen, Jahrgang 2003, S. 39–53, hier: S. 40).
Eine besondere Bedeutung für die platonische Ontologie gewinnt dabei deren Verknüpfung mit Mathematik und Geschichtsdeutung, die von Konrad Gaiser in seiner Habilitationsschrift eingehend untersucht wurde. Später hat Thomas A. Szlezák (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985) diese Forschungen fortgesetzt und mit der Interpretation der Dialoge verbunden. Szlezák hat eingehend dargelegt, dass von Platon Misstrauen und Skepsis gegenüber der schriftlich festgehaltenen Philosophie geübt wurde. Platon habe seine Dialoge gemäß dieser Kritik an der Schriftlichkeit verfasst und zentrale Lehren zurückgehalten. In den Dialogen werde außerdem auf grundlegende philosophische Gedanken hingewiesen, die dann in den einschlägigen Textstellen aber nicht behandelt würden, sogenannte Aussparungsstellen. Deren Funktion sei es, über den Text hinaus auf eine mündliche Auseinandersetzung zu verweisen. Schließlich gebe es in späteren antiken Texten zahlreiche Hinweise auf eine Prinzipienlehre Platons, die in den Dialogen selbst nicht behandelt werde. Die Dialoge gehen demnach in der philosophischen Erörterung nur so weit, wie mit dem Verständnis der Rezipienten gerechnet werden kann. Der in Heidelberg lehrende Jens Halfwassen (Der Aufstieg zum Einen, 1992) hat die Kontinuität von Platon zu Plotin belegt, der sich selbst immer nur als treuer Exeget Platons verstanden hat. Die Debatte über die ungeschriebene Lehre hat mittlerweile an Schärfe verloren. Durch die Systematisierung der fragmentarischen Überlieferung wird eine Geschlossenheit bei der Interpretation Platons erreicht, die sich auch auf das Verständnis der Dialoge auswirkt. Die innerakademische und gegen eine schriftliche Fixierung gerichtete Haltung Platons sollte aber nicht als „Geheimlehre“ missverstanden werden.
Um hier [...] eine vernünftige Wegrichtung einzuschlagen, möchten wir Begriffe wie 'esoterische Lehre' oder gar 'Geheimlehre' ganz aus der Diskussion ausschalten. Das sind Formulierungen, die einen falschen Akzent auf die kontroversen Fragen unseres Problems setzen. Wir sollten uns auf die Formulierung einigen können, daß Platon im allgemeinen nur solchen Leuten seine mündliche Unterweisung zuteil werden ließ und nur mit solchen Leuten seine Gedanken ausgetauscht hat, die dem Lebenskreise seiner „Schule“ angehörten. [...] das Eigentliche der platonischen Lehre vollzog sich, meine ich, in fortgesetzten, den langen Tag des Zusammenlebens ausmachenden Lehrgesprächen. (Hans-Georg Gadamer: Platons ungeschriebene Dialektik, in: Gesammelte Werke Bd. 6, Griechische Philosophie II, 1985, S. 130 f.)
Karl Jaspers
Die Erfahrung der Transzendenz ergibt sich für den deutschen Psychiater und Existenzphilosophen Karl Jaspers (1883 - 1969 n. Chr.) aus den sogenannten Grenzsituationen. Der Mensch ist immer wieder tiefen Krisen ausgesetzt und stößt dabei unvermeidlich an seine Grenzen. Dazu gehört das angstvolle Erleben von Leid, Schuld, Schicksal und Tod. Aus diesen Situationen gibt es nur dann eine Befreiung, wenn der Mensch sie annimmt und ganz bejaht. Dazu ist ein Sprung erforderlich heraus aus der Verzweiflung und hin zum Selbstsein und zur Freiheit. In der Grenzsituation ist die Erfahrung jener Transzendenz möglich, die mit der Welt nicht identisch ist, aber ohne die menschliche Existenz nicht möglich wäre. Für Jaspers ist der philosophische Glaube (vgl. dazu die Untersuchung von Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 1962) ohne jede Offenbarung. Aber er ist mit der Gewissheit verbunden, dass Transzendenz ist, ohne aussagen zu können, was sie ist. Die Härte des Daseins kann zwar nicht umgangen, dafür aber in ihr die Transzendenz begriffen werden:
Daß das Sein des Einen ist, ist genug. Was mein Sein ist, das als Dasein restlos vergeht, ist gleichgültig, wenn ich nur im Aufschwung bleibe, solange ich lebe. In der Welt gibt es keinen wirklichen und wahrhaften Trost, der mir die Vergänglichkeit von allem und meiner selbst verständlich und ertragbar erscheinen lässt. Statt des Trostes ist das Seinsbewußtsein in der Gewißheit des Einen. (Karl Jaspers: Philosophie, Bd. 3, 1956, S. 125 ff.)
Karl Popper
Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902 - 1994 n. Chr.) hat sich sein ganzes Leben lang auf Sokrates bezogen. Insbesondere Platons Apologie des Sokrates zählt zu den philosophischen Werken, die er am meisten bewunderte (vgl. dazu Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 41 und S. 195; ders.: Ich weiß, dass ich nichts weiß, 1991, S. 48). Popper geht davon aus, dass die Apologie historisch echt sei. Sie sei ein getreuer Bericht von dem, was Sokrates vor dem Gerichtshof in Athen gesagt habe. Sokrates betone, dass er sich seiner intellektuellen Grenzen bewusst sei. Er sei selbstkritisch und ein Kritiker jeden Jargons. Popper geht deshalb davon aus, dass Sokrates wie er selbst ein Falsifikationist gewesen sei. Nach dem Falsifikationismus unterliegt jede Theorie der möglichen Fehlerhaftigkeit. Es sei unmöglich, auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften die Wahrheit einer Theorie zu beweisen. Die Fehlbarkeit allen Wissens sei anzuerkennen (Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 44). Wenn man den Beruf des Philosophen ergreife, solle man so sein wie Sokrates (Karl Popper, a.a.O., S. 195). Platon als der genialste Schüler des Sokrates habe seinen Lehrer verraten. Während Sokrates die Weisheit des Staatsmanns gerade darin erkannt habe, dass er in seinen Ansprüchen äußerst bescheiden sei, habe Platon diese Auffassung auf den Kopf gestellt: Dass der Staatsmann weise sein müsse, bedeute für Platon einen Herrschaftsanspruch (Karl Popper: Alles Leben ist Problemlösen, 1994, S. 239 ff.). Damit werde Platon zu einem geistigen Wegbereiter des politischen Totalitarismus. Folge man Sokrates, so müsse man Politik nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum betreiben. Es handele sich dann um eine Stückwerk-Technik. Wie Sokrates weiß der Stückwerk-Ingenieur, wie wenig er weiß. Er weiß, dass wir nur aus unseren Fehlern lernen können (Karl Popper:Das Elend des Historizismus, 1965, S. 53 f.). Die Weisheit des Sokrates ist nach Popper demnach kein positives Wissen, sondern ein Zustand der Bewusstheit.
Ob der von Popper gezeichnete Gegensatz zwischen den beiden Philosophen tatsächlich in dieser Schärfe besteht, ist allerdings zweifelhaft. Zum einen begegnet uns Sokrates in den Werken Platons gerade als dessen Protagonist und Lehrer. Schon Sokrates hatte an die Sonne gebetet (Platon, Symposion 220d) und damit dem höchsten Guten in der intelligiblen Welt die Würde eines göttlichen Prinzips beigemessen, das Platon dann im Sonnengleichnis näher beschrieb. Zum anderen ist der Ausgangspunkt des Sokrates nicht unbedingt ein absolutes Nichtwissen, sondern die konsequente Anwendung einer dialektischen Beweisführung mit dem Ziel, zum Wesen der Sache durchzudringen. Die von Sokrates angestrebte Wahrheit ist allein auf dem Weg des vernünftigen Denkens erreichbar und vom einzelnen Individuum unabhängig (Wilhelm Capelle:Die griechische Philosophie, Bd. 1, Von Thales bis zum Tode Platons, 3. Aufl. 1971, S. 176). Platon hat diesen Gedanken dann weiterentwickelt: Die Weisheit liegt gerade darin, dass der Philosoph in den Ideen das wahre Wissen über das Wesen der Dinge erlangt. Von der Idee des Guten und des Einen her vermag er den Wissenschaften eine Begründung zu geben.
Henologie
Der Norweger Egil A. Wyller bildete den Begriff Henologie (von griech. to hen, das Eine) in Abgrenzung zu den Begriffen Ontologie und Epistemologie. Aber schon der französische Philosophiehistoriker Étienne Gilson hatte mit dem französischen Substantiv énologie den mittelalterlichen Neuplatonismus charakterisiert. Als systematischer Oberbegriff ist Henologie aber nicht auf den Platonismus oder Neuplatonismus beschränkt. Auch in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos lassen sich beispielsweise henologische Grundpositionen nachweisen: Einheit allein transzendiert Einheit (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, 1966, S. 158).
Henologie ist systematisch betrachtet eine dialektische Prinzipienlehre, deren Grundprinzipien das Eine, die Einheit und das Andere, die Andersheit sind. Das Eine als das Unsagbare ragt in den Bereich jenseits des Seins und der Erkenntnis (Platon, Sophistes 238 c). Ihm steht die Andersheit gegenüber. Zu ihr gehören das Sein als das, was ist, und die Erkenntnis als das, was erkannt werden kann. Zwischen dem überseienden Einen einerseits und dem Sein sowie der Erkenntnis anderseits besteht eine henologische Differenz, die nach Wyller nur durch Offenbarung aufgehoben werden kann (Egil A. Wyller: Art. Henologie, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, 1974, Sp. 1059 f.). Das Absolute in seiner reinen Transzendenz ist jenseits des Seins und geht damit über alles Denkbare hinaus. Das Denken kann sich ihm nur in einer radikalen Negation nähern, deren Vollzug das Wegnehmen von allem, das Fahrenlassen von allem ist. Im Vollzug der radikalen Negation ist letztlich auch die Negation selbst loszulassen. Erst die Aufhebung aller Erkenntnis und allen Denkens entspricht der Erkenntnistranszendenz des Absoluten (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 181).