Mythen, bildhafte Gleichnisse, Sagen, Fabeln und Märchen entfalten trotz ihrer scheinbaren Nichtrationalität eine eigenständige Schönheit und Wahrheit. Die andeutenden Bilder des Mythos entsprechen dem Ahnen, dem Einfühlen und der Intuition.
Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. (Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, in: Hamburger Ausgabe Band 12, 1994, S. 470)
Dies gilt auch für den platonischen Mythos. Er hat den Charakter symbolischen Verweisens, sofern die höhere Wahrheit verhüllt dargeboten wird. Er verweist von einem konkreten, anschaulichen Bereich auf etwas Großes, Unanschauliches, ewig Gültiges, das in diskursiver, begrifflicher Sprache schwer zu fassen ist. Mythos und philosophischer Logos erhellen sich gegenseitig. Der Mythos stellt eine Bereicherung neben dem Logos dar. Er ist ein anderer Weg, der zum selben Ziel führt. Er ist eine andere Darstellungsweise derselben Wahrheit. Mythos und Logos sind keine sich ausschließenden Gegensätze. Sie integrieren sich trotz ihrer Andersheit auf einem Weg zu einem gemeinsamen Ziel: Mythos gründet im Logos; Logos lebt im Mythos (Werner Beierwaltes: Logos im Mythos. Marginalien zu Platon, in: A. Bilgri u.a. (Hrsg.), Weite des Herzens, Band 1, 1989, S. 274)
Pädagogisches Hilfsmittel
Mit dem Mythos verschafft sich Platon die Möglichkeit, Gedanken bildhaft zum Ausdruck zu bringen, die nach ihrem Wesen nur schwer einer systematischen Darstellung zugänglich sind. Zugleich handelt es sich bei dem platonischen Mythos aber nicht um einen Mythos im traditionellen Sinn, er ist vielmehr der „sich in ein Höheres seiner selbst übersteigende Logos“ (Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Gedanken zu Platons Politikos, in: Die Frage nach dem Menschen, 1967, S. 316). Anhaltspunkte für diese doppelte Bedeutung des Mythos als pädagogisches Hilfsmittel und Ausdruck einer höheren Wahrheit finden sich bereits bei Platon. So stellen in seinem Alterswerk Nomoi die Athener die Frage: Sollen wir noch ein wenig den Mythos und die Sage zu Hilfe nehmen, um auf diese Frage die richtige Antwort zu finden? (Platon, Nomoi 713a). Dass der Mythos als Ausdruck einer höheren Wahrheit aber zugleich dazu dient, die menschliche Seele zu retten, verdeutlicht Platon am Ende der Politeia:
Und so, mein lieber Glaukon, ist denn dieser Mythos erhalten worden und ist nicht untergegangen, und er wird vielleicht auch unsere Seelen retten, wenn wir ihm nämlich folgen. (Platon, Politeia 621c)
Platons Mythen integrieren die menschliche Seele in einen kosmologischen Kontext. Die Mythen sind ähnlich wie das Schöne im Dialog Phaidros nährende Erinnerungen, „den Gescheiten unglaublich, doch glaublich den Weisen. Denken wir uns am Ende all unserer Gescheitheit, so sind wir, vergleichbar einem Baum, der lauter Krone sein will ohne Wurzel, lauter Gegenwart ohne Abkunft, lauter Wissenschaft ohne Erinnerung. Uns an unsere Herkunft zu erinnern, bleibt nach Platon Aufgabe des Mythos. Die Seele lebt und stirbt mit ihrer Urgestalt wie mit der Dryade der Baum: der Mythos ist ihr Wachstumsgeist.“ (Karl Reinhardt: Platons Mythen, in: Carl Becker (Hrsg.), Vermächtnis der Antike, 1966, S. 295).
Inadäquates Medium für den Gedanken?
Die Sprache des Mythos setzt sich dem Verdacht aus, mit der Schönheit zugleich das Irrationale zu transportieren. Einen besonders deutlichen Vorbehalt gegen den Mythos formulierte Hegel, der sich dabei zugleich auf Aristoteles berief:
Platon wird oft wegen seiner Mythen geschätzt; er soll höheres Genie, als sonst Philosophen vermögen, bewiesen haben. Man meint, die Mythen des Platon seien vortrefflicher als die abstrakte Weise des Ausdrucks; und es ist allerdings eine schöne Darstellung im Platon. Genauer betrachtet ist es zum Teil das Unvermögen, auf die reine Weise des Gedankens sich auszudrücken, zum Teil spricht Platon auch nur in der Einleitung so; wo er aber auf die Hauptsache kommt, drückt er sich anders aus; im Parmenides z.B. sind einfache Gedankenbestimmungen ohne Bildliches. [...] Die Ungeschicklichkeit, den Gedanken als Gedanken vorzustellen, greift zu den Hilfsmitteln, in sinnlicher Form sich auszudrücken. Versteckt soll der Gedanke durch den Mythus auch nicht werden; die Absicht des Mythischen ist vielmehr, den Gedanken auszudrücken, zu enthüllen. Dieser Ausdruck, das Symbol ist freilich mangelhaft; wer den Gedanken in Symbole versteckt, hat den Gedanken nicht. Der Gedanke ist das sich Offenbarende; das Mythische ist so nicht adäquates Medium für den Gedanken. Aristoteles sagt: »Von denen, welche mythisch philosophieren, ist es nicht der Mühe wert, ernstlich zu handeln«; es ist dies nicht die Form, in welcher der Gedanke sich vortragen läßt, - nur eine untergeordnete Weise. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in zwanzig Bänden, Band 18, 1979, S. 108)
Die Wahrheitsfunktion des Mythos
Dieser Kritik Hegels ist zu entgegnen, dass dem platonischen Mythos eine über das pädagogische Moment hinausführende eigene Wahrheitsfunktion zukommt. Auf diese weist Platon im Dialog Gorgias hin.
So höre denn, wie sie zu sagen pflegen, eine gar schöne Rede, die du zwar für ein Märchen halten wirst, wie ich glaube, ich aber für Wahrheit. Denn als volle Wahrheit sage ich dir, was ich sagen werde. (Platon, Gorgias 523a)
Ob der platonische Mythos weitere Hintergründe eröffnet, „an die die Ratio allein nicht heranreicht“ (Bernhard Kytzler: Platons Mythen, 1997, S. 222), ist umstritten. Betont wird heute überwiegend seine komplementäre Funktion zum Logos. „Mit ihrer komplementären Struktur und Zusammengehörigkeit bedenken sie Ursprung, Ende und eine mögliche Aufhebung der Begrenztheit menschlicher Wahrheitserkenntnis, so dass sie vielleicht als die zwei Stämme der Erkenntnis bei Platon bezeichnet werden können, deren gemeinsame Wurzel die menschliche Sterblichkeit ausmacht. Der Grad der Güte und die Unvollkommenheit menschlichen Wissens finden in beiden in ihrer Einheit ihren Ausdruck [...]“ (Dirk Cürsgen: Die Rationalität des Mythischen, 2002, S. 29). Nach Hermann Gundert ist die platonische Dichtung ein ernsthaftes Spiel, in dem das Unsagbare, das weder schriftlich noch im mündlichen Vortrag mitzuteilen ist, zum Ausdruck gebracht werden soll. Dabei ist der Mythos eine der platonischen Spielarten. „Die bildlich-religiöse Sprache des Mythos und die kritische des Logos kommen bei Platon beide aus demselben Wissen darum, daß Dichtung Spiel ist; im Spiel des Dialogs verweist die mythische Sprache auf dieselbe Wahrheit wie der kritische Logos, nur tut sie es auf eine andere Weise: das, was im Logos nur mittelbar erscheinen kann, das Göttliche, tritt in der religiösen Rede offen hervor, es läßt die Sache, um die es geht, in der kritischen Situation in seinem Licht erscheinen und es verhüllt sich doch zugleich in Bildern, Mythen, fremden Autoritäten, um dann oft wieder in der Nüchternheit des Logos, seiner Strenge oder Ironie, zu verschwinden“ (Hermann Gundert: Der platonische Dialog, 1968, S. 32).
Konstitutiv für den platonischen Mythos ist eine Mischung von Ernst und Scherz, die ihm seine besondere Weise der Darlegung gibt. Der Mythos vermag das bildhaft auszudrücken, was die Ideenlehre auf wissenschaftlichem Wege anstrebt. Walter Hirsch meint, dass der Mythos dabei weiter komme als der Logos. „Weil der Logos auf Grund und Begründung dringen muss, kann er das, was allen Grund selbst gründet, nicht fassen. [...] So ist der Mythos [...] die Notwendigkeit einer Not, die aus dem Sagen des Logos aufgeht, und zwar dann am meisten, wenn der Logos (als Dialektik) seine äußersten Möglichkeiten ausgeschritten hat“ (Walter Hirsch: Platons Weg zum Mythos, 1971, S. 252).Wie Hans-Georg Gadamer anmerkt, hat Platon alles darauf berechnet, dass die mythische Fabel nicht wie ein schönes Märchen im Abstand der Märchenferne verbleibt:
Mitten im Aufschwung dichterischer Ekstase erkennen wir plötzlich [...] dass es sokratische Luft ist, die uns umgibt, dass die uralte Sage, die da angeblich aus der Vergessenheit heraufgeholt wird, gar kein wiedererweckter alter Mythos ist, sondern im widerstandslosen Schein der Fabel die sokratische Wahrheit als leibhaft wirklich gewordene Welt vor uns ersteht. (Hans-Georg Gadamer: Plato und die Dichter (1934), in: Gesammelte Werke, Band 5, Griechische Philosophie I, 1985, S. 209)
Der Seelenwagen als Beispiel
Im Dialog Phaidros schildert Platon den Mythos vom Seelenwagen, um die Ideen als Gehalte des apriorischen Denkens in der Seele zu verdeutlichen. Dabei wird die Seele als ein gefiedertes Seelengespann mit einem Wagenlenker und zwei Rossen beschrieben. Vor der Geburt und damit vor dem Absinken in den Bereich des Körperlichen existiert die Seele an einem überhimmlischen Ort, der den Bereich des sinnlich wahrnehmbaren Physischen transzendiert. Dort nimmt sie an einer beflügelten Fahrt der Götter teil.
Jede Seele ist unsterblich, denn das, was sich selbst bewegt, ist unsterblich. [...] Eine Seele nun, die noch in vollkommener Weihe und befiedert ist, wandelt in der Höhe und durchwebt das Weltall, wenn sie aber das Gefieder gelassen, wird sie fortgetrieben, bis sie etwas Festes erfaßt, in dem sie nun, sich wohnhaft niederlassend und einen erdigen Leib annehmend, der durch ihre Kraft bewegt sich selbst zu bewegen scheint, als Ganzes genommen ein Lebewesen genannt wird und, als aus Seele und Leib zusammengefügt, den Beinamen sterblich erhält. [...] Das farblose und gestaltlose und unberührbare wesenhaft wahre Sein (ousia: wahres Sein, das unveränderlich-gleichbleibende Wesen, Essenz, Substanz) nämlich ist nur für den Lenker der Seele, den Geist, schaubar; darauf richtet sich das wahre Wissen. Da nun die göttliche Vernunft von Geist und reinem Wissen sich nährt - ebenso wie die Vernunft einer jeden Seele, die das aufzunehmen bereit ist, was ihr zukommt - so erschaut sie für eine Weile das wahre Sein und ist dann zufrieden. Indem sie die Wahrheit schaut wird sie ernährt und gelabt, bis sie der Umschwung im Kreislauf wieder an den vorigen Ort herumführt. Auf diesem Umlauf aber erblickt sie die Gerechtigkeit selbst, sieht die Besonnenheit und sieht das wahre Wissen; nicht das Wissen, das entsteht und das bei jedem von den Dingen, die wir jetzt wirklich nennen, jeweils wieder ein anderes ist, sondern das Wissen, das wirklich besteht von dem, was absolut wahr ist. Und nachdem sie auch alles übrige ebenso wesenhaft Seiende geschaut und gekostet hat, sinkt sie wieder hinein in das Innere des Himmels und kehrt nach Hause zurück. (Platon, Phaidros 245c-247e)