Das erste der drei bekanntesten Gleichnisse Platons aus seinem Werk Politeia ist das Sonnengleichnis (Platon, Politeia 508a-509d). Platon beschreibt dort den Stellenwert des Guten und legt damit den Grundstein für eine Metaphysik des Absoluten, die mit der Ideenlehre weiter ausgebaut wird. Am Ende des sechsten Buches der Politeia folgt dem Sonnengleichnis das Liniengleichnis, welches in das Höhlengleichnis am Anfang des siebten Buches mündet. Die Gleichnisse bauen aufeinander auf.
Das Sonnengleichnis
Das Wesen des Guten
Das Wesen des eigentlich Guten ist das, was den erkannt werdenden Objekten Wahrheit verleiht und dem erkennenden Subjekt das Vermögen des Erkennens gibt. Das eigentlich Gute ist die Ursache von reiner Vernunfterkenntnis und Wahrheit, sofern sie erkannt wird. Erkenntnis und erkannt werdende Wahrheit sind nach Platon „etwas Herrliches“. Das Gute aber ist etwas „weit Herrlicheres“. Reine Vernunfterkenntnis und Wahrheit sind gut - aber nicht das eigentliche höchste Gute. Das Wesen des eigentlich Guten ist „weit höher“ zu schätzen. Die sonnengleiche Stellung, die Platon dem höchsten Guten in der intelligiblen Welt beimisst, verleiht ihm die göttliche Würde eines höchsten Prinzips. Schon sein Lehrer Sokrates hatte an die Sonne gebetet.
Nämlich in tiefes Nachdenken über irgendeinen Gegenstand versenkt, blieb er (Sokrates) von frühmorgens an auf demselben Flecke stehen und wich, da er das Gesuchte nicht finden konnte, nicht von der Stelle, sondern verharrte in unablässigem Nachsinnen. Inzwischen war es bereits mittags geworden, als die Leute es merkten und staunend einander darauf aufmerksam machten, dass Sokrates nun schon vom frühen Morgen her im Nachforschen über irgendeinen Gegenstand begriffen dastände. Endlich aber, als es schon Abend war, brachten einige Ionier, nachdem sie zu Abend gegessen, ihre Matratzen heraus, teils um im Kühlen zu schlafen, denn es geschah dies im Sommer, teils aber auch um ihn zu beobachten, ob er auch wohl in der Nacht dort stehenbleiben würde. Er aber blieb wirklich stehen, bis der Morgen graute und die Sonne aufging; dann aber ging er von dannen, nachdem er zuvor noch sein Morgengebet an die Sonne (hêlios) verrichtet hatte. (Platon, Symposion 220d)
Die Finsternis hat keine Quelle, woher sie kommt. Das Licht hat ihr gegenüber den Vorrang, weil es von etwas strömt, das über das Licht erhoben ist: auf Grund der Sonne, die auch für Platon göttlich ist (Platon, Politeia 508a). Das Licht ist die Möglichkeitsbedingung des Sehens, die Sonne aber ist sein Grund (Egil A. Wyller: Der späte Platon, 1970, S. 13).
Die Sonne als Ebenbild des eigentlich Guten
Die Sonne ist ein Sinnbild für das Gute. Sie ist die Kopie des Guten, die von dem eigentlichen wesenhaft Guten als ein ihm entsprechendes Ebenbild hervorgebracht worden ist. Was das eigentlich Gute in der durch Vernunft erkennbaren Welt in Bezug auf Vernunft und auf die durch Vernunft erkennbaren Gegenstände ist, das ist diese seine Kopie in der sinnlich sichtbaren Welt in Bezug auf Sehen und sichtbare Gegenstände. Der Unterschied, ob etwas im Licht oder im Schatten liegt, bedeutet für das, was von ihm betroffen ist, einen Unterschied im Seinsrang. Was im Licht der Sonne liegt, ist sichtbar. Was im Schatten liegt, ist nicht oder zumindest schwer sichtbar. Diese Beschreibung bedeutet in der Analogie für die Idee des Guten: Was im Licht der Idee des Guten liegt, an dem glänzt die Wahrheit und das Seiende. Was dagegen nicht von der Idee des Guten erhellt wird, das gehört in den Bereich des Werdenden und Vergehenden (Platon, Politeia 508d).
Licht steht für Wahrheit
Ohne das Licht kann das sehende Auge nicht sehen und der sichtbare Gegenstand nicht gesehen werden. Wenn man die Augen nicht mehr auf die Gegenstände richtet, auf deren Oberfläche das helle Tageslicht scheint, sondern auf die Dinge, auf die nur ein nächtliches Geflimmer fällt, so scheinen die Augen beinahe blind, als wäre in ihnen kein ausreichendes Sehvermögen vorhanden. Wenn man die Augen aber auf das richtet, worauf die Sonne scheint, so sehen sie ganz deutlich, und in eben denselben Augen scheint sich dann wieder ein hervorragendes Sehvermögen zu befinden. Dasselbe Verhältnis gilt nach Platon auch in Bezug auf die Psyche: Wenn sie ihren Blick auf das richtet, was das ewig wahre und wesenhafte Sein bescheint, dann nimmt sie es gut wahr, erkennt es gründlich und scheint über Vernunft zu verfügen. Richtet sie ihren Blick aber auf das mit Finsternis gemischte Gebiet, auf das Reich des Werdens und Vergehens, so wird sie stumpfsinnig, indem sie sich im niederen Kreis der vorurteilsbehafteten und unsicheren Meinungen auf und ab bewegt. Die Psyche gleicht dann einem vernunftlosen Geschöpf. So wie Licht die Möglichkeitsbedingung für das Sehen ist, so ist entsprechend Wahrheit die Möglichkeitsbedingung für die Erkenntnis. Die Wahrheit hat ihren Grund im Guten und entspringt ihm, so wie das Licht von der Sonne ausströmt. Ohne das Gute gibt es keine Wahrheit. Analog zur erhellenden Wirksamkeit des Lichts ist Wahrheit die Unverborgenheit des Seienden in seinem Sein (vgl. dazu bereits Martin Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit, 3. Aufl. 1975). Dazu gehört auch die Maßbestimmtheit (symmetria) als das richtige Verhältnis des Ganzen und der Teile (Platon, Philebos 64d ff.; Platon, Parmenides 157c ff.). „Wahrheit entsteht […] nicht durch die Verknüpfung des Denkens mit dem zu denkenden Gegebenen. Wahrheit ist die vorausgegebene Bedingung dafür, dass diese Verknüpfung überhaupt stattfinden kann. Man denkt in der Wahrheit, wie man im Licht sieht“ (Egil A. Wyller, a.a.O., S. 14).
Licht steht auch für Sein
Das Sonnenlicht ist die Quelle für das Leben. Die Sonne verleiht den sinnlich sichtbaren Gegenständen nicht nur das Vermögen des Gesehenwerdens, sondern auch Werden, Wachsen und Nahrung, ohne dass sie selbst ein Werden ist. Entsprechend strömt aus dem Guten nicht nur Wahrheit als Möglichkeitsbedingung für die Erkenntnis, sondern es schafft auch Sein und Wesensfülle als Bedingung des Daseins. Den durch die Vernunft erkennbaren Dingen wird von dem eigentlich Guten nicht nur das Erkanntwerden zuteil. Ihnen kommen vom Guten auch das Sein und die Wirklichkeit zu, ohne dass das höchste Gute selbst Wirklichkeit ist. Das Gute als die Quelle von Erkenntnis und Wahrheit ragt vielmehr über die Wirklichkeit an Hoheit und Macht hinaus (Platon, Politeia 509b). Das Gute selbst ist nicht Sein, sondern als dessen Grund jenseits des Seins. Durch Platon ist damit zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie die Seinstranszendenz des Absoluten maßgebend ausgesprochen worden. „Jenseits des Seins“ impliziert aufgrund des Totalitätscharakters des Seins zugleich die Verneinung aller denkbaren und möglichen Bestimmungen. Aufgrund des Seinsbezugs alles Erkennens folgt aus der Seinstranzendenz des Absoluten zugleich seine Erkenntnistranszendenz (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 222 u. S. 262).
Das Liniengleichnis
Im Liniengleichnis (Platon, Politeia 509e ff.) ordnet Platon Sichtbares und Denkbares von unsichersten Vermutungen bis zur sichersten Vernunfterkenntnis, von der abhängigen bildlichen Wahrnehmung bis zur voraussetzungslosen Ideenschau. Jeder Seinsart entspricht dabei eine Erkenntnisart. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen doxa, dem Meinen, und noesis, dem Denken. Über allem steht die Überwirklichkeit der Idee des Guten, in der alles Sein den Urgrund hat und die nur durch die Vernunft geschaut werden kann.
Die Aufteilung der Linie in Abschnitte
Das Gute herrscht in dem nur durch die Vernunft schaubaren Gebiet (Reich des durch die Vernunft Erkennbaren), die Sonne herrscht in der Region des Sehens (Reich des sinnlich Sichtbaren). Wenn man nun eine in zwei ungleiche Hauptabschnitte geteilte Linie hat, dann nimmt man mit jedem der beiden Hauptabschnitte, sowohl mit dem des durchs Auge sichtbaren als auch mit dem des durch die Vernunft erkennbaren Gebiets, nochmals nach demselben Verhältnis eine zweite Teilung vor. Die Aufteilung folgt dem Grundsatz: Je deutlicher die Dinge da sind, desto wahrer ist die Erkenntnis. Und genauso gilt umgekehrt, dass je wahrer die Erkenntnis ist, desto deutlicher sind auch die Erkenntnisobjekte da (Egil A. Wyller, a.a.O., S. 19).
Erster Hauptabschnitt: die sichtbare Welt (Wahrnehmung)
Unterabschnitt: Schatten und Spiegelbilder
Der erste Hauptabschnitt, der sich auf durch das Auge sichtbare Objekte bezieht, gliedert sich also wieder in zwei Unterabschnitte. Sie unterscheiden sich durch die Deutlichkeit. Der erste Unterabschnitt betrifft die undeutlichen Bilder. Das sind zum Beispiel Schatten oder Spiegelbilder auf Wasseroberflächen, auf allen Körpern von dichter, glatter und reflektierender Oberfläche und überhaupt auf jedem reflektierende Ding (Platon, Politeia 510a). Wahrgenommen werden hier demnach nur unbeständige optische Erscheinungen.
Zu dem anderen Unterabschnitt, dem der sinnlich wahrnehmbaren Welt realer Objekte, gehören zum Beispiel die uns umgebende Tierwelt, das Pflanzenreich und die Kulturprodukte. Hier ist die Deutlichkeit des Wahrgenommenen größer als bei den Schatten und Spiegelbildern.
Zweiter Hauptabschnitt: intelligible Welt (Erkenntnis)
Im Reich des Wissens verhält sich das Meinbare zu dem durch die Vernunft Erkennbaren wie das Schattenbild zu dem sinnlich sichtbaren realen Objekt.
Unterabschnitt: das Meinen (doxa)
Das Meinen kann wieder unterschieden werden in das Mutmaßen (eikasia) und das Glauben an die Sinneswahrnehmung, die zu einer ungeprüften Annahme führt (pistis). Die Psyche muss von unerwiesenen Voraussetzungen ausgehend forschen, indem sie sich dabei der zuerst geteilten Unterabschnitte wie Bilder bedient und dabei nicht nach einem Urprinzip dringt, sondern nur zu einem sich gesetzten Ziel fortschreitet. Die Psyche ist bei dessen Erforschung genötigt, von unerwiesenen Voraussetzungen auszugehen, indem sie nicht auf den Anfang zurückgeht, weil sie über ihre Voraussetzungen nicht hinausgehen kann. Sie bedient sich dabei als Bilder nicht nur der eigentlichen Bilder von der sinnlichen Körperwelt, sondern auch jener sinnlichen Körperwelt selbst, die von den gewöhnlichen Menschen im Vergleich zu den Nachbildungen für reale Dinge gehalten werden. Eikasia als unterste Erkenntnisweise richtet sich auf die Schatten, Spiegelbilder und andere optische Erscheinungen. Sie ist die Anwesenheit eines Bildes als eines solchen, die zu einer bildhaften Wahrnehmung im Abschätzungshorizont der Wahrscheinlichkeit führt. Pistis erfasst die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände der vergänglichen Welt als solche und hat deshalb einen etwas höheren Stellenwert. Sie bezieht sich auf das Werdende, auf die vergänglichen und deshalb nicht wahrhaft seienden Sinnendinge. Es ist die Erfahrung einer vermeintlich faktischen „Realität“, wie sie unhinterfragt von Kindern und einfachen Menschen wahrgenommen wird. Pistis ist die Anwesenheit des Seienden als des sinnlich sich Zeigenden (Walter Hirsch: Platons Weg zum Mythos, 1971, S. 144).
Unterabschnitt: das Denken (noesis)
Beim Denken ist zu unterscheiden zwischen der Verstandeserkenntnis und der Vernunfterkenntnis.
Verstandeserkenntnis (dianoia)
Die Verstandeserkenntnis richtet sich beispielsweise auf mathematische Entitäten. Diese gehören bereits zu einem nicht-sinnlichen Reich des unveränderlich Intelligiblen. Die Verstandeserkenntnis vermag aber noch nicht, zum Anfang des Ganzen vorzudringen. Sie bleibt der gegenständlichen Voraussetzung verhaftet. Die Mathematiker, die sich mit Geometrie und Arithmetik abgeben, setzen den Begriff von Gerade und Ungerade, von den mathematischen Figuren und den drei Arten von Winkeln [spitze, stumpfe und rechte Winkel] bei jedem Beweisverfahren voraus, als hätten sie über diese Begriffe ein Wissen. Tatsächlich sind dies aber unerwiesene Voraussetzungen.Von diesen angenommenen Begriffen gehen die Mathematiker als von Prinzipien aus und beginnen auf dieser Basis mit der Durchführung ihrer Untersuchungen. Sie bedienen sich der sinnlich sichtbaren Dinge und beziehen ihre Demonstrationen darauf. In Wirklichkeit zielen ihre Gedanken aber auf das, wovon die sinnlich sichtbaren Dinge nur Schattenbilder sind. Nur wegen des Dreiecks selbst und wegen seiner Diagonale machen sie ihre Demonstrationen, nicht wegen des auf der Tafel gezeichneten Abbilds.Bei den mathematischen Fächern sind die Betrachtenden genötigt, ihren Gegenstand mit dem Verstand und nicht mit den Sinnen zu betrachten. Aber die Verstandestätigkeit lässt die von der dianoia vorausgesetzten Hypothesen auf sich beruhen, um sie als Grundlagen ihrer Untersuchung zu verwenden. Weil ihre Betrachtungsweise sie nicht aufwärts zu dem Ersten und Obersten führt, sondern sich auf bloße Voraussetzungen stützt, bringen es die mathematisch Betrachtenden nicht zu rein vernünftiger Einsicht über ihre Gegenstände, obwohl auch diese einer Vernunfterkenntnis mit Einschluss des Ersten und Obersten zugänglich wären. Mathematische Verstandeserkenntnis und nicht Vernunfterkenntnis muss man das von den geometrischen und den ihnen verwandten Wissenschaften eingehaltene Verfahren nennen. Es ist etwas Mittleres zwischen bloßer Meinung und Vernunft (Platon, Politeia 511e). Dianoia ist die Anwesenheit des das Seiende gründenden Wasseins als eines solchen (Walter Hirsch, a.a.O., S. 144).
Vernunfterkenntnis (reine noesis bzw. episteme)
Die reine noesis will keine Hilfsmittel aus der sinnlichen Anschauung verwenden, sie soll und muss vom Anfang bis zum Ende mit Hilfe reiner eide (eidos: Begriff, Form, Idee) vor sich gehen (Egil A. Wyller, a.a.O., S. 20). Die Vernunfterkenntnis richtet sich auf die absoluten, unveränderlichen Ideen und hat den obersten Stellenwert der verschiedenen Erkenntnisweisen. Ihre Methode bezeichnet Platon als Dialektik. Demjenigen, was durch die auf das wahrhaft Seiende und Gedachte gerichtete Wissenschaft der Dialektik betrachtet wird, kommt größere Sicherheit und Deutlichkeit zu als dem von den mathematischen Fächern Erkannten, denen die Voraussetzungen zugleich das Erste und Oberste sind. Die Psyche forscht bei der Vernunfterkenntnis, indem sie von einer gläubigen Voraussetzung aus zu einem auf keiner Voraussetzung mehr beruhenden Anfang schreitet. Dabei verzichtet sie auf die Hilfe von Abbildern, derer sie sich bei dem erstem Unterabschnitt des Erkennbaren bedient. Nur mit reinen Ideen (eide) betreibt sie ihre Forschung. Das durch die Vernunft Erkennbare ist das, was die Vernunft durch die Macht der Dialektik erfasst. Dabei gibt sie ihre Hypothesen und Voraussetzungen nicht als Erstes und Oberstes aus, sondern als eigentliche Voraussetzungen, gleichsam nur als Einschritts- und Anlaufpunkte, die wie Impulse oder Sprossen einer Leiter zu etwas höher Liegendem aufwärts führen, damit sie zu dem auf keiner Voraussetzung mehr beruhenden Anfang des Ganzen, dem Unbedingten gelangt. Wenn sie diesen Ur-Grund erfasst hat, hält sie sich an alles, was mit ihm in Zusammenhang steht. Dann steigt sie wieder herab, ohne das sinnlich Wahrnehmbare dabei zu verwenden, sondern nur die Ideen selbst nach ihrem Zusammenhang, und mit Ideen schließt sie auch ab (Platon, Politeia 511b-c). Diese Erkenntnisart ist der eigentliche und reine Logos. Er erfasst aufsteigend das höchste Prinzip, das Unbedingte, und steigt dann ohne die Hilfe sinnlicher Anschauung stufenweise von Ideen zu Ideen herab. Die von allen sinnlichen Abbildern losgelöste Dialektik steigt zu dem absoluten Einen empor und ist dadurch wieder fähig, alles Übrige aus ihm abgeleitet zu begreifen (Werner Jaeger, a.a.O., S. 890). Die Ideen werden nicht wie in der dianoia als Grund des Seienden, sondern rein erkannt: In der noesis ist die Idee an ihr selbst (Walter Hirsch, a.a.O., S. 144).
Die Verhältnisstruktur des Liniengleichnisses
Das mit dem Liniengleichnis aufgezeigte strukturelle Verhältnis von doxa und noesis wird am Ende des siebten Buches der Politeia zusammenfassend dargestellt.
Es genügt also, fuhr ich fort, den ersten und obersten Abschnitt des Erkennens episteme (Vernunfterkenntnis) zu nennen, den zweiten dianoia (Verstandeseinsicht), den dritten pistis (Glauben an die Sinneswahrnehmung), den vierten eikasia (Vermutung, Anschein von Wahrheit), und einerseits die beiden letzten zusammen doxa (Meinung), andererseits die ersten zusammen noesis (Denken, geistiges Erfassen); dabei bezieht sich doxa auf das wandelbare Werden, noesis auf das unwandelbare Sein (ousia). Und so wie sich Sein zum Werden verhält, so noesis zu doxa; und wie sich noesis zu doxa verhält, so verhalten sich episteme zu pistis und dianoia zu eikasia. (Platon, Politeia 534a)
Das Höhlengleichnis
Platon beschreibt im Höhlengleichnis (Platon, Politeia 514a ff.) einige Gefangene, die in einer unterirdischen Höhle von Kindheit an so festgebunden sind, dass sie weder ihre Köpfe noch ihre Körper bewegen können und deshalb immer nur auf die ihnen gegenüber liegende Wand blicken. Einzige Lichtquelle ist ein Feuer, das hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Rücken der Gefangenen steht eine Mauer. Hinter dieser Mauer werden Bilder und Gegenstände vorbeigetragen, die die Mauer überragen und Schatten auf die Wand werfen. Die Gefangenen vermögen nur diese Schatten zu sehen. Wenn die Träger der Gegenstände sprechen, hallt es von der Wand so zurück, dass der Eindruck entsteht, die Schatten selbst sprächen. Die Gefangenen kennen nichts anderes als diese Schatten. Sie deuten sie so, als handelte es sich bei diesen Schatten um die wahre Wirklichkeit. Würde man einen Gefangenen befreien und ihn dazu zwingen, sich umzudrehen, so wären seine Augen vom Feuer geblendet, und die Figuren würden zunächst weniger real erscheinen als zuvor die Schatten an der Wand. Der Gefangene würde wieder an seinen alten Platz zurückkehren wollen, weil er dort deutlicher sehen könnte.
Wenn man einen Gefangenen befreite und mit Gewalt an das Sonnenlicht brächte, so würde er von der Sonne geblendet und könnte zunächst überhaupt nichts erkennen. Wenn sich seine Augen langsam an das Sonnenlicht gewöhnen könnten, würde er zuerst dunkle Formen wie Schatten und später auch hellere Objekte bis hin zur Sonne selbst erkennen. Der Befreite würde schließlich auch erkennen, dass durch die Sonne Schatten entstehen. Er würde keinesfalls mehr in die Höhle zurückkehren wollen. Täte er dies aber doch und würde er den Gefangenen in der Höhle von seinen Einsichten berichten, so würden ihn die anderen für einen Geblendeten halten und ihm keinen Glauben schenken. Man würde ihn auslachen und von ihm sagen, dass er mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen sei. Es besteht die Gefahr, dass die Gefangenen jeden umbringen, der versucht, sie zu befreien und an das Licht der Sonne zu bringen. Der Philosoph auf dem platonischen Erkenntnisweg soll aber trotzdem nicht oben allein bei der Sonne verharren. Dies wird aus Platons eigenen Erläuterungen zum Höhlengleichnis deutlich. Der Erleuchtete soll sich gegenüber der Welt verpflichtet fühlen. Er durchschreitet nach der Erleuchtung dieselben Stadien wie zunächst beim Aufstieg zum Guten, nun jedoch in umgekehrter Reihenfolge, um der Menschheit zu dienen.
Da ist's für uns, fuhr ich fort, die Gründer des Staates, eine Aufgabe, die fähigsten Köpfe anzuhalten, dass sie zu jener Einsicht gelangen, die nach unserer vorigen Erklärung die größte ist, dass sie schauen das höchste, wesenhafteste Gut und den Weg zu ihm empor klimmen, und wenn sie nach diesem Emporklimmen sich satt geschaut haben, so dürfen wir ihnen nicht mehr die Erlaubnis geben, die sie jetzt haben. – Welche denn? – Dort droben, sprach ich, zu verweilen und sich nicht dazu zu verstehen, wieder herunterzusteigen zu jenen Gefangenen, sowie nicht Anteil zu nehmen an ihren Mühseligkeiten und an ihren Ehren, mögen letztere nun geringfügiger oder ernster Art sein. [...] Hinab muss also jeder der Reihe nach steigen in die Behausung der übrigen Mitmenschen und sich angewöhnen, das Reich der Finsternis zu schauen, denn gewöhnt ihr euch daran, so werdet ihr tausendmal besser als jene Höhlenbewohner an den einzelnen Schattenbildern sehen, was sie sind und wovon sie sind, weil ihr eine Anschauung von den ewig währenden Urbildern [Ideen/Formen] der einzelnen vergänglichen Erscheinungen im Bereich des Schönen, Gerechten und Guten habt (Platon, Politeia 519c ff.).