Am Anfang des Erkenntniswegs steht das sokratisch-dialektische Gespräch. Dialektik bedeutet eigentlich „die Kunst der Gesprächsführung“. Der Begriff soll von dem Philosophen Zenon von Elea geprägt worden sein, uns tritt er aber in den Werken Platons zum ersten Mal entgegen. In Platons früher Philosophie bedeutet Dialektik zunächst einfach eine bestimmte Form der Gesprächsführung, bekannt als sokratischer Dialog: Zwei Partner unterhalten sich über einen Gegenstand. Ausgangspunkt ist eine Begriffsdefinition des Sprechers A (Proponent). Auf der Grundlage dieser Definition stellt B (Opponent) dann Fragen an A. Die Rollen sind dabei auf charakteristische Weise verteilt: Der Definitionsgeber A antwortet meist auf Fragen seines Opponenten, dieser jedoch (in platonischen Dialogen in aller Regel Sokrates, nach eigenem Bekennen ein „Nicht-Wissender“) stellt daraufhin weitere Fragen. Das Gespräch endet oft in einer Aporie. Der Erkenntnisgewinn durch die dialektische Methode besteht also darin, nicht haltbare Definitionen als unzulänglich zu entlarven.
Von der Entlarvung des Scheinwissens gelangt Platon in den mittleren Dialogen zu einer Dialektik, die sich mit der Erkenntnis an sich befasst: Die sinnliche Gewißheit, die wahre Meinung und die Verstandeserkenntnis (dianoia) sind ungenügend. Die wahre Erkenntnis lässt sich nicht auf etwas anderes zurückführen, sondern erkennt sich selbst. Die Erkenntnis ist in jeder Erklärung und Definition bereits vorausgesetzt und kann nicht auf etwas Zugrundeliegenderes zurückgeführt werden. Diese höchste Vernunfterkenntnis (noesis) kann nicht diskursiv mit dem Verstand, sondern nur intuitiv erkannt werden. Vom Nichtvoraussetzungshaften soll alles ohne Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung nur mit Hilfe der Ideen begründet werden. Die dialektische Methode wird so zum Programm einer Letztbegründung, die zu einem wahren Anfang und obersten Prinzip führen soll, das nicht auf eine übergeordnete Ursache weiter zurückgeführt werden kann. Im VII. Brief betont Platon, dass nur derjenige zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen kann, der sich lange Zeit in dialektischen Gesprächen übt. „Beim elenktischen Fragen und Antworten, dihairetischen Einteilen und synoptischen Zusammenführen müssen immer mehr Sachbereiche einbezogen, immer höhere Begründungsebenen erstiegen, immer stärkere Kräfte der Kommunikation in der Seele des Einzelnen entwickelt werden, bevor es zur eigentlichen Vergewisserung und Einsicht kommen kann“ (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 583).
Erkennen als Wiedererinnern
Etwas zu erkennen bedeutet, die Idee darin zu erkennen. In der Idee zeigt sich das wahrhaft Seiende der geistigen Einsicht als das, was es ist und bedeutet. Maßstab aller Erkenntnis ist deshalb die Ideenschau (Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie, 2000, S. 103). Der Erkenntnisprozess setzt voraus, dass man sich für das öffnet, was man eigentlich schon in sich trägt. Wissen ist für Platon nicht Abstraktion, gewonnen aus Erfahrung und Überlegung, wie es sein Schüler Aristoteles annimmt. Für Platon ist die Erkenntnis, dass zwei Gegenstände oder zwei Zahlensummen gleich groß sind, nur dadurch möglich, dass sowohl die Erkennenden als auch die wahrgenommenen Gegenstände an der Idee des Gleichen teilhaben. Die Erkenntnis kommt nach Platon dadurch zustande, dass wir ein vorgeburtliches Wissen apriorisch in unserer Seele besitzen, an das wir uns erinnern (anamnesis). Der Nichtwissende hat selbst von dem, was er nicht weiß, demnach richtige unbewußte Vorstellungen, die angeregt durch Fragen zu Erkenntnissen werden können. Wenn Platon davon spricht, dass die Seele bereits vor ihrer Geburt an einem anderen Ort das geschaut hat, was aktuell in einem Prozess der Erkenntnis geboren wird, so verweist er damit auf das Reich der Ideen. Platon beschreibt so das Wesen der theoretischen Leistung: Das Erfassen der Idee setzt ein Übersteigen der raum-zeitlichen Wirklichkeit voraus und ist ein Akt geistigen Schauens (Matthias Baltes: Art. Idee (Ideenlehre), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, 1996, Sp. 218).
Die Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge
Für die Erkenntnis des wahren Seins des Seienden ist ein Zusammenwirken von Ideenschau und Dialektik erforderlich, ein Zusammenspiel des intuitiven und des diskursiven Moments (Gernot Böhme, a.a.O., S. 108). Platon geht es bei der Erkenntnis um das wahre Sein der Dinge, um ihr eigentliches Wesen. Die zwei Seiten des Seins sind das nicht sinnlich wahrnehmbare Wesenhafte und die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit. Die Seele strebt nicht nach der sinnlichen Beschaffenheit, sondern nach dem Wesenhaften. Bei jedem der Dinge kommt die vollständige geistige Erkenntnis nach Platon in fünf Schritten zustande:
der Name (welchen wir eben laut werden lassen)
die sprachlich ausgedrückte Begriffsbestimmung (aus Nenn- und Aussagewörtern zusammengesetzt; z. B. „der Kreis ist das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte“)
das durch die fünf Sinne Wahrnehmbare (z. B. vom Zeichner oder vom Drechsler angefertigt)
die begriffliche Erkenntnis (Begreifen durch den vernünftig denkenden Geist, kognitive Vorstellung von solchen Dingen)
dasjenige, was sich erst durch Vertiefung in der Vernunft erkennen lässt und das wahre Urbild, die Idee/Form (eidos) des Dinges ist (ideelle oder intelligible Realität oder Wesenheit; reine, nicht sinnliche Wahrheit; das ursprünglich vollkommen Wesenhafte)
Erkenntnis setzt einen freien und ruhigen Geist voraus. Die Annäherung an das wahre Wesen der Dinge soll frei von verfälschenden Leidenschaften erfolgen:
Erst wenn durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf. (Platon, Siebter Brief 344a-c)
Das wahre Sein des Seienden besteht im Werden zum Sein, in einem ständigen Fortschreiten in die ousia, in einer fortwährenden Bewegung hinein in die Maßbestimmtheit. Die Ideen/Formen (eide) sind die Maß- und Wasbestimmtheiten. Sie haben „eine übernatürliche Herkunft, eben aus der im Seienden waltenden dynamis [Macht, Kraft als Vermögen] welche das Ungemäße je und je bindet, so daß das Seiende vor dem Versinken in das Nichtsein des Chaos gerettet bleibt“ (Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Plato. Der Anfang der Metaphysik, 1999, S. 130). Das Seiende ist seiend infolge der vier Gattungen Unbegrenztes (apeiron), Grenze (peras), Mischung beider (mixis) und Ursache der Mischung (aition). Die Einheit von Unbegrenztem und Grenze macht das Wesen des wahren Seins aus, des Seins überhaupt. Das Unbegrenzte ist ein Kontinuum, das nicht für sich bestehen kann, sondern erst durch eine Grenze dingfest gemacht werden muss: zum Beispiel mehr-weniger, lauter-leiser, wärmer-kälter. Das Kontinuum ist immer im Fluss und bleibt nicht stehen. Erst die begrenzende Zahl bedeutet Stillstand und das Ende des Fließens (Platon, Philebos 24d). Diese Grenze ist eine aktive Kraft. Es handelt sich um bestimmte Größen und Maße, die Zahlen sind für die Entstehung der Harmonie bedeutend. Die harmonische Mischung liegt dort vor, wo das Unbegrenzte durch die Zahl in das gute Verhältnis gebracht wird. Das rechte Maß harmonisiert die betreffenden Gegensätze miteinander. Die Mischung von Unbegrenztem und Grenze begründet die Doppelnatur alles Seienden: In-sich-Bleiben und Aus-sich-Herausgehen. Die Ursache der Mischung ist die kosmische Vernunft (nous), die in das Unbegrenzte eine maßbestimmte Grenze einzieht und dadurch überhaupt erst das Seiende hervorbringt. Der alles anordnende göttliche Nous bestimmt das Maß, die menschliche Vernunft ist dessen bescheidener Ableger (Platon, Philebos 30d-e). Das wahre Sein des Seienden ist demnach ein Mischungswesen. „Die maßbestimmte Bemessenheit ist es, die die rechte Mischung ausmacht. Der Charakter der maßbestimmten Bemessenheit oder der Maßhaftigkeit ermöglicht und bewahrt der Mischung ihr Sein. Was aber besagt diese Maßbestimmtheit? Wo die Bestandteile einer Mischung im Verhältnis des Zuviel und Zuwenig zusammenkommen, verdeckt der eine den anderen. Wo dagegen die Vereinigung durch das Maß bestimmt ist, lassen die beiden einander in das Erscheinen hervortreten. Was aber ohne Verstellung in das Erscheinen hervorgeht, d.h. ganz und gar in die Gegenwart des Erscheinens eintritt, das ist das Schöne. [...] Das Schöne ist das ganz und gar aus sich Hervorscheinende, das nichts versteckt und verborgen hält, das noch freigelegt werden könnte, d.h. es verwehrt jedes weitere Ein- und Vordringen. Es gibt nichts anderes zu sehen als sich selbst, und außerhalb seiner ist nichts weiter zu eröffnen. Indem also das Gute sich in den Hervorgang des Schönen birgt und verbirgt, entzieht es sich wesenhaft jedem unmittelbaren Fassenwollen. Aber das Schöne ist nicht nur das Scheinende und Erscheinende, sondern es erscheint als das, was es ist. Es ist das in seinem Sein Unverborgene, also das Wahre“ (Karl-Heinz Volkmann-Schluck, a.a.O., S. 118 f.). Das Gutsein besteht in der dreifachen Einheit von Maßbestimmtheit, Schönheit und Wahrheit. „Es ist das in Maßbestimmtheit, Schönheit und Wahrheit waltende, das Ungebundene je und je bindende Maß, dessen Walten der Aufgang des Schönen ist, das Erscheinen des Seienden in seinem Sein“ (Karl-Heinz Volkmann-Schluck, a.a.O., S. 127).
Eros und Erkenntnis
Auf dem Erkenntnisweg sind die Anziehungskraft und die Faszination der Vollkommenheit von Bedeutung. Das Schöne und das Gute sind nur zwei eng verschwisterte Aspekte derselben Wirklichkeit. Die höchste Arete des Menschen ist das Schön- und Gutsein (Kalokagathia als Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem). Die beglückende Erkenntnis des Schönen vollzieht sich stufenweise. Ein wichtiger Helfer dabei ist der Gott Eros, dessen Bedeutung weit über die körperliche Sexualität hinausreicht bis hin zur seelisch-geistigen Befruchtung in der Gemeinschaft des besonnenen Dialogs und der so gezeugten Bildung und Arete. „Der Name des Eros steht für die den Bereich des Menschlichen übersteigende Bewegung der Philosophie. [...] Sokrates kann am besten philosophieren, wenn er durch das ganz und gar unsublimierte Schöne eingenommen ist. Das Sokratische Gespräch vollzieht sich nicht nach einmal gelungenem Aufstieg auf jener unsinnlichen Höhe, wo nur noch die Ideen als das Schöne erscheinen; vielmehr vollzieht es in sich immer wieder die Bewegung vom menschlichen zum übermenschlichen Schönen und bindet das übermenschliche Schöne dialogisch ans menschliche zurück“ (Günter Figal: Sokrates, 2006, S. 97 f.).
Der Mensch ist sterblich, ihm fehlt die göttliche Unveränderlichkeit. Der Mensch hat deshalb das Bedürfnis, durch immer neue Schöpfung sich zu erhalten. Der Eros entspringt aus der höheren gottverwandten Natur des Menschen und ist ein Streben, gottähnlich zu werden. Er ist ein Streben nach Besitz, nicht ein Besitz selbst. Der Eros setzt einen Mangel voraus und begehrt die Fülle. Er ist der Sohn der Penia (Armut) und des Poros (Reichtum). Das Ziel dieses Strebens ist der dauernde Besitz des Guten, die Glückseligkeit, die Unsterblichkeit. Der Eros ist also überhaupt das Streben des Endlichen, sich zur Unendlichkeit zu erweitern. Damit der Eros wirken kann, muss sich der Mensch aber seines Mangels überhaupt erst bewusst werden.
Denn das ist eben das arge am Unverstand, dass er ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt. (Platon, Symposion 204b)
Die äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die Gegenwart des Schönen. Der Eros richtet sich stufenweise auf die schöne Gestalt, die schöne Seele, die Wissenschaft und die Idee und strebt nach der Darstellung des absolut Schönen. Dabei ist die Schau des übermenschlichen Schönen nicht mehr an ein einzelnes Sinnesobjekt gebunden. Demnach geht das Erkennen einen Stufenweg: vom sinnlich Wahrgenommenen zur richtigen Meinung (doxa alethes) bzw. zum reinen Gedanken in der Mathematik, vom reinen Gedanken zu den Ideen, von den Ideen zum überseienden, transzendenten Guten, von dem erst die Ideen ihr Sein empfangen.
Keine andere Erfahrung wirkt so beflügelnd auf den Menschen wie die Erfahrung von Schönheit. Platon weist der Idee des Schönen eine Sonderstellung zu. Schönheit umgibt den kosmos noetos, die Welt des Denkens. Schönheit ist auch die einzige Idee, die unmittelbar sinnfällig wird (Platon, Phaidros 250c-d). Die Erfahrung von Schönheit entfacht Liebe/Eros und eröffnet dem Menschen damit einen Zugang zu der Idee selbst. In der Erfahrung von Schönheit manifestiert sich Eros als die in jedem Menschen latente Grundkraft schlechthin. Eros ist ein Drang nach Seinserhellung, der sich in der philosophischen Seele artikuliert (Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike 2, 1993, S. 167).
Symposion 416 vor Chr.: Es trifft der betrunkene Alkibiades ein, er ist mit Efeu, Veilchen und Bändern bekränzt. Der Tragödiendichter Agathon in der Bildmitte hatte vor den Augen von 30.000 Hellenen einen Preis errungen, hinter seinem rechten Arm Pausanias, hinter seinem Rücken von links nach rechts: Phaidros als Leiter des Trinkgelages (Symposiarch), liegend der Arzt Eryximachos, sitzend Sokrates, stehend vielleicht der vom Symposion berichtende Aristodemos, sitzend im Gespräch mit Sokrates der Kömödiendichter Aristophanes, hinter diesem weitere Sokratesschüler. Platon verfasste den Dialog etwa 380 vor Chr.
Der Aufstieg zum Einen
Das absolute Eine
Die Dialoge stellen nicht die gesamte Philososphie Platons dar. Bereits sein Schüler Aristoteles spricht von den „agrapha dogmata“ (ungeschriebenen Lehren) seines Lehrers. Platons ungeschriebene Lehre ist der Teil seines philosophischen Gebäudes, der nicht in den Dialogen veröffentlicht, sondern im mündlichen Unterricht in der Akademie einem beschränkten Schülerkreis vorgetragen wurde. Nach der Überlieferung gehört dazu auch die öffentlich gehaltene Vorlesung „Über das Gute“. Einige Schüler haben in der Vorlesung Mitschriften verfasst, die nur bruchstückhaft überliefert sind, sodass die Inhalte ihrerseits der Rekonstruktion bedürfen. Es steht aber außer Frage, dass in der gesamten Antike Platon vor dem Hintergrund seiner ungeschriebenen Lehre interpretiert wurde. Platon übernimmt den Begriff des Einen hauptsächlich von Parmenides sowie von den Pythagoreern. Das Eine ist bei Platon die grundlegende Einheit im Gegensatz zu der Vielzahl der Ideen und Erscheinungen. Es wird zum Absoluten. Am leichtesten zu erfassen ist das Eine in der Idee des Guten. Das Eine ist bei Platon das Gute schlechthin. In seinem Werk Parmenides folgt eine sehr vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Einen. Alles Seiende sei nur, sofern es Eines sei. Deshalb sei das Eine bei allem, was sei, gegenwärtig und entziehe sich weder dem Größten noch dem Kleinsten (Platon, Parmenides 144c). Das in allem anwesende Eine ist hier aber nicht das absolut einfache Eine, sondern das seiende Eine, das schon durch sein Sein vielfältig ist (Platon, Parmenides 144e). Eine besondere Bedeutung hat das Eine in Platons ungeschriebener Lehre, die er in seinem Siebten Brief angedeutet hat: „Es gibt ja auch von mir darüber keine Schrift und kann auch niemals eine geben; denn es läßt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände.“ (Platon, Siebter Brief 341c)
In der ungeschriebenen Lehre war die Dialektik der Weg des Aufstiegs zum Einen. Das absolute Eine ist nach Platons Lehre das Wesen des Guten (Aristoteles, Metaphysik 1091 b 13-15). Das Gute selbst ist nicht Sein, sondern jenseits des Seins (Platon, Politeia 509b). Das Eine bezieht sich auf die unbestimmte Vielheit und strukturiert diese als ein ideales Ganzes, dessen Teile die Ideen sind. „Das absolute Eine ist jenseits von Sein und seiendem Einen; weil aber Denken auf Einheit und Bestimmtheit angewiesen ist, hebt sich der Versuch, das absolute Eine zu denken, ins Undenkbare auf. Da das Absolute das Übereine und über alle Bestimmtheit Erhabene ist, ist es jeder Erkenntnis entzogen, so dass es keine Aussage und kein Wissen von ihm gibt“ (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006 , S. 65 unter Berufung auf Platon, Parmenides 142a 3-4).
Das absolute Eine verweist auf einen das Sein transzendierenden Urgrund. Bei der Frage nach dem Wesen des Einen geht es um die Ursprungs- und Letztbegründungsproblematik, woraus jegliches entsteht, wodurch es besteht und wohinein es vergeht (vgl. Platon, Phaidon 96a). Es gibt vielerlei Seiendes, endlos Vieles, das jeweils durch Werden und Vergehen bestimmt ist. Was ist aber das Eigentliche, das alles zusammenhält und aus dem alles hervorgeht? Es kann nicht erfasst werden als etwas, das mir als Gegenstand meiner Betrachtung gegenübersteht. Das Eine ist kein Seiendes und damit weder Objekt noch Subjekt. Es kann nicht selbst zum Gegenstand der Erkenntnis werden, da es in den Bereich jenseits des Seins und der Erkenntnis ragt. Aber es kommt in der Subjekt-Objekt-Spaltung von Ich und Gegenstand zur Erscheinung. Es selbst bleibt Hintergrund, aus ihm grenzenlos in der Erscheinung sich erhellend, aber es bleibt immer das Umgreifende (Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, 1971, S. 25).
Sobald wir etwas als seiend denken, denken wir es notwendig zugleich als einheitliches Eines. Wir können ein Seiendes überhaupt nur denken, wenn es auf irgendeine Weise Einheit ist. Was auf keine Weise Eines ist, das ist für das Denken nichts. Alles Seiende besteht als das, was es jeweils ist, gerade deshalb, weil es Eines ist. Das Ganze ist eine Einheit, die aus der Gesamtheit aller einzelnen Seienden gebildet wird. Demnach zeichnet sich nicht nur jedes einzelne Seiende durch Einheit aus, auch die Totalität des Seins ist durch Einheit charakterisiert. Das Eine selbst ist sowohl das Prinzip der Einheit des Ganzen als auch das Prinzip der Einheit jedes einzelnen Seienden. Das Eine als das Absolute ist der Ursprung, der die Einheit verleiht. Durch das Eine wird alles Seiende Eines. Durch das Eine erhält das Seiende seine Einheit und wird dadurch überhaupt erst seiend (Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.), Platon verstehen, 2004, S. 263).
Die Prinzipienlehre
„... aus Einem und Vielem sei alles, wovon jedesmal gesagt wird, dass es ist, und es habe Grenze und Unbegrenztheit in sich verbunden“ (Platon, Philebos 16c). Die ganze Mannigfaltigkeit der diesseitigen Realität wird von Platon auf das Gegensatzverhältnis zweier Grundprinzipien zurückgeführt. Das erste Prinzip (Einheit, Grenze) hat seine Entsprechung ontologisch im Sein, formal-logisch in der Identität, werthaft in der Arete, kosmologisch in der Stasis (Ruhe, Beständigkeit) und psychologisch im Logos (Bezogenheit auf die Ideen). Es ist das bestimmende, für die Ordnung verantwortliche Prinzip und damit das Gute. Zur Grenze als erstem Prinzip sind drei Ordnungstypen zu rechnen: das Gleiche/Gleichheit, Proportion (Zahl zu Zahl) und Kommensurabilität (Maß zu Maß; vgl. Platon, Philebos 25a-b; Gernot Böhme, a.a.O., S. 154 f.). Durch die Ordnungstypen kommen die auseinanderstrebenden Tendenzen zu Einheit, harmonischem Zusammenstimmen und Eintracht. Das zweite Prinzip (das Groß-und-Kleine, die unbestimmte Zweiheit, das Unbegrenzte) hat seine Entsprechung ontologisch im Nichtsein, formal-logisch in der Verschiedenheit, werthaft in der Schlechtigkeit, kosmologisch in der Kinesis (Bewegung, Veränderung) und psychologisch in den triebhaften, körpergebundenen Affekten (Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, 1998, S. 19). Aristoteles berichtet von Platons Prinzipienlehre:
Außerdem kennt Platon noch als ein Drittes zwischen dem Sinnlichen und den Ideen die mathematischen Objekte, die sich von dem Sinnlichen dadurch unterscheiden, dass sie ewig und unbewegt sind, von den Ideen aber dadurch, dass es ihrer viele gleiche gibt, während die Idee als solche eine schlechthin Einzige für sich sei. Da er aber die Ideen als die Ursachen alles anderen betrachtet, so hält er die Elemente der Ideen für die Elemente alles Seienden. Er setzte „das Groß-und-Kleine“ als Prinzip [archê: Urgrund, erste Ursache] der Materie und das Eine als das Prinzip der Ousia [Seiendheit, wahres Sein, das unveränderlich-gleichbleibende Wesen, Essenz, Substanz]. Aus jenem beständen der Teilhabe (méthexis) an dem Einen zufolge die Ideen. [...] Aus unserer Darstellung ergibt sich, daß er nur zwei Prinzipien verwendet, nämlich das Prinzip des „Was-es-ist“ [Seiendheit/Essenz] und das stoffartig-materielle Prinzip. Denn die Ideen sind die Ursachen für das Was-Sein aller Dinge, und das Eine ist die Ursache für die Ideen. Auf die Frage, was die Grundlage der Materie ist, auf Grund deren im sinnlich Wahrnehmbaren von Ideen, in den Ideen vom Einen die Rede ist, antwortet er, es sei eine Zweiheit, „das Groß-und-Kleine“. Den Urgrund des Guten und des Schlechten, des Zweckmäßigen und des Zweckwidrigen hat er in diesen beiden Elementen gefunden, in dem einen die Ursache des Zweckmäßigen, in dem andern die Ursache des Gegenteils; eine Erklärung, um die sich, wie oben nachgewiesen, schon einige der älteren Philosophen, wie Empedokles und Anaxagoras, bemüht hatten. (Aristoteles, Metaphysik, Buch I Kapitel 6, 987b-988a)
Das dem ersten Prinzip (Einheit, Grenze) entgegengesetzte Prinzip der unbestimmten Zweiheit („das Groß-und-Kleine“, die Unbegrenztheit) darf nicht mit der Zahl Zwei verwechselt werden. Die unbestimmte Zweiheit zeichnet sich durch ein Mehr und Weniger aus, also durch das dynamische, unbestimmte und relativ verwendete wechselseitige Übertreffen und Zurückbleiben (stärker-schwächer, schneller-langsamer, höher-tiefer; vgl. zum Paarcharakter des Unbegrenzten Gernot Böhme, a.a.O. S. 150 f.). Sie ist ein Prinzip des Unbestimmten, der Veränderung und drängt zum Unendlichen. Damit die auseinanderstrebenden, gegensätzlichen und zerstörerischen Tendenzen zur Einheit gelangen und das Gute in einem bestimmten Bereich zustande kommt, müssen durch Maß und Zahl harmonische Verhältnisse eingeführt werden (Böhme, a.a.O., S. 158 ff.). Es geht um ein maßbestimmtes Proportionengefüge, das sich durch Gleichgewicht und harmonisches Zusammenstimmen auszeichnet. Die unbestimmte Zweiheit kann auch als Vielheit oder intelligible Materie gedacht werden, auf das sich das Eine als Prinzip bezieht. Die Einheit strukturiert das Groß-und-Kleine als ein ideales Ganzes, dessen Teile die Ideen sind. Das Prinzip der unbestimmten Zweiheit dient dazu, die Prinzipiate überhaupt aus dem Einen ableiten zu können, indem die Vielheit generiert wird. Diese Vielheit ist aber keine bestimmte und auch nicht seiend, es handelt sich lediglich um eine Seinslatenz. „Die von sich selbst her unbestimmte und nichtige Vielheit wird durch die Einheit setzende Übermacht des Einen aus ihrer unbestimmten Nichtigkeit zu Bestimmtheit und Sein erhoben, und dabei artikuliert sie ihre Bestimmtheit in sich selbst, indem sie ihr Sein entzweiend vervielfältigt und sich damit erst als seiende Vielheit selbst aktualisiert“ (Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.), Platon verstehen, 2004, S. 274 f.). Durch das Zusammenwirken dieser beiden Prinzipien entstehen die Ideenzahlen und die seienden Dinge. Die Prinzipien gehören selbst nicht zum Seienden, sondern gehen allem Seienden als Konstituentien voraus.
Die Schau des Einen
Das Eine ist als absolut vielheitslose, reine Einheit weder mit dem Ganzen noch mit dem Sein identisch. In seiner Absolutheit transzendiert es alle Denkbarkeit radikal. Das Denken muss sich in seiner Beziehung zum Absoluten selbst übersteigen (Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.): Platon verstehen, 2004, S. 271 und 273). Der Sinn dieser Schau des Einen ist die Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnisstufen, das Hindurchblicken durch die Mannigfaltigkeit sich abstufender Gegebenheiten auf eine Verknüpfung stiftende Einheit, die nur in diesem Erlebnis der Zusammenschau und nie anders als in ihm in das Denken des Menschen treten kann (Julius Stenzel: Der Begriff der Erleuchtung bei Platon, in: Die Antike 2, 1926, S. 256). Diese ontologisch fundierte Erleuchtung wird plötzlich, unvermutet und unmittelbar erlebt.
Denn in bestimmten sprachlichen Schulausdrücken darf man sich darüber wie über andere Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus inniger Beschäftigung damit entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn (Platon, Siebter Brief 341c).
Sie ist von einem mystischen Erlebnis, mit der ein vom Diesseits abgelöstes Jenseits erfahren wird, zu unterscheiden. Durch die Schau des Einen wird der Erkenntnisprozess vorbereitet, die Transzendenz des Lichts läßt den Ursprung und Grund des Diesseits erkennen (Falk Wagner: Art. Erleuchtung, in: Horst R. Balz u.a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Band 10, 1982, S. 166, dort speziell zu Platon). Erst mit Blick auf das ewig Gültige gelingt die richtige Orientierung in der vom Werden und Vergehen umhergetriebenen Welt der Erscheinungen. Dazu zählen zum Beispiel die richtige Definition der Dinge, die richtige Bildung von Aussagen, die richtige Erklärung der Natur, das richtige Reden, das richtige Handeln, die richtige Lebensführung sowie die richtige Leitung des Staats (Matthias Baltes: Art. Idee (Ideenlehre), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, 1996, Sp. 219). Der Philosoph verharrt nicht bei der Erleuchtung, wie aus dem Höhlengleichnis deutlich wird. Er fühlt sich gegenüber der Welt verpflichtet. Er durchschreitet jetzt wieder die selben Stadien wie beim Aufstieg zum Einen in umgekehrter Reihenfolge, um die Phänomene zu retten. Das Wahrnehmungswissen wird von der höheren Einsicht aus geschärft, der Philosoph selbst wird zu einer Lichtquelle in der Finsternis (Egil A. Wyller: Henologische Perspektiven I/I-II, 1995, S. 19).
Stell dir Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Eingang haben. Diese Menschen sind von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet, so dass sie dort unbeweglich sitzen bleiben und nur vorwärts schauen können, aber links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen. Das Licht scheint für sie von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten verläuft oben ein Querweg. Längs zu diesem steht eine kleine Mauer, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben, über der sie ihre Tricks zeigen. [...] So stell dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen Leute allerhand über diese Mauer hinausragende Gerätschaften, auch Menschenstatuen und Bilder von anderen Lebewesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigen Stoffen, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden ihre Stimme hören lassen, andere schweigen. [...] Die angeketteten Gefangenen [haben] von diesen Leuten und voneinander [nie] etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihrem Gesicht gegenüberstehende Wand fallen. [...] Und ist es nicht mit den vorübergetragenen Gegenständen ebenso? [...] Wenn sie nun miteinander reden könnten, so würden sie an der Gewohnheit festhalten, den vorüberwandernden Schattenbildern, die sie sahen, bestimmte Bezeichnungen zu geben. [...] Wenn der Kerker auch einen Widerhall von der gegenüberstehenden Wand darböte, sooft jemand der Vorübergehenden sich hören ließe, so würden [die Gefangenen] den Laut [nie] etwas anderem zuschreiben als den vorüberschwebenden Schatten [auf der gegenüberliegenden Wand]. [...] Überhaupt also [...] würden die Gefesselten nichts für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde. [...] Betrachte nun, [...] wie es bei der Lösung ihrer Fesseln und bei der Heilung von ihrem Irrwahn hergehen würde, wenn solches ihnen wirklich zuteil würde. Wenn einer entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen, herumzugehen, in das Licht zu sehen, und wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empfände und wegen des Glanzgeflimmers vor seinen Augen nicht jene Dinge anschauen könnte, deren Schatten er vorhin zu sehen pflegte, was würde er wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, dass er vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen habe, dass er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe? Und wenn man dann auf jeden der vorüberwandernden wirklichen Gegenstände zeigen würde und ihn durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was das sei, glaubst du nicht, dass er ganz in Verwirrung geraten und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche er jetzt gezeigt bekomme? [...] Wenn man ihn zwänge, in das Licht selbst zu sehen, so würde er Schmerzen in den Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen Schattengegenständen zuwenden, die er ansehen kann, und würde dabei bleiben, diese wären wirklich deutlicher als die, welche er gezeigt bekam. [...] Wenn aber jemand ihn aus dieser Höhle mit Gewalt den rauhen und steilen Aufgang aufwärts zöge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne herausgebracht hätte, da würde der so Befreite [...] Schmerzen [in seinen Augen] empfinden, über dieses Hinaufziehen aufgebracht werden und, nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voller Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können, die jetzt als wirkliche ausgegeben werden. [...] Er bedarf also erst einer allmählichen Gewöhnung daran, wenn er die Dinge über der Erde schauen soll. Da würde er nun zunächst die Schatten am leichtesten anschauen können und die im Wasser von den Menschen und den übrigen Wesen sich abspiegelnden Bilder, sodann erst die wirklichen Gegenstände selbst. Nach diesen zwei Stufen würde er die Gegenstände am Himmel und den Himmel selbst erst des nachts, durch Gewöhnung seines Blickes an das Sternen- und Mondlicht, leichter schauen als am Tage die Sonne und das Sonnenlicht. [...] Und endlich auf der vierten Stufe vermag er natürlich die Sonne, das heißt nicht ihre Abspiegelung im Wasser oder in sonst einer außer ihr befindlichen Körperfläche, sondern sie selbst in ihrer Reinheit und in ihrer eigenen Region anzublicken sowie ihr eigentliches Wesen zu beschauen. [...] Nach solchen Vorübungen würde er über sie die Einsicht gewinnen, dass sie die Urheberin der Jahreszeiten und Jahreskreisläufe ist, dass sie die Mutter von allen Dingen im Bereiche der sichtbaren Welt und von allen jenen allmählichen Anschauungen gewissermaßen die Ursache ist. [...] Wenn er nun an seinen ersten Aufenthaltsort zurückdenkt und an die dortige Weisheit seiner Mitgefangenen, da wird er sich [...] wegen seiner Veränderung glücklich preisen und jene bedauern. [...] Und wenn damals bei den Gefangenen Ehres- und Beifallsbezeugungen wechselseitig bestanden sowie Belohnungen für den schärfsten Beobachter der vorüberwandernden Schatten, ferner für das beste Gedächtnis daran, was vor, nach und mit ihnen zu kommen pflegte, und für die geschickteste Prophezeiung des künftig Kommenden, meinst du, dass er jetzt noch danach Verlangen haben werde, dass er die bei jenen Höhlenbewohnern in Ehre Stehenden und Machthabenden jetzt noch beneidet? [Eher wird er] viel lieber als Tagelöhner bei einem dürftigen Mann das Feld bestellen und eher alles in der Welt über sich ergehen lassen, als jene Meinungen und jenes Leben der Gefangenen zu haben. [...] Wenn ein solcher [Befreiter] wieder [in die Höhle] hinunterkäme und sich wieder auf seinen Platz setzte, da würde er [...] die Augen voll Finsternis bekommen, weil er plötzlich aus dem Sonnenlicht kam. [...] Aber wenn er nun, während sein Blick noch verdunkelt wäre, wiederum im Erraten jener Schattenwelt mit jenen ewig Gefangenen wetteifern sollte, und zwar ehe seine Augen wieder zurechtgekommen wären, und die zu dieser Gewöhnung erforderliche Zeit dürfte nicht ganz klein sein, da würde er [...] ein Gelächter veranlassen, und es würde von ihm heißen, weil er hinaufgegangen wäre, sei er mit verdorbenen Augen zurückgekommen, und es sei nicht der Mühe wert, nur den Versuch zu machen, hinaufzugehen. Und wenn er sich gar erst unterstände, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, so würden sie ihn [...] ermorden, wenn sie ihn in die Hände bekommen und ermorden könnten. Das Gleichnis hier also [...] ist nun in jeder Beziehung auf die vorhin ausgesprochenen Behauptungen anzuwenden. Die mittels des Gesichts sich uns offenbarende Welt vergleiche einerseits mit der Wohnung im unterirdischen Gefängnis, und das Licht des Feuers in ihr mit dem Vermögen der Sonne, das Hinaufsteigen und das Beschauen der Gegenstände über der Erde andererseits stelle dir als den Aufschwung der Seele in die nur durch die Vernunft erkennbare Welt vor. [...] Im Bereich der Vernunfterkenntnis ist die Idee des Guten nur zu allerletzt und mühsam wahrzunehmen. Nach ihrer Anschauung muss man zur Einsicht kommen, dass die Idee des Guten für alle Dinge die Ursache von allen harmonischen Ordnungen und Schönheiten ist, indem sie erstens in der sichtbaren Welt das Licht und die Sonne erzeugt, sodann aber auch in der durch die Vernunft erkennbaren Welt selbst als Herrscherin waltend sowohl die Wahrheit als auch unsere Vernunfteinsicht gewährt. Ferner muss man zur Einsicht kommen, dass das Wesen des Guten ein jeder erkannt haben sollte, der verständig handeln will, sei es in seinem privaten Leben oder in seinem öffentlichen Wirken für den Staat. (Platon, Höhlengleichnis in Politeia 514a ff.)