„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ein geflügeltes Wort, das als verfälschende Verkürzung eines Zitats aus Platons Apologie dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben wird. Das Zitat steht bei Platon für die Entwicklung der eigenen Erkenntnis von der Entlarvung des Scheinwissens über das bewusste Nichtwissen hin zur Weisheit als Wissen um das Gute, welches die Tugend in ihrer Einheit konstituiert. Zieht man spätere Berichte über die ungeschriebene Lehre Platons heran, lässt sich das Wesen des Guten als identisch mit dem absoluten Einen verstehen (Aristoteles, Metaphysik 1091 b 13-15). Echtes Philosophieren setzt das Bewußtsein des Nichtwissens voraus. Das vermeintliche Wissen ist nur ein beweisloses Für-selbstverständlich-Halten, das sich bei näherer Untersuchung als unhaltbares Scheinwissen entpuppt. Sokrates prüft das Wissen der Handwerker, Politiker, Redner und Dichter. Deren technische Sachkenntnisse sind für ihn nicht interessant, weil sie keine ethische Einsicht liefern. Sein Denken dreht sich um die Frage, wie das Leben zu leben sei. Durch ihn kommt eine Gewissenhaftigkeit der Rede in die Welt, die Höheres fordert als wissenschaftliche Exaktheit und die die leere Gläubigkeit des Nachtuns und Nachsprechens in Unruhe hält (Helmut Kuhn: Sokrates. Ein Versuch über den Ursprung der Metaphysik, 1934, S. 46).
Sokrates geht es um das Tugendwissen, er stellt die Frage nach dem für den Menschen Guten. Das größte Gut für den Menschen sei es, sich täglich über die Tugend zu unterhalten und sich selbst und andere zu prüfen. Daraus entsteht die Sorge um das eigene Leben und für die Seele, die das Gute im Leben realisiert und auf die das Gute bezogen ist. Ein Leben ohne Selbsterforschung verdiene nicht, gelebt zu werden (Platon, Apologie des Sokrates 38a). Das Nichtwissen des Sokrates bezieht sich auf die vollständige definitorische, rechenschaftsfähige Erfassung des Guten und der einzelnen Tugenden, die auch ihm nicht gelingt. „Sokratisches Philosophieren sieht seine Aufgabe darin, dieses ahnende Verstehen des Guten, das vielerlei Irrtum zuläßt, zum deutlichen Wissen emporzuheben; dieses Wissen ist zugleich die von Sokrates geforderte Selbsterkenntnis, in der das Selbst teleologisch vom Guten her in der Einheit seines Lebens verstanden wird. [...] Gesucht wird im Guten als dem wahrhaft Nützlichen das Ziel, auf das der Mensch als Mensch hin angelegt ist, in dem das Selbst sich erst wahrhaft versteht und als eigentliches Selbst im Leben verwirklicht“ (Hanns-Dieter Voigtländer: Der Wissensbegriff des Sokrates, in: RhM N.F. 132 (1989) S. 31 und S. 38). Ein sicheres und absolutes sittliches Wissen findet man bei den Menschen grundsätzlich nicht. Deren Kenntnisse in einem begrenzten technischen Bereich verführen sie dazu, sich selbst zu überschätzen.
Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch als er einst nach Delphi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; - nur, wie ich sage, kein Getümmel ihr Männer. - Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre. Und hierüber kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist. Bedenkt nun, weshalb ich dieses sage; ich will euch nämlich erklären, woher doch die Verleumdung gegen mich entstanden ist. Denn nachdem ich dieses gehört, gedachte ich bei mir also: Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? Denn das bin ich mir doch bewußt, daß ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung, ich sei der Weiseste? Denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht verstattet. Und lange Zeit konnte ich nicht begreifen, was er meinte; endlich wendete ich mich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art. Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Spruch zu zeigen: Dieser ist doch wohl weiser als ich, du aber hast auf mich ausgesagt. Indem ich nun diesen beschaute, denn ihn mit Namen zu nennen ist nicht nötig, es war aber einer von den Staatsmännern, auf welchen schauend es mir folgendergestalt erging, ihr Athener. Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch, am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas tüchtiges oder sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. Hierauf ging ich dann zu einem anderen von den für noch weiser als jener Geltenden, und es dünkte mich eben dasselbe, und ich wurde dadurch ihm selbst sowohl als vielen anderen verhaßt. Nach diesem nun ging ich schon nach der Reihe, bemerkend freilich und bedauernd und auch in Furcht darüber, daß ich mich verhaßt machte; doch aber dünkte es mich notwendig, des Gottes Sache über alles andere zu setzen; und so mußte ich denn gehen, immer dem Orakel nachdenkend, was es wohl meine, zu allen, welche dafür galten, etwas zu wissen. (Platon, Apologie des Sokrates 21a-22a)
Scheinwissen, Nichtwissen und Weisheit
Negation als aufklärerische Haltung
Weisheit beginnt für Sokrates mit der Entlarvung des Scheinwissens. Das Mittel dazu ist sein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht mit dem Vordergründigen zufrieden zu geben. Er will den „besten Logos“ zur Sprache bringen, das von Zeit und Örtlichkeit unabhängige, sich gleichbleibende Wesen der Sache. Sokratische Philosophie bedeutet eine innere Bewegtheit, eine Haltung, die Denken und Dasein bestimmt, was sich in der Übersetzung des Wortes Philosophie als „Liebe zur Weisheit“ ausdrückt: Die Liebe sei das einzige, wovon er etwas verstehe (Platon, Theages 128a).
Ihn interessieren nicht naturwissenschaftliche oder mathematische Erkenntnisse, sondern das Wissen um Gut und Böse. Neben der Problematik, eine allgemein gültige Definition zu erlangen, stellt sich die Frage, welche Gewissheit über das Wesen der Tugend möglich ist. Die moralische Wahrheit ist subjektiv, und in der Subjektivität liegt für Sokrates der einzig mögliche Zugang zum Gutsein. Erst die Ethik Immanuel Kants hat gezeigt, dass die moralische Qualität des menschlichen Handelns nicht der Erkenntnis fähig ist. Die Negation eines sicheren Wissens um die Werte durch Sokrates ist aber nicht destruktiv. Sie leitet zu einer bewussten Gestaltung der Zukunft an und befreit von unreflektiert übernommenen, traditionellen Lebensformen. In der Aporie wird der Dialogpartner dazu angeregt, sich selbst auf den Weg zu machen und das Gute zu suchen. Damit nimmt Sokrates eine aufklärerische Haltung ein, deren Ungebundenheit und Unabhängigkeit als anstößig empfunden werden kann. Gernot Böhme hat den Typ Sokrates als atopos beschrieben: „Sokrates der Ortlose. Sokrates, der merkwürdige Mann, der Fremde, der Befremdliche, der Sonderling. Sokrates, der Auffällige, der Störenfried, der Asoziale. Sokrates, die unangepaßte, die paradoxe, die absurde Existenz. Atopos ist sein Epitheton - das heißt der Ortlose. [...] Sokrates ist das Urbild des Philosophen. Wenn das wahr ist, dann ist Philosophie etwas höchst Befremdliches“ (Gernot Böhme: Der Typ Sokrates, 1998, S. 19).
Die besondere Weisheit des Sokrates besteht in der ständigen Bereitschaft, die erkenntnistheoretischen und logischen Grundlagen des menschlichen Tugendwissens zu überprüfen. Dabei wird er sich immer wieder der Grenzen dieses Wissens bewusst. Das Philosophieren wird bei ihm zu einem Ereignis, in dem die Einheit von Person und Wissen zum Ausdruck kommt und die suchende Annäherung an das Gute im Leben realisiert wird. Der entscheidende Wesenszug des sokratischen Philosophierens findet deshalb seinen adäquaten Ausdruck im Dialog.
Der Weg des Dialogs
Sokrates nennt in seiner Verteidigungsrede den Gott Apollon von Delphi als Garanten für die Wahrhaftigkeit seines Philosophierens. Apollon ist der Gott des Lichts und der ewigen Gegenwart. Er führt einen ständigen Kampf gegen alles Dunkle. Für ihn ist alles gegenwärtig und unverborgen. Er erhellt das Dunkle, das was nicht offenbar ist und im Verborgenen liegt. Er ist daher gleichzeitig der Gott der Wahrheit. Von diesem Gott ist Sokrates zur Weisheit berufen und nicht als Weiser bezeichnet worden - so deutet er das Orakel. Er befragt deshalb andere, die als weise gelten, um von ihnen zu lernen. So kommt es zu den Streitgesprächen mit den Sophisten, den Weisen seiner Zeit, den in öffentlichen Ämtern stehenden Athenern, Bekannten und Freunden. Im Gegensatz zu den Sophisten läßt sich Sokrates nicht für seine Lehrtätigkeit bezahlen. Für ihn ist es wichtig, ein sicheres Fundament für menschliche Erkenntnisse zu finden. Er meint, dieses Fundament liege in der Vernunft. Der Mensch sei dazu in der Lage, sich der Vernunft zu bedienen, davon solle er Gebrauch machen. Sokrates ist der Überzeugung, dass der, der wisse, was gut ist, auch das Gute tun werde. Er glaubt, die richtige Erkenntnis führe zum richtigen Handeln. Und nur wer das Richtige tue, werde zum richtigen Menschen. Wenn ein Mensch falsch handelt, so tut er das nach Sokrates nur, weil er es nicht besser weiß. Deshalb sei es so wichtig, die Weisheit zu vermehren. Dazu dient das von Sokrates eingeführte induktive Verfahren, in einem ergebnisoffenen Prozess in Form von Frage und Antwort zu lehren. „Im Sokratischen Reden und Denken liegt erzwungener Verzicht, ein Verzicht, ohne den es keine Sokratische Philosophie gäbe. Diese entsteht nur, weil Sokrates im Bereich des Wissens nicht weiterkommt und die Flucht in den Dialog antritt. Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen dialogisch geworden, weil das forschende Entdecken unmöglich schien“ (Günter Figal: Sokrates, 2006, S. 97 f.).
Im Dialog entfaltet die Wahrheit ihre Wirkung, sanft und mächtig durchdringt sie den menschlichen Geist. Im Dialog können sich die Menschen mitteilen, was sie als wahr entdeckt haben - was sie meinen, entdeckt zu haben. Im Dialog können sich die Menschen gegenseitig in dem Streben unterstützen, das Gute an sich als das Ziel allen Philosophierens wahrhaft zu erfassen. Diese Gesprächsform ist für Sokrates die Urform des philosophischen Denkens und der einzige Weg zur Verständigung mit anderen. Mahnung (protreptikos) und Prüfung (elenchos) bewegen sich bei ihm in der Frageform. Ein gutes Beispiel dafür bietet seine Verteidigungsrede:
Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken? Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen. Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber, so werde ich es ihm verweisen, dass er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher. So werde ich mit Jungen und Alten, wie ich sie eben treffe, verfahren und mit Fremden und Bürgern, um so viel mehr aber mit euch Bürgern, als ihr mir näher verwandt seid. Denn so, wißt nur, befiehlt es der Gott. Und ich meinesteils glaube, dass noch nie größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele. (Platon, Apologie des Sokrates 29d ff.)
Um Klarheit herzustellen, bedient sich Sokrates einer eigenen Methode, die als Mäeutik – eine Art „geistige Geburtshilfe“ – bezeichnet wird: Durch Fragen - und nicht durch Belehren des Gesprächspartners, wie es die Sophisten gegenüber ihren Schülern praktizieren – soll die eigene Einsichtsfähigkeit schließlich das Wissen um das Gute (agathón) und Edle (kalón) selbst „gebären“ bzw. hervorbringen. Dieses Ziel ist jedoch nicht ohne Einsicht in die Fragwürdigkeit des eigenen Wissens erreichbar. „Sokrates, der Lehrer, tritt regelmäßig als Schüler auf. Nicht er will andere belehren, sondern von ihnen belehrt werden. Er ist der Unwissende, seine Philosophie tritt auf in der Gestalt des Nichtwissens. Umgekehrt bringt er seine Gesprächspartner in die Position des Wissenden. Das schmeichelt den meisten und provoziert sie, ihr vermeintliches Wissen auszubreiten. Erst im konsequenten Nachfragen stellt sich heraus, dass sie selbst die Unwissenden sind“ (Wolfgang H. Pleger: Sokrates, 1998, S. 57). Diese dialogische Auseinandersetzung soll frei von Neid und Eifersucht sein (vgl. Platon, Siebter Brief 344b-d). Der Dialog dient dazu, dem Gesprächspartner zu helfen und ihn auf einen Irrtum hinzuweisen.
Sokrates nutzt in seinen Gesprächen eine ernsthafte Ironie. Diese stiftet zum Selberdenken an, ohne sich in ihrer Bedeutung festzulegen. Sie legt die inneren Widersprüche offen und führt zu einer konstruktiven Verunsicherung, die ein produktives Hinterfragen der eigenen Perspektive eröffnet. Seine Ironie ist nicht darauf angelegt, den anderen lächerlich zu machen, sondern soll ihm seine Unzulänglichkeit als etwas zu erkennen geben, worüber derjenige selbst lachen kann, anstatt zerknirscht zu sein. Wie schwer, ja oft unmöglich das vielen seiner Gesprächspartner wird, zeigen die platonischen Dialoge. Die Angesprochenen empfinden es im Zweifel als wenig hilfreich, in der Öffentlichkeit der Agora auf diese Weise demontiert zu werden, zumal auch Sokrates Schüler sich in dieser Form des Dialogs üben. Das Ziel ist nicht Bücherwissen, sondern Weisheit als Tugendwissen. Sokrates verkündet die Selbstbefreiung, Selbstherrschaft und Selbstgenügsamkeit der sittlichen Persönlichkeit (Werner Jaeger: Paideia, 1989, S. 588). Zu den von Sokrates erzielten Ergebnissen gehört, dass richtiges Handeln aus der richtigen Einsicht folgt und dass Gerechtigkeit Grundbedingung des Seelenheils ist. „In der Frage nach dem Guten liegt eigentlich der Dienst für den delphischen Gott. Die Idee des Guten ist letztlich der philosophische Sinn des delphischen Orakels“ (Günter Figal, a.a.O., S. 71 f.).
Die Untersuchungen des Sokrates dienen dazu, begriffliche Klärungen herbeizuführen und kreisen dabei meist um Fragen der Ethik: Was ist Frömmigkeit? Was ist Selbstbeherrschung? Was ist Besonnenheit? Was ist Tapferkeit? Was ist Gerechtigkeit? Diese Tugenden versteht Sokrates als Vortrefflichkeiten der Seele, so wie Kraft, Gesundheit und Schönheit Tugenden des Körpers sind. Körperliche und seelische Tugend ist eine Symmetrie der Teile, auf deren Zusammenwirken Körper und Seele beruhen. Die wahre Tugend ist unteilbar und eins, man kann nicht einen Teil von ihr haben und den anderen nicht. Im Guten erkennt Sokrates das wahrhaft Nützliche, Heilsame und Glückbringende, weil es die Natur des Menschen zur Erfüllung seines Wesens führt. Das Ethische ist der Ausdruck der richtig verstandenen menschlichen Natur. Frei ist der Mensch nur, wenn er nicht der Sklave seiner eigenen Begierden ist. So läßt Xenophon seinen Protagonisten Sokrates sagen:
Du, Antifon, scheinst die Glückseligkeit in Üppigkeit und großen Aufwand zu setzen; ich hingegen bin überzeugt, daß nichts bedürfen etwas göttliches und also das Beste ist, und die wenigsten Bedürfnisse haben, das was dem Göttlichen am Besten am nächsten kommt. (Xenophon, Memorabilien I 5, 5 - 6; IV 5, 2 - 5)
Der Mensch erreicht den Einklang mit dem Weltganzen nicht durch die Befriedigung seiner sinnlichen Bedürfnisse, sondern „nur durch die vollendete Herrschaft über sich selbst nach dem Gesetz, das er in seiner eigenen Seele durch Forschen findet“ (Werner Jaeger, a.a.O., S. 586 und S. 609 f.). Das wahre Ziel des Lebens ist das Wissen des Guten. Den dafür notwendigen Aufstieg zur Wahrheit des Absoluten beschreibt Platon mit dem Sonnengleichnis, dem Liniengleichnis und dem Höhlengleichnis (Platon, Politeia 508a ff.). Das sokratische Wissen um das Nichtwissen initiiert den dialektischen Weg, der zum wissenden Nichtwissen der absoluten Transzendenz führt.
So wissen wir das Absolute, das aller Erkenntnis den Grund gibt, gerade weil Es selbst jenseits aller Erkenntnis ist, nur im Nichtwissen - freilich in einem Nichtwissen, das sich selbst als Nichtwissen weiß und das sich darum nur durch das Wissen des Wißbaren hindurch erreicht, indem es dieses transzendiert. Alles Denken und Sprechen über das absolut Transzendente muß sich darum ständig selbst widerrufen und ins Unsagbare aufheben: dies ist der Sinn der „negativen Theologie“, deren Begründer Platon ist. So ist das sich wissende Nichtwissen des Absoluten das Ziel der Platonischen Philosophie; das Wissen des Wißbaren (der Ideen) schließt sich nicht in sich selbst, sondern weist über sich hinaus auf ein Jenseits alles Wissens. Platons „dialektischer Weg“, ausgehend vom Sokratischen Wissen des Nichtwissens, das die Suche nach Wissen initiiert, führt durch das Wissen der Wesensgründe hindurch und darüber hinaus zum sich wissenden Nichtwissen der absoluten Transzendenz; dies schließt eine dorthin führende, in der via negativa des absolut Einen gipfelnde Prinzipientheorie nicht aus, sondern notwendig ein (Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2006, S. 225).